Neapel

    Unter dem Vulkan

    157:22 Minuten
    Neapel
    Neapel hat schon immer die Menschen fasziniert © Cristiana Coletti
    Von Cristiana Coletti und Wolfgang Hamm · 08.07.2023
    Audio herunterladen
    Neapel ist ein urbaner Großraum von dreieinhalb Millionen Menschen voller Kontraste und Widersprüche. Die drittgrößte Stadt Italiens hat eine ganz eigene Seele. (Erstsendung am 25.4.20)
    Bekannt und berüchtigt ist die Camorra, sind die Müllskandale, die täglichen Schutzgelderpressungen und Neapel als größter Drogenumschlagplatz Europas. Aber Neapel war schon immer ambivalent, galt im 18. und 19. Jahrhundert nicht nur wegen seiner Schönheiten als Reiseziel.

    Die jüngere Geschichte Neapels

    Im 18. und 19. Jahrhundert ist Neapel einer der Höhepunkte der "Grand Tour", der klassischen Bildungsreise für Wohlhabende aus dem Norden, die über die Alpen, Verona, Venedig, Florenz und Rom der Stadt unter dem Vulkan zustrebten. "Campania felix" nannte man seit Alters her das Land des Öls und Weins. Die Landschaft zwischen Vesuv und Meer erschien den Reisenden nördlich der Alpen wie ein irdisches Paradies. "Neapel sehen und sterben", lautete ein berühmter Ausspruch.
    Um 1750 herum war Neapel die drittgrößte Stadt Europas nach London und Paris. Bis ins 20. Jahrhundert hinein ergötzten sich die Reisenden am Schauspiel des wimmelnden Lebens im Gewirr der Gassen, Straßen und Plätze. Wasserträger, Makkaroniköche, Pizzabäcker, Austernverkäufer, Romanzensänger, Abfallsammler, barfüßige Straßenkinder, ambulante Händler, die Kaffee, Zitronensaft, Sorbets und Wasser feilboten.
    "Das ist ein altes Muster, das wir Jahrhunderte verfolgen können. Die Reisenden kommen und finden die Landschaft wunderbar. Bis ins 19. Jahrhundert galt Neapel als schönste Stadt Europas, als Paradies Europas. Sie stellen aber gleichzeitig fest, dass sie in ein turbulentes soziales Umfeld kommen, in dem ihre Begriffe des Verstehens zumindest in Schwierigkeiten kommen. Walter Benjamin hat 1924 den schönen Satz geschrieben: Neapel vom Meer aus zu sehen, ist schön! Vom Meer aus zu sehen! Er hat sich dann schon hineingewagt, hat auch das Schönste über Neapel geschrieben, was man darüber schreiben kann, diesen Essay 'Neapel'. Aber auch er war irritiert von dem, was ihm an sozialem Umfeld, an Wirrwarr der Straßen, an Stadtarchitektur begegnet ist. Daher dieser Topos 'das von Teufeln bewohnte Paradies'. Und das gilt bis heute", sagt Dieter Richter, Literaturwissenschaftler und emeritierter Professor aus Bremen und einer der besten Kenner Neapels.
    Marino Niola
    Der neapolitanische Anthropologe Marino Niola© Agenzia Grazia Neri
    FLO
    Bekannt als Sängerin über Neapel: Floriana Cangiano tritt unter ihrem Künstlerinnennamen Flo auf.© Riccardo Piccirillo
    Die Sängerin und Liedermacherin Floriana Cangiano interpretiert die widersprüchliche Identität Neapels. Unter ihrem Künstlernamen Flo wurde sie weit über Neapel hinaus als eine der stärksten Begabungen in der aktuellen italienischen Musikszene bekannt.
    "Ich glaube, dass es hier eine sehr starke Identität gibt. Neapel ist eine wunderschöne Stadt, sehr aristokratisch in ihrer Erscheinung und mit ihrer langen Geschichte wechselnder Herrscher. Und jetzt erlebt sie eine sehr stark touristische Entwicklung, die zum Teil positiv ist, aber gleichzeitig negativ, weil diese Entwicklung wild ist: Jeder öffnet irgendwo ein Café mit Tischen draußen oder ein bed & breakfast in einer Garage. Das ist Neapel – im Guten wie im Schlechten", meint Cangiano.

    Leben und Tod in Neapel

    In ihrem Lied "La Mentirosa" spielt Flo mit der spanischen Sprache und dem neapolitanischen Dialekt. "La morte" und "la muerte" – der Tod ist im Italienischen wie im Spanischen weiblich. Deswegen trägt ihr Lied, das sie dem Thema Tod gewidmet hat, den Titel "La Mentirosa" (Die Lügnerin).
    "Neapel ist voller Votivnischen mit dem Bild eines Heiligen und dem Foto eines Verstorbenen. In den Häusern vieler einfacher Neapolitaner findest du noch Fotos von Verwandten, die vielleicht schon vor hundert Jahren gestorben sind. Die Fotos kann man nicht wegräumen, sonst ist der Tote beleidigt. Es ist, als ob er mit am Tisch sitzt zu Weihnachten, wenn die Familie zusammen ist." (Floriana Cangiano)
    Isotta Bellomunno "Barabarca“ (Sargboot)
    Isotta Bellomunno "Barabarca“ (Sargboot)© Isotta Bellomunno
    Eine der spannendsten Künstlerinnen Neapels ist Isotta Bellomunno. Er ist aber auch der Name eines der ältesten Bestattungsunternehmen Italiens.
    "Ich habe nie verstanden, ob Bellomunno zu heißen, ein Glück oder ein Unglück bedeutet. Wenn du so heißt in Neapel, wirst du Opfer von Gespött und bösen Bemerkungen. Vor allem, wenn du noch ein Kind bist, in der Pubertät, ist das unangenehm, weil dieser Name in Neapel ein Synonym für den Totengräber ist."
    In ihrer Arbeit geht es nicht darum, den Tod zu zelebrieren, sondern ihn zu beschwören. Ihre spektakulärste Performance ist "Barabarca": In einem Sargboot paddelte sie von Mergellina bis zum Castel dell'Ovo.
    Dieter Richter schaut in die Kamera. Er hat eine Glatze, seine linke Hand hat er hinter dem Kopf.
    Kenner Neapels: Der ehemalige Literaturprofessor Dieter Richter weiß viel über die italienische Stadt zu erzählen.© Ezzelino von Wedel
    Die traditionelle Nähe der Neapolitaner zu ihren Toten ist nicht auf einen physiologischen Vorgang beschränkt. Im kulturellen Gewebe der Stadt finden sich Abdrücke einer "pietà", eines Erbarmens mit den Verstorbenen, die sich in kleinen Straßenaltären manifestiert. Es sind "theatralische Miniaturen für die armen Seelen des Fegefeuers", wie Marino Niola in seinem Buch "Totem und Ragù" schreibt: Kleine Figürchen, die mit dem Unterkörper im Fegefeuer stehen und mit theatralischer Gebärde, Hilfe heischend oder auch entsetzt, die Arme zum Himmel heben. Sie werden in Neapel "anime abbandonate", verlassene Seelen oder auch "anime pezzentelle", abgerissene Seelen genannt – gezwungen, sich im Jenseits bettelnd fortzubewegen.
    Marino Niola, neapolitanischer Anthropologe, spricht von einem "Theater der Toten" und erinnert daran, dass die Menschen der Antike das Tor zum Hades bei Neapel in den Campi Flegrei, den seismografisch höchst bedrohlichen phlegreischen Feldern, vermuteten. Selbst Galileo Galilei, einer der Väter der modernen Rationalität, sah dort den Eingang zur Hölle.

    Neapel und die Mafia

    "Die Not erzeugt eine intelligentere Bevölkerung. Das ist eine Tatsache. In Neapel gab es immer ein Problem mit dem Geld - heute noch. Das löste ein Verhalten aus, das unmittelbar damit zu tun hat: Es hat sich ein extremes System entwickelt, was die Verteilung der Ressourcen betrifft. Die wenigen Ressourcen, die es gibt, wurden immer wieder neu von Hand zu Hand verteilt", erklärt der Historiker Paolo Macry.
    In seinem Buch "Napoli, nostalgia di domani" untersucht Macry die Identität des heutigen Neapels. Die Wurzeln der organisierten Kriminalität findet er in der Geschichte – wie in einer großen neapolitanischen "Dreigroschenoper".

