Landnahme vor 400 Jahren

Die Ankunft der Mayflower in Nordamerika

30:18 Minuten
Menschen schwenken US-Flaggen und Flaggen Großbritanniens bei der Einfahrt eines der Mayflower nachempfundenen Segelschiffes
Flaggenschwenken für einen nationalen Mythos: Ein Nachbau der Mayflower fährt in den Hafen von Plymouth ein. © picture alliance / AP Photo / David Goldman
Von Jürgen Kalwa · 11.11.2020
Audio herunterladen
Die Geschichten von der Mayflower und dem ersten Thanksgiving gehören zu den identitätsstiftenden historischen Mythen in den USA. Doch diese Legendenbildung ignorierte jahrhundertelang die Mitverantwortung der Siedler für den Tod vieler Ureinwohner.
Ein sonniger Herbsttag in Neuengland. Die Zeit im Jahr, in der die Natur die Wälder in viele verschiedene Rot- und Gelbtöne färbt – und in der Touristen gerne aufbrechen, um einen Ausflug in die Geschichte des Landes zu unternehmen. Attraktive Ziele gibt es viele.
Doch nur eines hat den Status eines regelrechten Wallfahrtsorts. Plymouth: Dort legte im Dezember vor 400 Jahren ein mächtiges Segelschiff an: die Mayflower.

Das Schiff ist eines der berühmtesten in der Geschichte der Seefahrt. Denn mit ihm und seinem blumigen Namen verbindet sich eine besondere Faszination. Es ist zum romantisierten Symbol für die Risiken und Abenteuer für all jene geworden, die damals über den Atlantik in das gelobte Land segelten.

Die Mayflower – längst Teil einer historischen Verklärung

Auch dieser Tage liegt im Hafen von Plymouth wieder eine Mayflower vor Anker. 32 Meter lang, knapp acht Meter breit, mit Masten, die neun Meter hoch in den Himmel ragen. Kein archäologischer Fund, sondern ein Nachbau. Oder besser: eine Nachempfindung, konstruiert im Stil jener Schiffe, wie sie Ende des 16. Jahrhunderts gebaut wurden. Denn über das Original ist nur wenig überliefert.

Das irritiert in Plymouth übrigens niemanden. Der imposante Dreimaster hat längst seinen ganz besonderen Platz inmitten der vielen kleinen Selbstinszenierungen der Stadt gefunden. Teil eines Versuchs, die Landung der Mayflower zur Stunde null der Chronik einer ganzen Nation zu verklären. Hier kamen sie schließlich an, die Gründungsväter der Vereinigten Staaten.

Das Schiff, das heute vor Plymouth ankert, heißt Mayflower II und wurde vor etwas mehr als 60 Jahren in England gebaut. Als es 1957 in See stach, um nach Amerika überführt zu werden, berichtete die britische Wochenschau in großem Stil über das Spektakel.
Blick auf ein Holzsegelschiff: ein Nachbau der Mayflower
Zwar nicht den Überlieferungen getreu gefertigt, aber trotzdem ein Touristenmagnet: die Mayflower II.© Deutschlandradio / Jürgen Kalwa
Der Nachbau sollte aussehen wie ein Schiff, das vor Hunderten von Jahren gebaut worden war. Warwicks Sohn Randal verriet später in einem Interview: "Warwick hat gesagt: Es muss so hergestellt werden wie im 17. Jahrhundert, mit denselben Werkzeugen."
Das Resultat überzeugt. Es ist Teil eines ganz besonderen Mythos geworden, sagt der Historiker und Literaturwissenschaftler Nathaniel Philbrick. Sein Buch "Mayflower: Aufbruch in die Neue Welt", das 2006 erschien, liefert bis heute den wohl gründlichsten Abriss der Ereignisse im Neuengland des 17. Jahrhunderts.

