Lange Nacht über die Verwandlung von Leid in Literatur

Schweigen oder Schreiben

Kunstwerk von Francisco de Goya: Ein schlafender Mann hat einen Albtraum, der Ungeheuer gebiert.
Kunstwerk von Francisco de Goya: Ungeheuer, die sich in den Tiefen der Seele verstecken. © picture-alliance / akg-images
Von Burkhard Reinartz · 11.07.2020
Seit Anbeginn der Menschheit erzählen wir uns Geschichten – nicht zuletzt, um damit leidvolle Erfahrungen zu verarbeiten. Heute boomt die Autofiktion, die persönliches Leiden zu Literatur macht. Kann Schreiben Schmerzen lindern?
Seit es Menschen gibt, erzählen sie Geschichten. Von den Schöpfungsmythen der Religionen, den Epen und Heldensagen der Völker, Geschichten über Liebe und Hass, Glück und Unglück, über persönliche Verwundungen und die Gewalttaten des 20. Jahrhunderts. Erzählen hat viele Gesichter. Eines besteht darin, erlittenen oder vorgestellten Schrecken durch Worte zu bannen und dadurch bewältigbar zu machen.

Leid: ein Ur-Motor fürs Schreiben

"Leid ist ein Ur-Motor für literarisches Schaffen seit dem Gilgamesch-Epos, dem ältesten Epos der Menschheit, in dem Gilgamesch um seinen Freund Enkidu trauert", sagt Jan Drees, Literaturkritiker und Schriftsteller. "Und aus dieser Trauer heraus entsteht diese ganze Geschichte. Und wenn wir dann immer weiter gehen, dann können wir möglicherweise zu der Erkenntnis gelangen, dass Leid notwendig ist, um zu schreiben. Ob es immer gelingt, ist selbstverständlich eine andere Frage."
Inszenierung von "Gilgamesh" am Düsseldorfer Schauspielhaus:
Die Lange Nacht erkundet verschiedene Beispiele aus jüngerer Zeit für die Verwandlung von Leid in Literatur: Kann Schreiben Schmerzen lindern, Traumata heilen? Die drei Stunden werfen Schlaglichter auf die literarische Verarbeitung von persönlicher Trauer, Missbrauchserfahrungen und Depressionen. Und schließlich auch auf die schriftstellerische Aufarbeitung kollektiver Traumata, wie der nationalsozialistischen und stalinistischen Verbrechen.

Trauer, Missbrauch und Einsamkeit

Die erste Stunde beginnt mit dem, womit alles anfängt: Das langsame Zur-Welt-kommen in der Kindheit. Den Anfang macht die junge Autorin Jasmin Schreiber mit Auszügen aus Ihrem Roman "Marianengraben". Ein literarisches Roadmovie, in dem die Protagonistin Paula nach dem Tod ihres zehnjährigen Bruders mit dem 83-jährigen Rentner Helmut zu einer Reise in die Dolomiten aufbricht.
Auf der Fahrt begegnen die beiden ihren seelischen Verletzungen und versuchen, ihre Wunden zu heilen. Dabei reflektiert Paula auch über die Literatur: "Ein Buch in der Hand kann ein echter Rettungsanker sein. Wenn die See des Lebens zu rau ist, klammert man sich an Geschichten und lässt sich von ihnen in Sicherheit bringen."
Jasmin Schreiber liest aus ihrem Roman "Marianengraben":
Danach geht es mit Peter Hoeg nach Dänemark in ein Heim für verwundete "schwer erziehbare" Kinder. Sein Roman "Der Plan von der Abschaffung des Dunkels" legt Anfang der 1990er Jahre den literarischen Grundstein für die Aufdeckung der fast schon epidemischen Missbrauchsfälle der letzten Jahrzehnte – wie sie seitdem in der Literatur oft thematisiert werden.
Auch der Schriftsteller Bodo Kirchhoff hat das getan. Im Jahr 2019 reflektiert er in dem Essay "Sprachloses Kind" den Zusammenhang von Missbrauch, Schweigen und Literatur:
"Der sogenannte Missbrauch – natürlich konfessionsübergreifend, was sonst – hinterlässt ein ungeheures Sprachloch. Es ist ein Loch – das Wort Narbe wäre schon ein Euphemismus –, das weder die Zeit heilen kann noch Prozesse. Macht kaputt, was euch kaputt macht, hieß es, als ich Student in meinem Gehäuse war; aber es reicht, davon Wort für Wort, ohne Rücksicht auf sich und andere, zu erzählen."
Bodo KIRCHHOFF, Deutschland, Autor, Buchpreistraeger 2016, am 19.10.2016 Frankfurter Buchmesse 2016 vom 19.10 - 23.10.2016 in Frankfurt am Main / Deutschland.

