LandGang
„Ei gugge mal – ne Mühle!“ Den lauten Ruf hörten wir schon oft. Und wir fuhren jedes Mal auf: aha, die Touristen kommen, die Saison hat begonnen. Die Vertreter jenes Stammes sind in Mecklenburg-Vorpommern besonders oft zu hören – sie sprechen lauter als andere und tauchen auch zahlreicher auf, tummeln sich scharenweise in der „Badewanne von Berlin“.
Und so galt – natürlich nur früher – der Spruch: „Die Schweine raus, die Sachsen kommen.“ Nun, was die oft bestaunte Mühle angeht, sie war nie eine richtige Mühle, sondern wurde erst nach der Wende errichtet. Und der für den Müller gehalten wird und in der Mühle eine Gaststätte betreibt, der war mal … aber das erzählen wir hier lieber nicht. Ja, ja, wer übers Land geht, der erfährt so manch schöne Geschichte.
„Was ist ein abgelegener Ort im allgemeinen Verstand“, fragte uns alle der alte Lichtenberg 1793, als er – nicht ganz folgenlos – die Einrichtung großer öffentlicher Seebäder auch in Deutschland empfahl. Die Ostseeküste schlug er fürs erste aus, doch justament dort – im drauffolgenden Anno 1794 – öffnete am Heiligen Damm das erste deutsche Seebad. Jetzt, da die Kanzlerin, eine gebürtige Hamburgerin, dorthin geladen hat, ist uns klar: Heiligendamm ist mitnichten „ein abgelegener Ort im allgemeinen Verstand“, sondern Zonenrandgebiet, Sonderzonenrandgebiet. