Landkreis mit Sachsen-Anhalt und Thüringen

Macht Goslar rüber in den Osten?

Der kleine Konstantin steht am 22.01.2014 mit seinem Schlitten vor einer Schneekanone in Braunlage
Eine Schneekanone in Braunlage im Harz © picture alliance / ZB / Matthias Bein
Von Michael Frantzen · 23.01.2015
Wessi oder Ossi? Im niedersächsischen Landkreis Goslar fühlen sich viele einfach als Oberharzer. Über die Ideen, mit Kommunen ostdeutscher Nachbarländer einen Großkreis zu bilden oder Teil von Sachsen-Anhalt zu werden, empören sich aber die meisten.
Das wäre erst einmal geschafft. Sandra Unger schaut verstohlen auf ihr Handy. Es ist zehn vor zwölf. Werte und Normen sind nicht gerade ihr Lieblingsfach. Französisch schon eher. Das steht als nächstes auf dem Stundenplan. Nach der Mittagspause.
Schnellen Schrittes läuft die lebhafte 15-jährige über die Gänge des Oberharz Gymnasiums von Braunlage, der niedersächsischen 4500-Einwohner-Gemeinde im Kreis Goslar. Alles Routine. Wenn da nicht Sandras Hintergrund wäre: Sie kommt aus Tanne, einem verschlafenen Nest auf der anderen Seite der ehemaligen innerdeutschen Grenze.
"In unserer Klasse sind wir echt viele aus dem Osten. Wir sind mehr aus dem Osten als aus dem Westen. Wir sind 16 Leute. Und neun davon kommen aus dem Osten."
Seit mehr als zehn Jahren gehen Schüler aus dem Ost-Harz auf das Gymnasium in Braunlage. Für Sandra und Co bietet sich das an: Bis nach Wernigerode, die nächstgrößere Stadt in Sachsen-Anhalt, bräuchten sie mit dem Bus eine Stunde, nach Braunlage zehn Minuten.
"Hier könnt ich sogar die Tür offen haben. Hier klaut keiner."
West und Ost friedlich vereint – das spiegelt sich auch im Kollegium des Gymnasiums wider, einem gesichtslosen 80er-Jahre-Funktionsbau, wie es sie in Westdeutschland zu Hauf gibt. Vier Lehrer kommen aus dem Osten, sieben aus dem Westen, darunter Schulleiter Hans-Joachim Dampmann. Der aufgeschlossene Mittfünfziger lacht. Ossi?! Wessi?! Für ihn längst Nebensache. Oberharzer seien sie, meint er. Alle miteinander. Ergo waren die Schüler aus Sachsen-Anhalt von Anfang an Willkommen.
"Ein zweiter Grund war auch, dass wir ne Perspektive für unser Oberharz-Gymnasium brauchten. Und die Schülerzahlen waren damals so, dass man sagte: Na ja, es könnte eng werden. Aber der Hauptgrund war eigentlich immer der regionale. Dass wir versucht haben uns hier regional auszurichten – und das unabhängig von den Ländergrenzen."
Bürgermeister gilt als "Fürst der Finsternis"
Ohne die Schüler von drüben kein Gymnasium im Westen: Wer sich in Braunlage umschaut, weiß warum. 7000 Einwohner hatte der Skiort im Windschatten des Brockens einmal. Aber das war, bevor die Mauer fiel und mit ihr die Zonenrandförderung. Geschlossene Läden; zu Verkaufen-Schilder; Rüschengardinen, hinter denen längst niemand mehr hervorlugt: Seit Jahren müssen Schulleiter Dampmann und die anderen mitansehen, wie sich das Leben aus Braunlage Stück für Stück verabschiedet. Weniger Bevölkerung gleich weniger Schüler: Für das Oberharz Gymnasium ist die Länderübergreifende Kooperation ein Rettungsanker.
"Wir haben zum Beispiel jetzt vom Landkreis Goslar mehrerer solcher Kooperationen; wir dort zum Beispiel das Landschulheim Gröwesmühle, das in Sachsen-Anhalt, bei Wernigerode, liegt...das wird von vielen Schülern des Landkreises Goslar besucht."
Der Westen ist auf den Osten angewiesen: 25 Jahre nach der Wiedervereinigung hat sich das Kräfteverhältnis umgekehrt – zumindest im Harz, dem vielleicht deutschesten aller deutschen Mittelgebirge. Das ist neu. Und für den einen oder anderen Wessi gewöhnungsbedürftig. Oliver Junk kann davon ein Lied singen. Der Oberbürgermeister der Kreisstadt Goslar hat sich vor ziemlich genau einem Jahr in die Nesseln gesetzt – mit seiner Idee, aus dem Harz eine Einheit zu machen. Länderübergreifend, nach dem Motto: Aus drei mach eins. Ein Großkreis Harz, bestehend aus den Kreisen Goslar und Nordhausen, sprich Niedersachsen und Thüringen, sowie Teilen des bereits existierenden Harz-Kreises, sprich Sachsen-Anhalt.
"Die demographischen Entwicklungen; die wirtschaftlichen Entwicklungen; die strukturellen Probleme – die sind sowohl im Süd-Harz als auch im Ost-Harz als auch im West-Harz dieselben. Und diese Herausforderung, die wir alle haben, die lösen wir doch besser, wenn wir das gemeinsam tun."
Findet der CDU-Mann, der sich seit seinem Amtsantritt 2011 einen Namen gemacht hat als Querdenker – nicht nur in Punkto Kreisreform. "Fürst der Finsternis" nennen ihn seine Kritiker; seitdem der Enddreißiger dafür sorgte, dass in der Weltkulturerbe-Stadt ab Mitternacht die Lichter ausgehen – nicht nur die sprichwörtlichen. Die Laternen werden über Nacht abgeschaltet. Kostenersparnis: 100.000 Euro im Jahr. Gut für den überschuldeten Stadtaushalt; weniger gut für das Wohlbefinden manch eines Goslarers. Kam nicht so gut an. Genauso wenig wie Junks Vorschlag, Goslar könne mehr Flüchtlinge aufnehmen als gesetzlich vorgeschrieben. Dazu muss man wissen: In Goslar stehen viele Wohnungen und Hotels leer. So ein Zuzug brächte Geld in die Stadt - und kluge Köpfe noch dazu. Findet der Oberbürgermeister. Auch damit hat er sich keinen Blumentopf verdient.
"Der Harzer ist ja nicht so einfach."
Ein ostdeutscher Harz – unvorstellbar
Junk lächelt gequält. Auch bei der Kreisreform beißt der 1.90-Meter-Mann auf Granit – allein schon wegen der Sache mit der Länderzugehörigkeit. Ein Großkreis Harz – gab er bis vor kurzem noch zu Protokoll – könne zur Not auch zu Sachsen-Anhalt gehen. Das hätte er mal besser lassen sollen. Die halbe Stadt war in Aufruhr, allen voran Thomas Brych, der Landrat des Kreises Goslar. Ein ostdeutscher Harz – unvorstellbar.
"Nicht, dass ich den Süden Niedersachsens nach Sachsen-Anhalt Ablösefrei geben möchte."
Rudert Oliver Junk inzwischen zurück. Goslars Querdenker Nummer Eins strafft im Amtszimmer des Verwaltungsgebäudes - eines hässlichen Betonbunkers mitten in der Altstadt - den Rücken. Was heißt schon zurückrudern?! Sein wichtigstes Ziel hat er doch erreicht: In Goslar reden sie über die Zukunft des Landkreises. Endlich. Junk stöhnt leise. Sind ja auch düster - die Aussichten. Der Kreis Goslar ist vor allem zweierlei: Verschuldet und zu klein. Weniger als 140.000 Einwohner leben in der Gegend zwischen Goslar und dem Wurmberg, kurz nach der Wende waren es noch über 160.000. So wie Braunlage, dem Skiort, geht es vielen Städten hier: Sie schrumpfen. Mit jedem Menschen aber, der stirbt oder wegzieht, geht nicht nur Kaufkraft verloren: Der Kreis bekommt auch knapp tausend Euro weniger aus dem kommunalen Finanzausgleich.