    Eine Lange Nacht über Frauenstimmen in der italienischen Musik: "Launisch wie eine Feder im Wind"
    Ob Göttin oder Mutter, Heilige oder Geliebte – seit Jahrhunderten diente die Frau in Italien den Künstlern, Komponisten und Poeten als Projektionsfläche. Eine lange Tradition, an die auch die Popmusik Italiens anknüpfte. Im Laufe der Zeit lernten selbstbewusste Frauen mitzureden und sich gegen das überkommene Frauenbild zu wehren.

    FLO (Floriana Cangiano), Sängerin und Liedermacherin
    © Wolfgang Hamm
    "Während in Scampia alle zwei Tage eine Doku gedreht wird und deswegen das Phänomen Camorra nicht mehr so real und heftig wirkt wie anderswo, ist ein Viertel wie Rione Traiano gefährlicher, auch wenn es normal zu sein scheint. Es passiert nichts, weil nichts passieren darf. Alles ist unter Kontrolle. Das ist ein großer Platz für den Drogenhandel und keiner möchte, dass die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit hierher gelenkt wird", sagt Floriana Cangiano.
    In solchen Vierteln gegen Elend und Hoffnungslosigkeit zu kämpfen, ist für Erminia Sticchi zum Lebensthema geworden. Die Choreografin, Performerin, Theaterautorin leitet die Skaramacay Art Factory, die sie mit Künstlern aus verschiedenen Bereichen gegründet hat. Ihr Ziel: soziale wie politische Botschaften durch die Kunst zu verbreiten. Sticchi brachte das klassische Ballett nach Scampia – in der Überzeugung, etwas bewirken zu können.
    Erminia Sticchi, Skaramacay
    Klassisches Ballett in Neapel: "Skaramacay" von Erminia Sticchi will etwas bewegen.© Erminia Sticchi
    "Diese Jungs und Mädchen, die bis vor kurzem Kriminelle waren, wurden neugierig und fingen an, meine Schule zu besuchen. Mit ihnen kommunizierte ich in ihrer Sprache, ein akademischer Ton hätte zu keinem Erfolg geführt. Ich versuchte, nicht schockiert zu reagieren, als sie mir ihre für mich absurden Geschichten erzählten. Man darf nicht vergessen, dass es sich um Jugendliche handelt, deren Väter im Gefängnis sind und deren Mütter vielleicht als Prostituierte arbeiten", erklärt Sticchi.
    "Das Klischee von einem Neapel, das aus unterentwickelten Menschen besteht – "neomelodici, camorristi" – ist ein Klischee, das am Ende scheitert, weil die sogenannten unterentwickelten Bürger wie wir auch sind. Man muss sich mit dieser Welt auseinandersetzen und sie nicht von oben herab einfach verurteilen. Die Grenze zwischen Gut und Böse können Fremde ziehen, aber in Wirklichkeit ist die Grenze labiler, als du glauben magst", sagt der Musiker und Komponist Ernesto Nobili.
    Ernesto Nobili steht auf einer Bühne und spielt eine Gitarre.
    Nicht in Klischees denken: Musiker und Komponist Ernesto Nobili verteidigt die Menschen aus Neapel.© Laura Stramacchia
    Wenn man sich auf eine derart komplexe und widersprüchliche Realität bezieht, neigt man dazu, einen Aspekt in den Vordergrund zu stellen.

    Jeder spricht von seinem Neapel

    Marino Niola sieht in Neapel "ein extremes Beispiel unter den Städten des Abendlandes. In ihr konzentrieren sich die Schrecken einer Stadt. Neapels städtische Landschaft ist faszinierend, allerdings aus Gründen, die das Leben großer Teile der Bevölkerung so prekär machen."
    Und der Schriftsteller Luciano De Crescenzo geht so weit zu sagen: "Neapel ist für mich nicht die Stadt Neapel, sondern nur eine Komponente der menschlichen Seele, von der ich weiß, dass ich sie bei allen Menschen finden kann, egal, ob sie Neapolitaner sind oder nicht."

    Die Sendungsmanuskripte zum Nachlesen zum Download als PDF oder als TXT-Datei.

    Mehr zum Thema