Landschaft des Unbehagens
Adèle, eine der Protagonisten in "Der Tag war blau", ist Busfahrerin. Tag für Tag kutschiert sie verschlafene Schüler über ein Hochplateau in der Ardèche. Adèle hat ein Geheimnis. Darum und um die Zwänge des Erwachsenwerdens geht es in dem Roman, der so liebenswert, so irritierend und so unausgegoren daherkommt wie die Ansichten eines Pubertierenden.
Jeden Morgen schickt man sie hinaus. Schlaftrunken, die Schultern hochgezogen, den Kopf unter einer Kapuze versteckt, stehen die Kinder an einer Ecke und warten auf den Bus: ein Bild des Jammers. Man braucht dazu nicht die raue Hochebene der Ardèche, in der Emmanuelle Pagano ihren vierten Roman ansiedelt. Das Mitleid kann einem überall kommen, wo es morgens kalt und dunkel ist. Eingetaktet auf die Zeit der Erwachsenen, sehen Schulkinder aus wie müde Lämmer, denen man Gewalt antut. An rührseligen Tagen ist das ein schmerzlicher Anblick. Meistens aber geht man achtlos darüber hinweg.
"Der Tag war blau" heißt im Original "Les Adolescents troglodytes", sinngemäß "Heranwachsende Höhlenbewohner". Als deutscher Titel ist das nicht zu übersetzen, legt aber doch die entscheidende Fährte. Es geht in diesem verwirrenden kleinen Roman vor allem um den Reiz eines zweideutigen Blicks auf das Verpuppungsstadium von Heranwachsenden und nicht so sehr um die Geschlechtsumwandlung der Erzählerin, einer Busfahrerin, die früher mal ein Junge gewesen sein soll (was darüber gesagt wird, ist eher unglaubwürdig). Adèle lenkt seit zehn Jahren einen Kleinbus durch die Hochebene. Morgens sammelt sie die noch müden Schüler unterschiedlichsten Alters ein, abends bringt sie die erschöpften Wesen zurück. Die Erzählzeit umfasst sechs ausgewählte Tage der Wintermonate. Zum Schluss kommt es wegen eines Schneesturms fast zur Katastrophe. Doch es gelingt Adèle, ihre Schützlinge in einer Höhle in Sicherheit zu bringen. Dort erfahren sie auch ihr Geheimnis.
"Der Tag war blau" beschreibt die Pubertät als grausamen Zwang zur Eindeutigkeit. Changierend zwischen schroffer Wortkargheit und identifikatorischer Einfühlung, deutet er das Leben als Vertreibung aus dem Höhlenparadies. Die seltsame Stimmung des Romans rührt daher, dass alles ganz natürlich wirken soll, so als folge der Erzählverlauf den Serpentinen der Straße und den Eingebungen der Landschaft. Gleichzeitig unterlegt Pagano aber ihrem Roman eine sexuelle Symbolik, die sehr wohl konstruiert ist. Die Erzählerin gibt sich betont abgeklärt, erzeugt aber oft genug ein zwar schroffes, aber gewaltiges Pathos:
"Ich erinnere mich an meine Geburt. Ich bin nicht die Einzige, fast jeder erinnert sich daran, doch beinahe niemand schenkt ihr Beachtung, das ist alles. (....) An die Einzwängung des ganzen mitbebenden Körpers, an eine Beklemmung, im Wortsinn, die sich auf alles andere überträgt, von allem zurückgeworfen wird, noch heute wiederkehrt. In den Schluchten, unterm Nebel, aber auch in der prallen Sonne, im prallen Wind, in der prallen Intimität, wenn ein Mann sich nicht genug auf die Ellbogen aufstützt und mir die Brust plattdrückt."
Kein durchweg gelungener, eher ein irritierender Roman: liebenswert unausgegoren wie die Ansichten eines Pubertierenden.
Rezensiert von Meike Feßmann
Emmanuelle Pagano: Der Tag war blau
Roman. Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger
Wagenbach Verlag, Berlin 2008
171 Seiten, 17,90 Euro
"Der Tag war blau" heißt im Original "Les Adolescents troglodytes", sinngemäß "Heranwachsende Höhlenbewohner". Als deutscher Titel ist das nicht zu übersetzen, legt aber doch die entscheidende Fährte. Es geht in diesem verwirrenden kleinen Roman vor allem um den Reiz eines zweideutigen Blicks auf das Verpuppungsstadium von Heranwachsenden und nicht so sehr um die Geschlechtsumwandlung der Erzählerin, einer Busfahrerin, die früher mal ein Junge gewesen sein soll (was darüber gesagt wird, ist eher unglaubwürdig). Adèle lenkt seit zehn Jahren einen Kleinbus durch die Hochebene. Morgens sammelt sie die noch müden Schüler unterschiedlichsten Alters ein, abends bringt sie die erschöpften Wesen zurück. Die Erzählzeit umfasst sechs ausgewählte Tage der Wintermonate. Zum Schluss kommt es wegen eines Schneesturms fast zur Katastrophe. Doch es gelingt Adèle, ihre Schützlinge in einer Höhle in Sicherheit zu bringen. Dort erfahren sie auch ihr Geheimnis.
"Der Tag war blau" beschreibt die Pubertät als grausamen Zwang zur Eindeutigkeit. Changierend zwischen schroffer Wortkargheit und identifikatorischer Einfühlung, deutet er das Leben als Vertreibung aus dem Höhlenparadies. Die seltsame Stimmung des Romans rührt daher, dass alles ganz natürlich wirken soll, so als folge der Erzählverlauf den Serpentinen der Straße und den Eingebungen der Landschaft. Gleichzeitig unterlegt Pagano aber ihrem Roman eine sexuelle Symbolik, die sehr wohl konstruiert ist. Die Erzählerin gibt sich betont abgeklärt, erzeugt aber oft genug ein zwar schroffes, aber gewaltiges Pathos:
"Ich erinnere mich an meine Geburt. Ich bin nicht die Einzige, fast jeder erinnert sich daran, doch beinahe niemand schenkt ihr Beachtung, das ist alles. (....) An die Einzwängung des ganzen mitbebenden Körpers, an eine Beklemmung, im Wortsinn, die sich auf alles andere überträgt, von allem zurückgeworfen wird, noch heute wiederkehrt. In den Schluchten, unterm Nebel, aber auch in der prallen Sonne, im prallen Wind, in der prallen Intimität, wenn ein Mann sich nicht genug auf die Ellbogen aufstützt und mir die Brust plattdrückt."
Kein durchweg gelungener, eher ein irritierender Roman: liebenswert unausgegoren wie die Ansichten eines Pubertierenden.
Rezensiert von Meike Feßmann
Emmanuelle Pagano: Der Tag war blau
Roman. Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger
Wagenbach Verlag, Berlin 2008
171 Seiten, 17,90 Euro