"Eine strukturell schwache Region bedeutet auch immer, dass von der Stadt Goslar als Kreisstadt, als starkes Mittelzentrum, natürlich auch über Kreisumlage Kraft letztendlich verloren geht für die Region. Und deshalb bin ich natürlich daran interessiert, dass die Region insgesamt stark ist. Dazu gehört aus meiner Sicht auch ein Überdenken der Verwaltungsstrukturen."
Junks Vorschlag kommt nicht von ungefähr: Die Zeit drängt. In Niedersachsen steht eine Kreisreform ins Haus. Den Landkreis Goslar hat das kalt erwischt: Bis auf Salzgitter haben sich die Nachbarkreise längst andere Partner gesucht; attraktivere. Osterode will lieber zum Kreis Göttingen, Wolfenbüttel zu Helmstedt. Deshalb Junks Idee einer Länderübergreifenden Fusion; deshalb auch seine Einladungen an die Harzer Amtskollegen - zur "Utopie zum Frühstück".
"Die Kommunikation über die Ländergrenze hinweg ist nicht sehr stark ausgebaut. Im Grunde nur beim Thema Tourismus. Schon all das, was ursprünglich im Regionalverband Harz angedacht war, also auch eine stärkere kulturelle Vernetzung, Zusammenarbeit auch im Bereich Naturschutz und Denkmalschutz, hat sich nicht positiv entwickelt in den letzten zwanzig Jahren."
Gestärktes Selbstbewusstsein im Osten
Luftlinie gut fünfzig Kilometer entfernt von Goslar verzieht Martin Skiebe im Sachsen-anhaltinischen Halberstadt unmerklich das Gesicht. Kurz nur, dann hat sich der Landrat des Harzkreises wieder gefangen. Mit Utopien hat es der SPD-Mann nicht so. Das klingt irgendwie nach Visionen. Und wenn man die hat, wusste schon SPD-Übervater Helmut Schmidt, sollte man schleunigst zum Arzt gehen. Der olle Schmidt habe meist Recht gehabt, meint der Mann mit dem Schnäuzer lapidar. Zu Junks erstem utopischen Frühstück letzten März war Skiebe verhindert. Aus Termingründen.
"Ich hab auch, das geb ich ehrlich zu, am Anfang ne gewisse Skepsis gehabt. Ich bin wirklich der Überzeugung, dass es sehr viel besser ist, konkret über Projekte zu sprechen, die gemeinsam zu verabreden und umzusetzen als immer nur über Verwaltungsgrenzen zu sprechen. Priorität sollen Inhalte haben, die man gemeinsam voranbringt."
Ist ja auch nicht so, als ob sie im Ober-Harz gänzlich untätig gewesen wären – bei den Inhalten: Verkehrs-Infrastruktur; Bildung, Wirtschaft: Dazu gibt es seit neustem länderübergreifende Arbeitsgruppen. Und erste, wenn auch kleine Erfolge: So werben die Landreise Harz und Goslar unter dem Motto "CleverHarz" gemeinsam im Netz um Fachkräfte. Man trifft sich. Ost und West. Nicht nur virtuell, sondern auch im echten Leben. Inzwischen sogar die Herren Skiebe und Junk. Ob auf Augenhöhe, steht auf einem anderen Blatt. Anders als der Nachbarkreis im Westen ist Skiebes Landkreis mit seinen 235.000 Einwohnern nach zwei Gebietsreformen groß genug, um sich in den kommenden Jahren dem befürchteten Bevölkerungsrückgang entgegenzustemmen. Das stärkt das Selbstbewusstsein. Im Osten.
"Wir sind ein großer Landkreis. Wenn jetzt jemand für sich die Entscheidung treffen sollte, sich uns anzuschließen, werden wir niemanden die Tür vor der Nase zuschlagen. Und wenn jetzt tatsächlich die Menschen zum Beispiel im Landkreis Goslar für sich erkennen, dass sie zum Landkreis Harz kommen wollen, dann werden wir über alle Punkte sprechen können."
Wiedervereinigung einmal andersrum: Fürs erste dürfte es eine Utopie bleiben. Schließlich müssten die betroffenen Landesregierungen solch einer Länderübergreifenden Fusion zustimmen. Aus Hannover heißt es dazu nur: Mit uns nicht. Der gelobte Osten – für die Goslarer wird er weiterhin wohl unerreichbar bleiben.
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