Umdeutung in einen leicht verdaulichen Mythos

In so gut wie allen Mythen steckt ein Kern Wahrheit. Aber was sie hauptsächlich bieten, ist die Umdeutung einer komplexen Welt in eine leicht verdauliche Erzählung. Schlicht genug, um sie Schulkindern zu vermitteln. Dramatisch genug, um sie in Hollywoodfilmen zu idealisieren. Und anheimelnd genug, um den Stoff neben dem anderen Historienkitsch in einem Walt-Disney-Vergnügungspark auf ein paar Strophen Ohrwurm zu reduzieren.
"Der Mythos hat seinen Ursprung in dem Gefühl, dass diese Menschen archetypische Pioniere waren: willensstarke Wegbereiter, die durch ihren bloßen Glauben und mit ihrer Charakterstärke die Wildnis einer neuer Welt besiegt und besiedelt haben."
Als der Mayflower-Nachbau zu verrotten begann, wurde das Schiff vor fünf Jahren zu einer Spezialwerft im Nachbarstaat Connecticut gebracht, wo eine aufwendige Restaurierung begann, die rechtzeitig zum 400-jährigen Jubiläum abgeschlossen werden konnte. Die "Mayflower II" kehrte im August an ihren angestammten Platz im Hafen von Plymouth zurück.
Bei der Heimreise war auch Cory Walker mit an Bord, der nun auf dem Schiff interessierte Besucher auf ihren Rundgängen begleitet und ihre Fragen beantwortet.

"Ich war nur einer der Deckshelfer. Eine Position ganz unten in der Hierarchie. Wir mussten die Segel und Leinen bedienen, jeden Tag die Decks schrubben und die Flaggen hochziehen. Wir haben viel gelernt, vor allem viele Begriffe aus der Fachsprache."

Calvinisten, Diener, Bauern

Es gibt eine Liste mit den Namen all jener, die damals vor 400 Jahren als Passagiere an Bord der Mayflower waren. Das Dokument befindet sich im Staatsarchiv von Massachusetts. Es nennt 102 Auswanderer. Auf der Überfahrt starb einer von ihnen, und es kam ein Kind auf die Welt.
Wie viele Matrosen zur Crew von Kapitän Christopher Jones gehörten, ist nicht bekannt. Historiker Nathaniel Philbrick schätzt, es waren wohl zwischen 20 und 30. Immerhin: Die Namen einiger Schiffsoffiziere wurden ebenfalls festgehalten.
Die Pilgerväter, die Calvinisten waren, hatten sich in ihrer Heimat England von der Staatskirche losgesagt. Um ihre Religion frei ausüben zu können, flohen sie ins holländische Exil. Während der Zeit in der Universitätsstadt Leiden fanden sie schließlich einen englischen Financier, der ihre Reise über den Atlantik ermöglichte. Diese Gruppe machte übrigens nur ein Drittel der Passagiere aus. Die Mehrheit der Mitfahrer bestand aus Dienern und Bauern, die man angeheuert hatte, um in der neuen Heimat so etwas wie eine planvolle Landwirtschaft auf die Beine zu stellen.

So sahen sich die Pilgerväter gezwungen, mit ihren Reisegefährten eine Vereinbarung zu schließen über die Regeln des Gemeinschaftslebens auf dem neuen Kontinent: So entstand kurz vor der Landung in Plymouth der sogenannte Mayflower-Vertrag.
Ein Solidaritätsgelöbnis, das zum Grundlagenpapier für ein neues demokratisches Politikverständnis wurde. Die 41 Unterzeichner – allesamt Männer – verpflichteten sich gegenseitig "feierlich und wechselseitig vor Gott und voreinander, uns gemeinsam in einer bürgerlich geordneten Gesellschaft zu vereinigen; mit dem Zweck, uns besser zu organisieren, zu schützen und die vorgenannten Ziele zu fördern; und vermöge hieraus solch gerechte und gleiche Gesetze, Verordnungen, Erlasse, Verfassungen und Ämter zu verabschieden, begründen und abzufassen, dies von Zeit zu Zeit, so wie es am angemessensten und günstigsten für das Gemeinwohl der Kolonie scheint: hierunter versprechen wir uns pflichtgemäß zu unterwerfen und zu gehorchen."
Die Mayflower II unter vollen Segeln.
Die Mayflower II unter vollen Segeln.© picture alliance / The Day / AP Photo / Sean D. Elliot

Die Pilgerväter und die kulturelle Identität

Trotz solcher Anstrengungen und Pioniertaten fanden die Pilgerväter von Plymouth mit den Berichten über ihre Erlebnisse zunächst kaum Widerhall im Rest der neuen Kolonien. Ihre Geschichte geriet über zwei Jahrhunderte lang in Vergessenheit: kein Wunder. Im 17. Jahrhundert wanderten Zehntausende aus Europa Richtung Amerika aus. Und so gut wie jeder, der ankam, hatte eine ähnliche Geschichte voller Gefahren und Abenteuer zu erzählen, weiß Tracy McKenzie, Historiker und Professor am Wheaton College in der Nähe von Chicago.
"Die relevanten Quellen waren bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht sehr weit in Amerika verbreitet. Erst zu dieser Zeit beginnt man, die Pilgerväter als Vorläufer der Staatsgründung zu betrachten. Ich sage meinen Studenten immer, dass wir solche historischen Momente gerne mit den unterschiedlichsten Bedeutungen und Deutungen aufladen. In Amerika vor allem immer dann, wenn wir mal wieder überprüfen, wer wir eigentlich sind und wofür wir stehen. Immer dann, wenn neue kulturelle Debatten aufbrechen, kehren wir auch zu den Pilgervätern zurück. Und typischerweise, so scheint mir, schreiben wir ihnen dann jeweils solche Werte zu, für die wir selbst gerade Werbung machen."

Und nicht immer geht es dabei um Detailtreue, wie Nathaniel Philbrick festgestellt hat, als er zum ersten Mal die Mayflower II besichtigte.
"Damit sich Besucher nicht den Kopf stoßen, erhielt die Nachbildung im Zwischendeck, auf dem sich die Auswanderer aufhielten, eine mehr als zwei Meter hohe Decke. In Wirklichkeit waren das weniger als 1,50 Meter gewesen. Das waren Abmessungen, die einem nicht gestatteten, aufrecht zu stehen. Als ich mir das ausgemalt habe, habe ich ein sehr konkretes Gefühl dafür entwickelt, was für ein Abenteuer das gewesen sein muss."

Detaillierte Aufzeichnungen von der Überfahrt

Ein Abenteuer, das im Vergleich zu anderen historisch bedeutenden Geschehnissen ziemlich detailliert in tagebuchartigen Aufzeichnungen und Erinnerungen festgehalten worden war, stieß anfangs nur in der Heimat England auf Interesse. So wie die erste Buchveröffentlichung 1622 in London, in der Edward Winslow, einer der Anführer der Pilgerväter, erste Informationen über die Überfahrt festgehalten hatte. Die Überfahrt musste bei einem Zwischenhalt an der Nordspitze von Cape Cod für einige Wochen unterbrochen werden.
"Am neunten November haben wir Land erspäht, das wir für Cape Cod hielten. Was sich im Nachhinein auch bewahrheitete. Der Anblick hat uns sehr getröstet. Vor allem, da wir ein so schönes Land sahen, das bis an den Rand des Meeres bewaldet war. Wir freuten uns und priesen Gott, dass er uns erneut die Gelegenheit gegeben hatte, Land zu sehen. Und so setzten wir unseren Kurs in südsüdwestlicher Richtung fort, mit der Absicht, zehn Meilen südlich des Capes zu einem Fluss zu gelangen. Aber in dieser Nacht blies uns der Wind entgegen. Und so drehten wir wieder um, zurück in die Bucht von Cape Cod. Dort sind wir am 11. November vor Anker gegangen, an einem guten Anlegeplatz und in einer angenehmen Bucht, die außer an der Einfahrt umrundet wird von etwa vier Meilen Land, das bis zum Ufer mit Eichen, Kiefern, Wacholder, Sassafras und anderem Süßholz bewachsen ist."

Edward Winslow ist der einzige aus der Gruppe der Mayflower, von dem ein Gemälde existiert, das Schlüsse auf sein Aussehen und seine Persönlichkeit zulässt. Die englische Publizistin Rebecca Fraser hat sich in ihrem Buch "The Mayflower Generation" mit den Auswanderern intensiv beschäftigt:
"In dem Bild sieht er wie ein sehr starker Mann aus. Ich glaube, Religion war ein unglaublicher Antrieb. Vielleicht eine Art von Adrenalin, das sie durch diese schrecklichen Erfahrungen trug. Die Reise selbst war ja schon besorgniserregend genug, auf einem knarrenden, sehr kleinen Schiff, das eigentlich dazu bestimmt war, um im Mittelmeer zu segeln. Und es wurde nicht lange nach seiner Rückkehr abgewrackt. Sie haben damals ein vergleichsweise bequemes Leben hinter sich gelassen und waren unglaublich mutig. Manche Leute sagen: Was sie angetrieben hat, war doch nur die Aussicht auf finanzielle Erträge. Ich denke, es war eine Mischung. So wie sie überquerten innerhalb eines Jahrzehnt rund 20.000 Puritaner den Atlantik von England nach Amerika. Der Glaube war es, der für sie zählte. Der gab ihnen wahrscheinlich diese Stärke, egal wie gebrechlich sie auch rein körperlich gewesen sein mögen. Sie waren unglaublich entschlossen."
Als 1622 das erste Buch erschien, lag bereits das Schlimmste hinter ihnen. Nicht nur die beschwerliche Überfahrt in quälend engen Räumlichkeiten unter Deck. Sondern vor allem auch der erste Winter nach der Ankunft in Neuengland, der dafür sorgte, dass die Hälfte von ihnen an Unterernährung und Entkräftung starb.
Immerhin hatte sich das Verhältnis zu der indigenen Bevölkerung eingespielt, auf die die Neuankömmlinge getroffen waren: die Angehörigen vom Stamm der Wampanoag, angeführt von ihrem Häuptling Massasoit. Sie gaben den Zugewanderten Ratschläge für den Anbau von Gemüse, wie man Bäumen ihren Pflanzensaft abzapft und in der Bucht am besten angelt.
Bild vom Pilgervater Edward Winslow
Der einzige Mayflower-Pilgervater, von dem ein Bild existiert: Edward Winslow.© picture alliance / The Print Collector / Heritage Images

Kein Thanksgiving-Feiertag bei den Pilgervätern

Das Ereignis im Herbst 1621, das heute gerne als das erste Thanksgiving – als erstes Erntedankfest – bezeichnet wird, lag da schon hinter ihnen. Damals trafen sich 53 Siedler drei Tage lang mit 90 Stammesangehörigen zum Essen. Auf dem Speiseplan: gebratenes Wild, Krustentiere und Fisch, Früchte und Kürbis.
Es vergingen allerdings rund 200 Jahre, ehe diese Episode zum Motiv für einen der bedeutendsten Feiertage im US-amerikanischen Kalender herangezogen und idealisiert wurde. Das, was William Bradford, einer der Siedler, in seinem Buch "History of Plymouth Plantation 1620-1647" geschildert hatte, klang bis dahin offensichtlich einfach zu profan.
"Als unsere Ernte eingebracht wurde, schickte unser Gouverneur vier Männer auf die Jagd, damit wir uns auf besondere Weise gemeinsam freuen konnten, nachdem wir die Früchte unserer Arbeit geerntet hatten. Die vier töteten an einem Tag so genug Geflügel für eine ganze Woche und für die gesamte Siedlung. Viele der Indianer kamen zu uns, unter anderem ihr großartiger König Massasoit, mit etwa 90 Männern, die wir drei Tage lang bewirteten. Und sie zogen zwischendurch aus und erlegten Wild, das sie zur Plantage brachten und unserem Gouverneur, dem Hauptmann und anderen überreichten. Und wenn es auch nicht immer so reichlich ist, wie es zu dieser Zeit bei uns war, so sind wir doch durch die Güte Gottes so gut versorgt, dass wir uns wünschten, wir könnten sie häufiger an unserem Überfluss teilhaben lassen."
Dass dieses Ereignis nicht das erste Thanksgiving war, sondern pure Mär und zwei Jahrhunderte später zu diesem Mythos stilisiert wurde, entlarvt der Historiker Tracy McKenzie in seinem 2013 erschienenen Buch "The First Thanksgiving". Wirklich schwierig war das nicht. Die Auswanderer sahen überhaupt keinen Grund, ihr Picknick mit den Ureinwohnern hochzustilisieren. Sie selbst lehnten aufgrund ihres puritanischen Denkens hohe christliche Feiertage ab und erließen 1659 sogar ein offizielles Weihnachtsverbot, das erst 20 Jahre später wieder aufgehoben wurde.
."Thanksgiving ist eine Idee aus dem späten 19. Jahrhundert. Fast jedes Bild, das wir von diesem Ereignis haben, stammt aus dem späten 19. Jahrhundert oder später. Zweieinhalb bis drei Jahrhunderte nach dem eigentlichen Ereignis."

Der puritanische Stammbaum als Auszeichnung

Die Initiative für den Feiertag ging von der Romanschriftstellerin und Journalistin Sarah Josepha Hale aus New Hampshire aus. Sie hatte Mitte des 19. Jahrhunderts einen Präsidenten nach dem anderen angeschrieben. Erst Abraham Lincoln gab nach, weil er einen solchen Tag während des Bürgerkriegs als einheitsstiftende Idee betrachtete. Doch an die Pilgerväter dachte damals noch niemand.
"Ich glaube, erst gegen Ende der Präsidentschaft von Herbert Hoover im frühen 20. Jahrhundert gibt es eine sehr verschleierte Anspielung auf die Pilgerväter. Danach nimmt Franklin Roosevelt erstmals darauf Bezug. Und als Dwight Eisenhower Präsident ist, redet er immer wieder von den Pilgervätern. Aber in den meisten Fällen dachten Menschen, die Thanksgiving feiern wollten, nicht an die Pilgerväter. Das fängt erst in den Dreißiger- und Vierzigerjahren an."

Rundum perfekt wurde dieser Gründungsmythos der USA, als sich vor etwas mehr als hundert Jahren eine Gruppe gründete, die damit kokettierte, dass sie die Nachfahren der Mayflower-Passagiere sind.
Der puritanische Stammbaum als Visitenkarte, die deklariert: Wir und unsere Familie waren zuerst da. Wir haben das Land erobert und die Grundlagen für die politische Ausgestaltung der Demokratie geschaffen. Wir sind der Grundstock. Wir sind das Ur-Gen.
Nachweisen können sie dies anhand von exakten Aufzeichnungen und Stammbaumlisten, die inzwischen von der New England Historic Genealogical Society in Boston verwaltet und aktualisiert werden. Das Archiv dieser Genealogischen Gesellschaft wurde vor einer Weile digitalisiert und ist gegen eine Gebühr per Internet zugänglich.
Sachwalter dieses Kults um das Erbe der Pilgerväter ist die General Society of Mayflower Descendants. Auch sie hat ihre Zentrale in Plymouth.

Fehlinformationen und Lügengeschichten

Geschätzt zehn Millionen US-Amerikaner sind theoretisch in der Lage, anhand von offiziellen Papieren ihre Abstammungslinie bis ins 17. Jahrhundert nachzuweisen. Zu ihnen gehören prominente Schauspieler wie Humphrey Bogart, Marilyn Monroe, Meryl Streep und Richard Gere. Auch Präsidenten wie Ulysses S. Grant, Franklin D. Roosevelt, sowie Vater und Sohn George Bush; oder Schriftsteller wie Ralph Waldo Emerson und Henry Wadsworth Longfellow; oder Menschen wie Sydney Biddle Barrows, die in den USA bekannt ist, weil sie einen Bestseller über ihre Erfahrungen im ältesten Gewerbe der Welt schrieb.
Ihre Vorfahren seien auf der Mayflower herübergekommen, erzählt sie, mütterlicherseits und väterlicherseits – und fügt ein paar klassische Fehlinformationen hinzu. Denn die Menschen, die in Plymouth landeten, waren weder die ersten Einwanderer auf dem nordamerikanischen Kontinent, noch waren sie in den Vereinigten Staaten angekommen. Die wurden erst 160 Jahre später gegründet.

