Langer Abriss

Von Petra Aldenrath |
2009 brachen in der chinesischen Provinz Xinjiang Unruhen zwischen Chinesen und der uigurischen Minderheit aus. Der Aufstand war auch Ausdruck der Furcht der Uiguren, ihrer Tradition beraubt zu werden. Eine berechtigte Sorge, wie die schleichende Zerstörung der Altstadt von Kashgar zeigt, dem alten kulturellen Zentrum der Uiguren.
Jeden Sonntagmorgen um acht Uhr beginnt der Viehmarkt in Kashgar. Bauern karren auf Pferdekutschen Hühner oder Schafe an. Größere Tiere wie Yaks, Ziegen oder Kamele werden auf offenen Lastwagen antransportiert. Einmal in der Woche verkaufen Bauern aus Nah und Fern hier ihre Tiere. Bis zu 50.000 Menschen strömen dann zum Markt.

Der Viehmarkt von Kashgar ist seit Jahrhunderten bereits ein Mythos. Kashar liegt im äußersten Westen von China, ganz in der Nähe der pakistanischen Grenze. Die Stadt war früher ein wichtiger Handelsposten auf der Seidenstraße. Kamelkarawanen zogen hier durch, Händler brachten Gewürze oder Teppiche mit und tauschten sie in China gegen Tee oder Seide. Wer ein neues Kamel oder Pferd brauchte, wurde schon damals auf dem Sonntagsviehmarkt von Kashgar fündig.

Bis heute scheint sich an der Atmosphäre auf dem Markt nicht viel geändert zu haben. Die Straßen, die dorthin führen, sind nach wie vor ungepflastert und lehmig. Nach Tierarten sortiert, steht das Vieh nebeneinander. Kühe, Rinder, Kamele, Pferde und Yaks sind an Gatter fest gebunden. Schafsherden stehen gedrängt, Hühner sind in Käfige gezwängt.

Wer sein Tier nicht lebendig mitnehmen will, kann es direkt vor Ort schlachten lassen. Auf einem mit Blut beschmierten Tisch wird ihm mit einem Beil der Kopf abgetrennt.

"Ich verdiene 2000 Yuan im Jahr, indem ich Schafe verkaufe. So etwa vier bis fünf Schafe im Jahr ziehe ich groß."

Das erzählt ein Händler. 2000 Yuan, das sind umgerechnet etwa 220 Euro pro Jahr. Das ist viel Geld für die Bauern, die rund um Kashgar leben, mitten in der Einöde, der Wüste.

Hier ticken die Uhren langsamer als im restlichen China. Der Großteil der Bevölkerung lebt nach wie vor in Lehmbauten. Gekocht wird in einem Steinofen mit Kohle, fließendes Wasser gibt es oft nicht.

"Das Leben ist doch gut. Ich bin gesund und habe vier Kinder."

Sagt einer der Viehhändler. Er war noch nie weg aus seinem Dorf in Kashgar. Einen Fernseher besitzt er nicht, der Reichtum der Großstädte ist dem Händler kein Begriff.

Das Feilschen um das größte Rind, das fetteste Huhn und das schnellste Pferd geht weiter. Feste Preise gibt es auf dem Viehmarkt in Kashgar nicht. Der Viehmarkt ist fast ausschließlich in Männerhand. Die Frauen sitzen am Rande und verkaufen Gemüse, Obst, Zaumzeug oder Wasserbottiche. Die meisten von ihnen tragen ein Kopftuch, das ihr Gesicht offen lässt. Die Männer haben meist Tunikas an und eine gestrickte Mütze auf dem Kopf. Viele von ihnen haben sich den Bart lang wachsen lassen. In der Gegend von Kashgar leben Uiguren, eine muslimische Minderheit in China. Wenn der Muezzin morgens zum Gebet ruft, breiten sie kleine Teppiche am Rande aus. Sie halten ein mit dem Verkauf und beten.

Auch in der Altstadt von Kashgar, etwa acht Kilometer vom Viehmarkt entfernt, ruft der Muezzin die Gläubigen zum Gebet. So wie die Männer auf dem Viehmarkt sind auch die Männer, die sich in der Altstadt von Kashgar zum Gebet niederknien, muslimische Uiguren. Sie sind Nachfahren türkischer Nomaden und sollen im 10. Jahrhundert zum Islam übergetreten sein. Seitdem ist die Region rund um Kashgar von den muslimischen Uiguren geprägt. Seit 1955 gilt die Provinz Xinjiang als Teil der Volksrepublik China.

Bis heute versprüht Kashgar einen ganz eigenen orientalischen Charme. Die Straßen sind eng und verwinkelt. Die Häuser flach und aus Holz,- Stroh und Lehm gebaut. Händler breiten auf den Straßen ihre Waren aus. Kupferkessel, Teppiche, Gewürze, Hammelfleisch oder Fladenbrot.

Doch anders als auf dem Viehmarkt draußen vor den Toren der Stadt hält die chinesische Moderne im Zentrum Kashgars mit großen Schritten Einzug.