Bodo Kirchhoff Germany Author  2016 at 19 10 2016 Frankfurt Book Fair 2016 of 19 10 23 10 2016 in Frankfurt at Main Germany
Missbrauch als "Sprachloch": Bodo Kirchhoff.© imago images / Sven Simon
Kinder und ihre gewalttägigen Väter: In dem Roman "Serpentinen" reist Bov Bjergs Protagonist mit seinem Sohn ins Allgäu. Dort erinnert er seine Kindheit und Jugend mit dem brutalen Vater und Stiefvater. Zum Abschluss der ersten Stunde dann ein Sprung über die Kontinente nach China. Guo Xiaolu erzählt die Geschichte eines Mädchens in einem von Taifunen heimgesuchten Fischerdorf am ostchinesischen Meer. Eine Welt, in der statt Lachen und Leben die Einsamkeit und das Schweigen regiert – bis es ihr Jahre später in Beijng gelingt, sich von den Schatten der Vergangenheit zu lösen.

Zwischen Depression und Höhenflügen

In der zweiten Stunde der Langen Nacht geht es um den auffälligem Boom der autofiktionalen Literatur, um Texte, in denen sich autobiografische Elemente mit fiktionalen Handlungselementen verweben. Texte, in denen die Grenzen von Realität und Fantasie verschwimmen und im besten Fall aus persönlichen Erfahrungen große Literatur entsteht.
Inszenierung von "Die Welt im Rücken" am Wiener Burgtheater (2017) mit Joachim Meyerhoff:
Seit vielen Jahren leidet der Schriftsteller und Bühnenautor Thomas Melle unter einer manisch-depressiven Erkrankung – heute modisch auch "bipolare Störung" genannt. Im Jahr 2016 entwirft Melle in "Die Welt im Rücken" schonungslos und wortgewaltig die Chronik seines eigenen zerrissenen Lebens zwischen Höhenflügen und Depression:
"Sollte ich wieder dem Wahn verfallen, werde ich es als Schicksal hinnehmen. Ich meinte schon nach der zweiten Manie, eine dritte würde ich nicht überleben. Habe ich aber. Würde ich wieder. Ich mag mich wieder umbringen wollen, irgendwann. Dann werde ich dennoch weiterleben. Dann werden diese Zeilen wie ein Gebet sein."

Schöpfen aus dem eigenen Leiden

Tatsächlich scheinen Autoren und Leser in den letzten Jahren ein wachsendes Bedürfnis nach dem sogenannten realen Leben zu entwickeln. David Wagners Buch aus dem Jahr 2013 über seine Organtransplantation heißt nicht zufällig "Leben" und gilt als Vorbote einer radikalen Selbstoffenbarung.
Fast zeitgleich schrieb Wolfgang Herrndorf in seinem literarischen Blog "Arbeit und Struktur" – nach seinem Suizid als Buch veröffentlicht – über die Stationen des Ringens mit seinem Gehirntumor. 2019 erschienen mit Isabelle Lehns "Frühlingserwachen" und Jan Wilms "Winterjahrbuch" Romane, deren Protagonisten denselben Namen tragen wie Autorin und Autor.
Interview mit David Wagner über sein Buch "Leben" (Deutsche Welle 2013):
Auffällig viele dieser Autorinnen und Autoren thematisieren in ihren Romanen die eigenen Verletzungen, Kränkungen und psychischen Beschädigungen.
"Psychische Krankheiten sind in unterschiedlichsten Betrachtungsweisen schon lange Stoff in der Literatur", sagt die Germanistin Béatrice Katharina Meißner. Sie hat im Jahr 2019 ein Buch veröffentlicht, in dem sie fragt, warum autofiktionale Literatur, die von Überforderung, Ängsten und Depressionen erzählt, anscheinend den Nerv der Zeit trifft ("Vulnerabilität – Verwundbare Figuren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur").
In der Literatur, so Meißner, "wird zwar durch die Verwundbarkeit und die Verletzlichkeit auch eine Schwachstelle der Figur dargelegt. Aber die verwundbaren Figuren können durchaus auch als Mittel betrachtet werden, die Welt besser zu verstehen, denn sie zeigen Ausschnitte, die oftmals im Verborgenen bleiben."

