Langeweile, Stress, Apathie

Freizeit, die keinen Spaß mehr macht

Illustration: Eine Steckerverbindung zwischen einem menschlichen Herz und einem Mobiltelefon.
Viele Menschen leben IN den Medien, meint Astrid von Friesen, sodass sie sich selbst zu wenig Schlaf gönnen und ihre eigene Mediennutzung nicht als selbstbestimmt empfinden. © Getty Images / iStock / Peerapong Muangjan
Ein Standpunkt von Astrid von Friesen · 26.10.2022
Wahrscheinlich hatten wir noch nie so viel Freizeit wie heute, doch viele Menschen wissen immer weniger damit anzufangen, langweiligen sich oder sind gestresst. Was ist da los, fragt die Therapeutin Astrid von Friesen, und hält ein paar Ratschläge bereit.
Der Normalbürger arbeitete um das Jahr 1900 herum an sechs Tagen zehn Stunden, rechnen wir zwei Stunden Fußmarsch sowie achtstündigen Schlaf hinzu, blieben den Menschen damals nur fünf Stunden, in denen sie auf Kohleöfen kochen, in Waschzubern waschen und oft noch ihren Nutzgarten bestellen mussten.
Heutzutage, bei einer fünftägigen 40 Stunden-Woche, Fahrtzeit und Schlaf mitgedacht, können wir täglich über mehr als acht Stunden freie Zeit verfügen sowie Wochenenden und Urlaub. Was tun wir nach der Hausarbeit, Kinderbetreuung, dem Bürokram?

Gestresst in der Freizeit

Die BAT-Stiftung für Zukunftsforschung konstatierte: An allererster Stelle wird Internetnutzung, Fernsehen oder Musikhören genannt. Paradox klingt, dass die Mehrzahl von jüngeren Menschen zwischen 18 und 34 Jahren sich von 13 der 20 abgefragten Freizeitaktivitäten übermäßig gestresst fühlt.
Wie z.B. vom Medienkonsum der anderen, vom medialen Druck, der angeblich notwendigen Erreichbarkeit, von unzureichendem Schlaf und zu wenig Zeit für sich selbst. Wie das, fragt man verwundert?
Freizeit wird definiert als frei gestaltete Zeit mit eigenen Prioritäten, denn ob wir uns um die geliebten Familienmitglieder und Freunde kümmern bzw. uns kulturell, sportlich oder politisch betätigen, bestimmen wir eigenmächtig.

Wie ein ferngesteuertes Leben

Die Paradoxie liegt darin, dass viele Menschen quasi in den Medien leben, sodass sie sich selbst zu wenig Schlaf gönnen und ihre eigene Mediennutzung keineswegs als selbstbestimmt empfinden. Als ob sie ferngesteuert seien, ein eindeutiges Zeichen von süchtigem Verhalten! Und jede Sucht enthält das Moment von Wiederholungen, der Unfähigkeit zur Selbstgestaltung.
Der Leiter der BAT-Studie, Ulrich Reinhardt, beschrieb 2021 „Wenn wir über Freizeitaktivitäten sprechen, stellen wir fest, dass die meisten mittlerweile Freizeitpassivitäten sind (...), wodurch der Erlebnischarakter, Zufriedenheit und Wohlgefühl verloren gehen.“ 
Der weltberühmte Sozialpsychologe Erich Fromm kritisierte bereits vor Jahrzehnten: Wir würden überflutet von „einfachen Reizen“ der Medien, die passive Reaktionen hervorrufen. Zudem provozieren aufregendere Lebensentwürfe, welche InfluenzerInnen, Gesundheits- und Psychogurus vorgaukeln, schale Gefühle, Ohnmachtsempfindungen, niemals derart schön, schlank und interessant leben zu können. Täglich selbst produzierter Frust! 

Der mediale Brei erzeugt Überdruss

Jeder ist in dieser zweidimensionalen Welt nur Publikum, ein Wirklichkeitsflüchtling, Realitätsnegierer, nur die Augen werden gefüttert, vier Sinne verkümmern. Diese Wahrnehmungen auf den eingekästelten Displays, in gekrümmter Körperhaltung konsumiert, berühren lediglich oberflächlich, und zwar auf einer hysterischen Ebene, verdrängen eigene, tiefer gehende Gefühle.
Dieser mediale Brei wie im Schlaraffenland erzeugt irgendwann Lauheit, Überdruss und das ewige Kreiseln um das eigene isolierte Selbst! Betäubt scheint die Person „in sich selbst phantasielos herumzulungern“, so der Schriftsteller Gerhard Staguhn. 

Aktivierung der verkümmerten Sinne

Was hilft? Schlicht gesagt: Raus ins eigene Leben! Alle Sinne nutzen und schärfen! Rein in lebendige, reale Wagnisse! Fünf Bereiche ermöglichen die höchsten Flow-Erlebnisse: Kunst und Spiel, körperliches Auspowern und Sinnesgenuss, denn die Verkümmerung der Sinne ist eine der wichtigsten Ursachen für Langeweile.
Als Drittes das Lesen, das heißt, die Eigenproduktion von inneren Fantasien sowie erarbeitete Sachkompetenz durch Vertiefung, durch Konzentration. Als Fünftes: Altruistisches Handeln, denn die Umsetzung von Empathie vertreibt Lebensüberdruss, verlebendigt uns selbst!

Astrid von Friesen, Diplom-Pädagogin, Gestalt-, Paar- und Trauma-Therapeutin in Dresden und Freiberg, Supervisorin, Journalistin und Publizistin, unterrichtete 20 Jahre an der TU Bergakademie Freiberg. Ihre beiden letzten Bücher mit Gerhard Wilke: „Generationen als geheime Macht – Wechsel, Erbe und Last“ (2020) sowie „Die Macht der Wiederholungen: Von quälenden Zwängen zu heilenden Ritualen“ (2021).

Astrid von Friesen
© dpa / picture alliance / Matthias Hiekel
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