Landschaft als künstlerische Konstruktion

Von Jochen Stöckmann · 11.04.2010
Der Leipziger Maler David Schnell vertritt die etwas andere Leipziger Schule: Seine Bilder zeigen nicht reale, sondern durchkonstruierte Landschaften und verdeutlichen so Fragen von Komposition und Perspektive. Auf manche Bildern scheinen die Farbfragmente geradezu zu explodieren.
Ein windschiefer Holzschuppen, endlos lang, ragt bis an den schrägen Horizont einer Wiesenlandschaft. Alleen aus Büschen in allen nur erdenklichen Leuchtfarben füllen streng symmetrisch die zweigeteilten, wandhohen Leinwände. Dann blitzen durch das geometrisch geordnete Dickicht schlanker Stangen und Streben zart angedeutete Blätter und Blüten. Schließlich wachsen aus schwarzem Grund Farbkristalle, verschwinden in blendend hellem Gegenlicht abstrakte Formen.

Und immer wieder sieht sich der Besucher auf diesem nach Motivgruppen geordneten Parcours des hannoverschen Kunstvereins mit Explosionen konfrontiert: keilförmige Splitter und Fragmente aus impulsiven Pinselstrichen, die nach allen Seiten aus dem Bild streben. So entsteht ein virtueller Raum außerhalb des Rahmens, aber auch mit seinen streng auf die Bildmitte zentrierten Schuppenkonstruktionen und Alleen kommt es David Schnell vor allem auf eines an: das Sehen in der Landschaft, den entgrenzten Blick. Und dafür braucht der Leipziger Maler mehr als Pinsel und Leinwand:

"Das Fahrrad ist für mich schon eine der genialsten Erfindungen, wie man viel Raum relativ schnell erschließen kann, ohne den Bezug oder den Kontakt zum Raum selber zu verlieren: So eine Art von Vorarbeit, wenn man eben nicht sich konkret einem Ort widmet, sondern das Ganze in Bewegung wahrnimmt - das ist eigentlich schon der erste Schritt zur Abstraktion."

Wie William Turner vor 200 Jahren die Eisenbahn, so macht David Schnell das Mountainbike zum Vehikel malerischer Wahrnehmung: alltägliche Räume, deren Charakter und Konstruktion einem immer schon geläufig schienen, werden in diesen Bildern im doppelten Sinne "reflektiert", nicht nur sinnlich erfahrbar, sondern auch dem geistigen Auge zugänglich:

"Nachdem ich Scheunen und Schuppenkonstruktionen gemalt habe, da habe ich tatsächlich auf einer Radtour einen sehr extremen Hohlweg, der sich aus Bäumen und Büschen bildete, entdeckt - und dass sich dadurch auch eine neue Formwelt eröffnet: dass es erst gegenständlich wird in der Ferne, und wenn man nah herangeht, sich das Ganze in malerisches Fleckenwerk auflöst."

So führt dieser Maler Landschaft vor als seltsam ortloses Traumgebilde, als konstruierte Vorstellung. Angefangen hat David Schnell mit zeichnerischer Präzision, in den ersten Arbeiten schlägt noch das strenge Gitterwerk der Zentralperspektive durch die gemalten Farbflächen. Mittlerweile aber zieht er dem Betrachter nicht nur mit schillernd spiegelnden Farbpfützen regelrecht den Boden unter den Füßen weg - er meidet auch jeden allzu konkreten Anhaltspunkt:

"Dass ich oft diese Flecken zunächst setze - der Himmel oder die Wolken, manchmal auch die Bäume. Durchaus im Hinterkopf habe, etwas Räumliches daraus zu machen, aber dann der Punkt kommt, wo ich merke: okay, es reicht die Andeutung."

Angesichts einer langen Liste respektabler Sammler, aus deren Privatkollektionen die Leihgaben für diese erste Übersichtsschau kommen, liegt der kulturkritische Verdacht nahe: Zur detaillierten Ausführung reicht es nicht, weil schon der nächste Käufer wartet. Aber nicht der Kommerz, sondern das Konzept steht Pate:

"Dass ich einfach nur eine Farbe im Kopf habe, mit der Farbe anfange und noch gar nicht weiß, ob das jetzt ein Wald oder ein Stangenbild wird - und sich so aus dem Abstrakten heraus eine Landschaft bildet."

Auf diese Entscheidung vor der Leinwand, die "Stunde" der künstlerischen Wahrheit ist der Titel der Ausstellung gemünzt - die naturgemäß kaum in der Lage ist, den Prozess der Bilderfindung in seiner ganzen Komplexität nachzustellen:

"Es ist so, dass ich meistens an sechs, sieben Bildern parallel arbeite, mit Architekturen drauf, da sind Bilder mit Blättern dabei, da sind schwarze Bilder oder lichtdurchflutete Bilder dabei. Dass ich also nicht versuche, einen geschlossenen Werkkomplex zu schaffen, sondern die Motive, beziehungsweise die Elemente oder Formen tauchen auch nach Jahren wieder auf und es kommt dann wieder ein schwarzes Bild oder ein Blätterbild, eine Allee dazu, obwohl ich gerade mit etwas ganz anderem beschäftigt bin."

Dieses "ganz andere", das konsequente Durcharbeiten des spannungsreichen Verhältnisses von Malerei und Raumdarstellung lässt sich nicht auf einen einprägsamen Nenner bringen oder in ein enges Begriffskorsett schnüren. Auch das Label "Leipziger Schule" verbietet sich - obwohl David Schnell Meisterschüler bei Arno Rink war, wie vor ihm Neo Rauch:

"Am Anfang hatte ich auch Figuren in diesen Landschaften. Aber ich habe relativ schnell gemerkt, dass es mir eben nicht um eine Erzählung geht, sondern dass mich Problematiken dieser Räumlichkeiten besonders interessiert haben - und: den Betrachter hinters Licht zu führen und zu täuschen, einfach durch Formspiele und Raumexperimente."

Den Raum im hannoverschen Kunstverein hat David Schnell mit seinem ersten Wandbild - einer über Eck grau in grau gemalten Buschreihe - förmlich aufgeschnitten, in eine weitere Dimension aufgeklappt. Das ist mehr als nur ein 3-D-Effekt: So bleiben dem Publikum Filminstallationen oder Video-Performances erspart - und nichts lenkt ab vom Sehen, vom Blick in die Kunst-Landschaft.

Service:
Die Ausstellung "Stunde" mit Werken von David Schnell ist bis zum 30. Mai 2010 im Kunstverein Hannover zu sehen.