Die deprimierende Gesellschaft

Auch wenn der Umgang mit psychischen Beschädigungen wie Ängsten und Depressionen nicht mehr so radikal tabuisiert ist wie vor einigen Jahren: Noch immer wird die Störung des Einzelnen als Störung der gesamten Gesellschaft empfunden – vielleicht weil sich viele in den Verwerfungen der psychisch Erkrankten selbst erkennen. Wenn immer mehr Menschen depressiv werden, liegt es vielleicht daran, dass wir in einer Gesellschaftsdynamik leben, die deprimierend ist?
Die Germanistin Meißner jedenfalls kommt zu dem Schluss: "Die Figuren in den Romanen von Thomas Melle oder auch Terézia Mora zerbrechen oftmals daran, dass sie nicht wahrgenommen und nicht in ihrem Kampf und in ihrer Auseinandersetzung mit der Störung erkannt werden - und die Gesellschaft darauf eigentlich nicht wirklich eingeht und auch keine Hilfestellung bietet."

Menschliche Verletzlichkeit im Turbokapitalismus

Ein Buch, das die menschliche Verletzlichkeit unter den Bedingungen des weltweiten Turbokapitalismus radikal in den Blick nimmt, ist Terezia Moras Roman "Das Ungeheuer". Die Ungarin Flora ist nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nach Berlin gezogen und hat dort den schrulligen IT-Spezialisten Darius Kopp kennen und lieben gelernt.
Ihr Glück ist nicht von langer Dauer. Er wird wegrationalisiert. Sie scheitert beim Versuch, im Westen beruflich Fuß zu fassen und ihre Kindheitstraumata zu überwinden. Immer stärker gerät Flora in den Sog des "Ungeheuers" ihrer Ängste und Depressionen. Sie nimmt sich das Leben, er verliert den Lebensmut.
Porträt einer Frau mit schwarzen glatten Haaren, die direkt in die Kamera blickt.
Erzählt von der Brutalität des Kapitalismus: die Georg-Büchner-Preisträgerin Terézia Mora.© dpa / picture-alliance
Nach dem Suizid seiner geliebten Frau Flora übergibt Darius Kopp deren Laptop einer jungen Studentin, um die Tagebücher, Notizen und Dateien Floras aus dem Ungarischen zu übersetzen. Texte, die sie seit ihrer Jugend und der Flucht aus Ungarn verfasst hat. Notizen, die ihn überraschen und schockieren:
"Habe geträumt, Mutter wickelt mir die Nabelschnur um den Hals und wirbelt mich in der Luft herum. Die andern sitzen drum herum und lachen. Ich stehe in der Mitte eines Kreises. Meine Schulkameradinnen stehen um mich herum und bewerfen mich mit Eisenkugeln, wie man sie beim Kugelstoßen benutzt. Sie versuchen meinen Kopf zu treffen. Mutter feuert sie an."
Terézia Moras Romane speisen sich immer auch aus eigenen Erfahrungen. Ob man das jetzt autobiografisch nenne, sei zweitrangig, meint die Schriftstellerin. Erinnern sei nie ein sachliches Rekapitulieren der Ereignisse und verschwimme automatisch mit der Fantasie.
Allerdings: "Diese Momente auch tiefster, erschreckender, schockierender Verzweiflung, die ich bei Flora beschrieben habe – natürlich habe ich die auch schon erlebt in meinem Leben. Meine Behauptung ist bloß, dass das auch jeder andere hat. Nur redet nicht jeder darüber oder nicht jeder würde es so ausdrücken."

Schreiben gegen kollektive Traumata

In der dritten Stunde der Langen Nacht geht es um die Frage, ob das geschriebene Wort auch den Schmerz kollektiver Traumata wie Kriege, Verschleppungen oder Völkermord lindern kann. Wir hören Ausschnitte aus Herta Müllers "Atemschaukel", die über die Internierung von Rumäniendeutschen in sowjetrussischen Arbeitslagern schreibt, sowie aus zwei Romanen, die sich mit Erfahrungen aus der Nazizeit befassen: Norbert Scheuers "Winterbienen" und Arno Geigers "Unter der Drachenwand".
Interview mit Arno Geiger über "Unter der Drachenwand" (MDR Kultur 2018):
Warum erscheinen Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch immer Romane, die sich mit den Schrecken des Naziterrors auseinandersetzen? Für den Literaturkritiker Jan Drees liegt die Antwort in der Langlebigkeit kollektiver Traumata und ihrer bislang mangelnden Aufarbeitung:
"Wir wissen, dass transgenerationelle Traumaübertragung eine Generation überspringt. Das heißt: Jetzt ist die Enkelgeneration 40, 50 Jahre alt und die schreibt, denn ihr fallen die nicht ausgesprochenen Traumata, die verschwiegenen, in den Familien nicht angesprochenen Traumata jetzt auf die Füße. Wenn diese Sachen ausgesprochen werden, die unser Kollektiv betreffen, dann erfahren die Leserinnen und Leser: Ich bin nicht allein mit dem Schmerz, den ich habe. Und das birgt die Chance der Heilung."

Literatur macht Unsägliches sagbar

Und auch Terézia Mora ist überzeugt: "Literatur kann natürlich helfen, kollektive Traumata aufzuarbeiten. Mehr noch: Sie muss. Ich glaube, dass die Literatur uns tatsächlich hilft, unsere eigene Geschichte zu schreiben, und dass wir vieles auch erst begreifen, nachdem es Literatur geworden ist."
Jede neue Generation wird erschüttert vor den Überlebenden kollektiver Traumata wie denen des Holocaust stehen und erstaunt fragen: "Können sie das tatsächlich in Worte fassen?" "Und jede Generation muss wieder neu eine eigene Form und Sprache finden, um auf diese Frage mit 'Ja' zu antworten", schreibt die Journalistin Carolin Emcke.
"Vielleicht ist das, was als unbeschreiblich und unsäglich gilt, nur flüsternd möglich, vielleicht ist das Erzählen von Verfolgung und Gewalt, Demütigung und Vergewaltigung nur stockend möglich, nur bruchstückhaft, vielleicht bleiben narrative Lücken, da, wo jemand sich nur unter Schmerzen erinnern kann, wo etwas nur mit Scham bloß gelegt werden kann. Aber deshalb ist es eben doch sagbar."

Über den Autor:
Burkhard Reinartz lebt und arbeitet als Feature-Autor und Radio-Regisseur in Köln. Seit zwanzig Jahren schreibt und produziert er Hörstücke. Markenzeichen seines Schaffens ist die Einheit beziehungsweise Spannung von Wort und Musik. Oder wie er selber sagt: "Literarische Texte in Klangwelten verwandeln und dadurch eine Einheit des Mitteilens erreichen, die gleichzeitig Intellekt und Gefühl umfasst." Neben den "Langen Nächten"im Deutschlandradio porträtiert er Schriftsteller wie John Burnside, Adam Zagajewski und Paul Nizon.

Produktion:
Autor: Burkhard Reinartz; Regie: Burkhard Reinartz; Sprecher: Daniel Berger, Sigrid Burkholder, Nicola Gründel, Andre Kaczmarczyk, Hartmut Stanke; Redaktion: Dr. Monika Künzel; Webdarstellung: Constantin Hühn.

Hier finden Sie das vollständige Manuskript dieser Langen Nacht.

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