Landtagswahl in Bayern

Die Grünen als neue Wohlfühlpartei

Die Spitzenkandidaten der Grünen in Bayern, Katharina Schulze and Ludwig Hartmann, gemeinsam mit Parteichef Robert Habeck.
Schon in Jubelstimmung? - Die Spitzenkandidaten der Grünen in Bayern, Katharina Schulze and Ludwig Hartmann, gemeinsam mit Parteichef Robert Habeck. © Alexander Pohl/ NurPhoto / dpa
Ein Kommentar von Reinhard Mohr · 11.10.2018
Bei der Bayern-Wahl könnten alle ihr "Grünes Wunder" erleben: Denn letzten Umfragen zufolge liegt die Öko-Partei bei sensationellen 18 Prozent. Die Grünen werden mit ihrem Kurs des Ungefähren zum Auffangbecken für Wähler aus der Mitte, meint Reinhard Mohr.
Ein Gespenst geht um in Deutschland. Nein, nicht der olle Kommunismus von Karl Marx, sondern das neue grüne Wunder – der schier unaufhaltsame Aufstieg jener Partei, die vor bald 40 Jahren von militanten Atomkraftgegnern, bärtigen Waldschraten und Ex-Maoisten gegründet worden ist.

1983, als die erste Fraktion mit abgestorbenen Tannenzweigen und selbstgestrickten Pullovern in den Bundestag einzog, hatte sie gerade mal 5,6 Prozent der Wähler gewonnen. 35 Jahre später könnten sie zum Überflieger der anstehenden Landtagswahlen werden.

Der heiße Sommer reicht nicht als Erklärung

Was passiert hier gerade? Haben die Grünen etwa die richtigen Antworten auf die zentralen Fragen unserer Zeit gefunden – Globalisierung, Digitalisierung, innere Sicherheit, Massenmigration, Europa und kulturelle Identität? Allein der heiße Sommer, Stichwort Klimawandel, reicht nicht als Erklärung für die grüne Spontangärung.
Tatsächlich profitieren die Grünen von einer historischen Umwälzung: Die alten Volksparteien verlieren massiv an Zustimmung. Während die Sozialdemokraten geradezu geschreddert werden, landen auch Angela Merkels Christdemokraten bei Umfragewerten unter 30 Prozent. Der Vertrauensverlust ist riesig.
Es ist unverkennbar, dass die politische Mitte erodiert – verunsichert, verärgert und ziemlich orientierungslos –, während die neue, alte Rechte triumphiert. Im Osten ist die AfD schon Volkspartei, gegen die kaum noch regiert werden kann.

Grüne Partei als Auffangbecken der Mitte

Ein Hauch von Weimar weht durchs Land. In dieser Situation fungieren die Grünen wie ein Auffangbecken für Wähler aus den wohlsituiert-pluralistischen Milieus der linken, ökologisch bewussten Mitte, die trotz ihrer Zustimmung zu Merkels Flüchtlingspolitik keinesfalls CDU wählen wollen, schon gar nicht Seehofer und Söder, die bajuwarischen Teufel in Menschengestalt.
Zu dem sprichwörtlichen Bionade-Bürgertum mit Yoga-Kompetenz kommen nun auch enttäuschte SPD- und CSU-Wähler – all jene, die nicht wutbürgermäßig zur AfD überlaufen wollen. Deren klarste Antipode sind nun die Grünen.

Das neue Führungsduo steht für frische Nachdenklichkeit

Das neue Führungsduo der Ökopartei verkörpert derweil jene vergleichsweise frische Nachdenklichkeit, die auf volkspädagogische Besserwisserei weitgehend verzichtet. Vor allem Robert Habeck präsentiert sich als leicht verwuschelter Schwiegersohn der 68er-Generation, die wohlwollend auf die grüne Erbschaft ihrer Revolte von vor 50 Jahren blickt. Kein ideologischer Weltverbesserungsfanatismus mehr, keine erbitterten Flügelkämpfe, von denen die große Öffentlichkeit erfahren würde. Allerdings auch kein Joschka Fischer, an dem sich die Geister rieben.
Dazu kommen mehrheitsfähige Themensetzungen wie Heimat, Patriotismus und Vernunft, die mit dem alten Radikalismus nichts mehr zu tun haben. Im neuen Buch der schwäbischen Grünen-Ikone Winfried Kretschmann ist viel von "Führung", "Sicherheit" und "Heimat" die Rede, von konservativen Werten, "die die Menschheit schon immer für richtig gehalten hat".

Erfolg mit dem Eros des Ungefähren

Was zornige Kritiker den evangelischen Kirchentagsmoralismus der Grünen nennen, zieht andere gerade an: Das gute Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Die Botschaft: Mit den Grünen kannst Du erstmal nichts falsch machen! Sie sind die neue Wohlfühlpartei, die Fluchtburg einer sanften Vernunft mit CO2-reduziertem Fußabdruck.
Der Sirenengesang wirkt. Er soll auf die Köpfe der Wähler wirken, ist aber vielstimmig genug, um niemanden vor den Kopf zu stoßen. Eigentlich dreht sich der politische Streit ja immer darum, was genau die vernünftige Lösung für ein konkretes Problem ist. Doch die Grünen haben längst gelernt, dass allzu scharfe Kanten schaden können. Auch das Ungefähre hat seinen Eros.

Reinhard Mohr, geboren 1955, ist Journalist und Autor. Er schrieb für "Spiegel Online" und war langjähriger Kulturredakteur des "Spiegel". Weitere journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Buchveröffentlichungen unter anderem: "Bin ich jetzt reaktionär? Bekenntnisse eines Altlinken", "Das Deutschlandgefühl", "Generation Z", "Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern" und "Meide deinen Nächsten. Beobachtungen eines Stadtneurotikers".

© dpa / picture alliance / Karlheinz Schindler
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