Leiden der Nativ Americans bleibt unerzählt

Aber ungenaue Charakterisierungen, um nicht zu sagen Lügengeschichten, waren und sind typisch für den Umgang mit dieser Historie. Besonders im Unterricht in den Grundschulen, wie sich Paula Peters erinnert.
"Es war in Philadelphia in der zweiten Klasse. Die Lehrerin behandelte die Geschichte von Thanksgiving und erwähnte, dass es zu jener Zeit freundliche Indianer gab, die den Pilgervätern halfen, zu überleben. Und dann habe es eine Ernte gegeben, und alle hatten zusammen gefeiert. Einer meiner Klassenkameraden fragte, was denn aus den Indianern geworden sei. Und die Lehrerin antworte: Nun, leider sind sie alle gestorben. Ich habe aufgezeigt und gesagt: Nein, sind sie nicht. Ich bin hier, ich bin eine Wampanoag."
Auch Paula Peters verfügt als Nachfahrin von Männern wie Massasoit über einen Abstammungsnachweis. Doch ihre Seite der Geschichte führt noch immer ein Schattendasein im öffentlichen Bewusstsein. Peters gehört zu einer Gruppe von indigenen Aktivisten, die darum kämpfen, dass ihr Schicksal als misshandelte Minderheit nicht länger ignoriert wird.
"In der Nacherzählung der Geschichte der Mayflower und der Kolonie in Plymouth werden die Wampanoag massiv marginalisiert. Dabei ist dieser Teil so wichtig, insbesondere in Bezug auf das, was vor 1620 geschah. Gerade weil der Mythos von den verzweifelten Pilgervätern, die von den edlen Wilden gerettet wurden, und der Mythos vom fröhlichen Thanksgiving alles andere komplett zudeckt. So auch das, was 1605 passierte, als George Weymouth an der Küste von Maine landete und Ureinwohner als Sklaven einfing und nach Großbritannien brachte, wo sie hart arbeiten mussten oder in Kuriositätenkabinetten vorgeführt wurden, damit die reichen Kaufleute in England herausfinden konnten, wie die Menschen aussahen, die sie zu kolonisieren gedachten."

Eine weiße Version der Historie

Peters lebt auf Cape Cod, eine gute halbe Stunde von Plymouth entfernt und hat dort vor einigen Jahren als Übersetzerin im Museum gearbeitet. Sie ist die Tochter des ehemaligen Stammesführers der Mashpee Wampanoag, Russell Peters, der jahrelang um die offizielle Anerkennung als selbstständiger Stamm kämpfte. Der Status wurde ihnen 2007 gewährt.
Sie betreibt ihren eigenen Laden, wo sie Schmuck verkauft und als Journalistin arbeitet. Paula Peters hat sich im Laufe der Jahre zu einer kenntnisreichen Expertin der Kolonialgeschichte von Neuengland entwickelt und lässt keinen Zweifel daran, wie der Mayflower-Mythos von Anfang an in nur eine Richtung driftete:
"Es ging dem weißen Nordamerika, um eine weiße Version der Historie. In der kamen die Ureinwohner so gut wie gar nicht vor – oder wenn, dann nur als unbedeutende Nebendarsteller."

Das beste Beispiel ist John Smith, der englische Söldner und Abenteurer, der vor der Ankunft der Mayflower die englische Siedlung von Jamestown im heutigen Virginia mitbegründet hatte und der bei der Erkundung des Nordostens – den Küstenlandstrichen des heutigen Maine und Massachusetts – der Gegend den Namen Neuengland gegeben hatte.
"Im Jahr 1614 besuchte John Smith das Dorf Patuxet. Er hatte ein zweites Schiff in seiner Flotte unter dem Kommando von Thomas Hunt. John Smith betrieb mit den Einwohnern von Patuxet auf freundlicher Basis Handel und ließ Thomas Hunt zurück, damit dieser die Geschäfte fortführt. Statt aber den Handel weiterzubetreiben, lockte Hunt 20 einheimische Männer an Bord seines Schiffes, nahm sieben weitere bei einem Zwischenstopp gefangen und brachte sie nach Spanien, um sie als Sklaven zu verkaufen. Einer von ihnen wurde nach England gebracht und lebte in London bei einem Mann namens John Slaney. Dieser Mann hieß Squanto."
Squanto kehrte auf Umwegen fünf Jahre später als einziger in seine Heimat zurück. Was er vorfand, war ein von einer Epidemie massiv dezimiertes Dorf.
"Wir wissen nicht, um was für eine Krankheit es sich gehandelt hat. Aber es war eine Pandemie, so ähnlich wie das, was wir heute erleben. Man wurde plötzlich krank, bekam starkes Fieber, die Haut färbte sich gelb, man magerte ab, bekam Kopfschmerzen und starb. Hierhin kehrte Squanto 1619 zurück. Ein Jahr später trifft die Mayflower in Patuxet ein. Er ist also genau an dem Ort, wo sie ankommt. Squanto hatte Englisch gelernt und kann sich daher mit den Menschen verständigen. Wenn heute Menschen fragen würden, warum Squanto Englisch sprechen konnte, dann würden sie etwas über all die Schrecken erfahren, von denen ich Ihnen gerade erzählt habe."
Frauen halten sich trauernd im Arm: Indigene Gruppen kommen an Thanksgiving in Plymouth zu einem "Nationalen Trauertag" zusammen.
Indigene Gruppen kommen an Thanksgiving in Plymouth zu einem "Nationalen Trauertag" zusammen.© picture alliance / AP Photo / Chitose Suzuki

