Landkarten der Information

Von Dirk Asendorpf · 19.07.2006
Wer einen Weg durch die reale Welt sucht, kann auf Stadtplan und Autoatlas zurückgreifen. Wer dagegen im Internet etwas finden will, ist auf möglichst genau formulierte Suchbegriffe angewiesen. Für Textinformationen funktioniert das recht gut. Bilder, Musik und anderer Multimediainhalt lässt sich so jedoch nur schwer aufstöbern. Hier könnten - wie im echten Leben - Karten weiterhelfen. So genannte Cybergeografen haben Verfahren entwickelt, mit denen sich auf anschauliche Weise Wege durch den Informationsdschungel des Internet zeigen lassen.
Töne aus den Tiefen des Internet, eingefangen und komponiert von Atau Tanaka. Geboren in Japan und aufgewachsen in den USA, wohnt der Musiker heute überwiegend in Paris. Doch seine künstlerische Heimat ist der virtuelle Raum.

"Das Internet ist ein völlig verteilter Raum. Wir können nicht mehr davon sprechen, dass es hier eine Bühne gibt und dort einen Zuschauersaal. Im Internet wird der Raum eingeebnet."

Das Internet - ein aufgelöster Raum, eine einzige weite Ebene? Wer es sieht wie der Weltbürger Atau Tanaka kann leicht die Orientierung verlieren. Doch die meisten von uns haben sich bereits ein ganz anderes Bild des World Wide Web gemacht.

"Wir haben Homepages, wir haben Mailboxes, wir haben Cybercities oder digitale Städte, wir haben das globale Dorf oder die Cyber-Autobahn. Räumliche Begriffe sind ganz häufig mit dem Internet verbunden. Und wir glauben, dass die Menschen das tun, weil sie räumlich denkende Wesen sind. Irgendwann in grauer Vorzeit haben wir es gebraucht, Informationen an Orten zu sammeln oder mit Orten zu assoziieren. Und wenn wir das gleiche Prinzip auf diese komplexe Struktur des Internet anwenden, ist das offensichtlich sehr hilfreich."

Klaus Greve ist Geographie-Professor an der Universität Bonn. Die Karten, mit denen er es normalerweise zu tun hat, weisen uns den Weg zur Tante nach Köln, zur Messe nach Hannover oder an den Strand von Usedom. Auf ganz ähnliche Weise, davon ist er überzeugt, könnten wir uns auch im Informationsdschungel der virtuellen Welt Orientierung verschaffen. Voraussetzung dafür ist ein neues Maß für Nähe und Entfernung.

"Das könnte z.B. sein: Wie viele Klicks brauche ich, um von meiner Homepage zur Homepage des Kollegen zu kommen, und wie viele Kollegen liegen dazwischen, die uns verbinden. Oder: Wie viele Klicks brauche ich, um von meinem Hauptarbeits-Thema zu dem Hauptarbeits-Thema eines ganz anderen Kollegen zu kommen. Daraus könnte man Nähe und Ferne entweder von Kollegen untereinander in ihren Arbeitsbeziehungen messen oder auch Nähe und Ferne von Themen messen und feststellen. Wenn man das hat, stopft man diese Daten so, als wenn es Landschaftsdaten wären, mit denen wir sonst auch arbeiten, in ein geographisches Informationssystem. Das produziert daraus eine Karte."

Und die zeigt zum Beispiel, wie sehr Informationen zum Thema Wetter über das gesamte Internet verstreut sind. Gleichzeitig kann eine solche Karte aber auch auf den ersten Blick zeigen, auf welchen Websites die aktuellsten Informationen über Wirbelstürme konzentriert sind.

"Wenn man sich ansieht: Wie viel gibt es eigentlich zu einem Thema an Information, dann entsteht über dieser Karte auf einmal ein Gebirge. Und wenn man dann in einem weiteren Schritt sich anschaut, wie verändert sich denn dieses Gebirge in der Zeit, dann ist das für einen Geographen natürlich eigentlich ein sehr alltägliches Phänomen. Nur, er schaut sich nicht die Natur an, sondern schaut sich an: Wer produziert etwas oder denkt etwas zu einem bestimmten Thema und kann auf einmal Erosions- oder Wachstumsprozesse von Themen feststellen."

Hunderte solcher Karten hat die junge Zunft der so genannten Cybergeographie in den letzten Jahren über die Informationsvielfalt des Internet erstellt. Auf den ersten Blick ist darauf manchmal nur ein Gewirr bunter Linien oder abstrakter Formen zu erkennen. Doch bei genauerem Hinsehen werden viele Aspekte der virtuellen Welt plötzlich anschaulich. Weiße Flecken machen zum Beispiel klar, dass große Teile des Internet aus militärischen Sperrgebieten und anderen öffentlich unzugänglichen Bereichen bestehen.

Die Hauptachsen des Datenverkehrs illustrieren die digitale Spaltung der Welt: dicke Stränge verbinden Nordamerika, Europa und Ostasien. Afrika und große Teile Lateinamerikas sind abgehängt.

Eine andere Karte beweist dagegen, dass das Internet auch über Afrika eine gewaltige Menge an Informationen zu bieten hat. Man findet sie allerdings nicht auf afrikanischen Servern, sondern in den Datenbanken amerikanischer Universitätsinstitute. Der Ire Robert Kitchin hat den ersten Atlas der Cybergeographie herausgegeben.

"Wenn die Daten von verschiedenen Leuten aufbereitet werden, dann entstehen dabei sehr unterschiedliche Landschaften. Das ist auch gut so. Mit unserem Atlas zeigen wir, dass es nicht die eine richtige Karte des Cyberspace gibt. Schon für das Erstellen solcher Karten gibt es zwei verschiedene Gründe. Einerseits geht es darum, das Internet zu verstehen. Welche gesellschaftlichen Auswirkungen hat es in der Wirtschaft, der Politik, der Kultur? Andererseits dienen die Karten der Navigation. Sie zeigen uns einen Weg zu den Inhalten, und helfen uns, aus dem Informationsdschungel auch wieder heraus zu finden."

Wer bisher etwas im Internet sucht, ist auf eine der großen Suchmaschine angewiesen. Spitzenreiter Google zählt jeden Tag über 200 Millionen Anfragen. Doch aus den bald fünf Milliarden öffentlich zugänglichen Websites kann er nur diejenigen herausfischen, deren Text die Suchbegriffe enthält. Bei Fotos, Videos und Audiomaterial versagt diese so genannte Volltextsuche. Die Cybergeographie kann den richtigen Weg dagegen auch ohne Sprache weisen. Noch steht die junge Disziplin ganz am Anfang, entsprechend hässlich sind viele der Karten, die sie bisher zu bieten hat.

"Was wir hier im Moment auf dem Bildschirm sehen - so mit knalligem Rot und knalligem Blau und knalligem Orange und Grün dazu in einem - das ist nicht ästhetisch. Das muss man einfach sagen. Und die Perspektiven stimmen auch nicht richtig. Aber das heißt nicht, dass man es nicht besser machen kann."