Abrissbirnen, Bagger und Planierraupen machen immer mehr der geschichtsträchtigen Bauten dem Erdboden gleich. Rund um die Hauptmoschee der Stadt werden ganze Straßenzüge abgerissen. Die chinesische Lokalregierung hat vor den Bauzäunen Plakate aufgehängt, die zeigen, wie das neue Kashgar mal aussehen soll: Entstehen sollen Hochhäuser im Plattenbaustil, rundherum kleine Rasenflächen zum Ausruhen.
"Unser Haus wird auch abgerissen. Da soll eine neue Straße hin. Wir wollen das nicht."

Sagt ein Kupferkesselmacher. So wie er fühlen sich viele Uiguren von den neuen Entwicklungen bedroht. Immer wieder werden Vorwürfe laut, dass Peking versuche, die Tradition der Uiguren auszulöschen. Kontrolle sei das Ziel, sagen viele. Die verwinkelten Altstadtgassen sind schwer überschaubar – neue Appartementhäuser lassen sich wesentlich leichter überwachen. Der Druck der chinesischen Regierung auf die Uiguren insgesamt habe in den letzten Jahren immer mehr zugenommen, sagt Ulrich Delins. Er ist Mitarbeiter beim Weltkongress der Uiguren in München, einem Verband, der die Interessen der Uiguren vertritt:
"Kashgar ist ganz klar im Visier der Behörden und der chinesischen kommunistischen Partei. Kashgar wurde ausgemacht als eines der Zentren des vermeintlich oder tatsächlich bestehenden Widerstandes. Es sind im letzten Jahr über 2100 Überwachungskameras aufgebaut worden, es ist eine extra Sicherheitstruppe aufgebaut werden. "

Immer wieder gelingt es einzelnen uigurischen Gruppen, die für mehr Autonomie oder auch die Unabhängigkeit der uigurischen Siedlungsgebiete eintreten, Anschläge zu verüben. Peking betrachtet die Provinz Xinjiang und auch vor allem auch die Wüstenstadt Kashgar als gefährlichen Unruheherd. Die Region ist für China wichtig. Nicht nur weil sie eine Grenzregion zu Pakistan, Kasachstan, Kirgisien und Usbekistan ist, sondern auch, weil dort Erdölvorkommen vermutet werden, die China ausbeuten will. Unruhen stellen für Peking eine Bedrohung dar und sollen mit aller Macht unterdrückt werden.

Zur besseren Kontrolle werden nicht nur Altstadtviertel abgerissen. sondern auch Moscheen und Universitäten scharf kontrolliert, es werden immer mehr ethnische Chinesen in den von Uiguren bewohnten Gebieten angesiedelt. und die Kindern in der Schule lernen mehr über China als über die uigurische Kultur:

Peking hat große Ziele für Kashgar, wie einst früher auf der alten Seidenstraße soll es wieder ein wichtiges Handelszentrum werden – geprägt vom Aufbau nach chinesischem Stil mit modernen Hochhäusern, Einkaufszentren und Fabriken

Dass die Uiguren bei diesen Plänen zu Statisten in ihrer Heimat werden, ist bereits zu erkennen. Mitten in Kashgar wurde ein Teil der Altstadt abgetrennt und zur Touristenattraktion erklärt. "Lebendes Museum" nennt sich das. Es bedeutet, dass man für umgerechnet 4 Euro Eintrittsgeld von einem Fremdenführer durch Gassen und in Häuser geführt wird, in denen uigurische Familien leben.

"Hallo, ich bin Jim. Ich werde sie durch die Altstadt führen", stellt der Fremdenführer sich vor und leitet die Touristen zu einer jungen Uigurin, die Mützen bestickt, zu einem Süßwarenhändler oder einer Töpferei:

"Das ist doch gut für die Bevölkerung. Es ist gut für die Wirtschaft. Die Leute, die hier leben, können ihre Waren verkaufen. Töpferwaren, Messer …"

… rechtfertigt Fremdenführer Jim die Tatsache, dass uigurische Familien zu Museumsstücken degradiert werden. Jim ist selber Uigure und heißt eigentlich Mohammed. Er ist 21 Jahre alt, spricht gutes Chinesisch, sein Englisch hat er sich selber beigebracht.

Da Jim als offizieller Fremdenführer arbeitet, muss er die chinesische Linie vertreten und darf nichts sagen, was der Lokalregierung nicht passt. Warum ein kleiner Teil der Altstadt zum Museum gemacht wurde, der Rest aber vom Abriss bedroht ist, Fremdenführer Jim betet die offiziell vorgegebene Antwort auf die Frage nach:

"Wenn es ein Feuer gäbe oder ein Erdbeben, dann wäre das sehr gefährlich. Wissen Sie, wenn die Menschen nicht auf das Feuer achten, mit dem sie kochen, wenn nur in einem Haus ein Feuer ausbrechen würde, würde das eine Bedrohung für all die anderen bedeuten."

Doch tief im Herzen scheint Jim nicht ganz überzeugt. Er selbst musste raus aus der Altstadt und wohnt nun in einer Neubausiedlung in einem gekachelten Haus. Auf die Frage, was ihm als Uigure denn besser gefiele, antwortet er so wie fast alle:

"Ich mag das traditionelle Leben. Es gibt ein Sprichwort – ob Osten oder Westen, dort, wo du geboren wurdest, ist es am Besten. "