Thanksgiving – für indigene Bevölkerung ein Trauertag

Das nächste Kapitel in der Geschichte der Besiedlung im Nordosten des Landes war noch tragischer. Und es war exakt das, was den Historiker Nathaniel Philbrick dazu brachte, über die Mayflower zu schreiben. Er wollte den Mythos über die Gründerväter der USA entzaubern, der die historischen Entwicklungen in Neuengland im späteren Verlauf des 17. Jahrhunderts einfach ignorierte.

"In meinem Kopf war von Anfang an klar, dass ich die Geschichte der Pilgerväter mit dem verbinden wollte, was in der nächsten Generation geschah, als der sogenannte King Philip's War ausbrach. König Philip war der englische Name für den Wampanoag-Führer Metacomet, der die Nachfolge von Massasoit angetreten hatte. Dieser Krieg markierte den Zusammenbruch des Vertrauens und der Zusammenarbeit der ersten Generation. Die zweite und dritte Generation der Siedler begann damals, die Ureinwohner als Rivalen zu betrachten, wenn es um Land ging. Mit dieser Einstellung wurde ein Krieg unausweichlich. Es sollte niemanden überraschen, wenn er noch nie davon gehört hat. Es passt nicht in die Geschichte, die Amerikaner so lieben, mit dem ersten Thanksgiving und den Pilgervätern.
Dieser Krieg war pro Kopf tödlicher als der Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert, der ein schrecklicher Konflikt war. Für mich liegt die Bedeutung dieser Geschichte also nicht in den mythischen Fantasien, die wir in die Ursprungsgeschichte hineininterpretiert haben, sondern darin, was diese Ursprungsgeschichte widerspiegelt, wenn es um Amerikas Zukunft geht. Es ist wichtig, dass wir erkennen, was letztendlich die Folgen dieses Zusammenpralls der Völker waren und wie dieser Zusammenprall die Grundlage dafür legte, wie die Vereinigten Staaten Amerikas zu den Vereinigten Staaten von Amerika wurden, in all seinen positiven und negativen Ausprägungen."
Im Geiste dessen kommen Angehörige der indigenen Gruppen von Neuengland auch in diesem November an Thanksgiving in Plymouth zu einem "Nationalen Trauertag" zusammen.
Die Protestaktion wurde 1970 ins Leben gerufen und begeht deshalb in diesem Jahr ebenfalls ein Jubiläum: ihren 50. Jahrestag. Ein deutliches Kontrastprogramm zu den offiziellen Feierlichkeiten in der Stadt. Dennoch bemühen sich die Hüter des US-amerikanischen Kulturerbes diesmal um eine ausgewogenere Version der Geschichte als in all den Jahrzehnten zuvor. Paula Peters:
"Es gab ein wirkliches Interesse, die Beziehungen zu verbessern und auch die Art und Weise, wie die Wampanoags dargestellt werden. Die Verhältnisse sind ganz gewiss besser als 1970, als unseren Stammesführern gesagt wurde, sie sollten den Mund halten und sich trollen. Aber wir haben noch einen langen Weg vor uns und noch viel Arbeit, damit ein Gegengewicht zu dieser einseitigen Geschichte entsteht. An Thanksgiving kommen wir auf jeden Fall als Familie zusammen, so wie andere Familien im ganzen Land auch. Dieser Möglichkeit verschließen wir uns nicht. Aber wir tun es in dem Bewusstsein, dass wir sehr viele Opfer bringen mussten, um heute hier zu sein."

Literaturtipps:
Nathaniel Philbrick: "Mayflower: Aufbruch in die Neue Welt", Blessing 2006, 415 Seiten
Robert Tracy McKenzie: "The First Thanksgiving: What the Real Story Tells Us About Loving God and Learning from History", InterVarsity Press 2013, 219 Seiten

Rebecca Fraser: "The Mayflower Generation: The Winslow Family and the Fight for the New", Chatto & Windus 2017, 384 Seiten

Mehr zum Thema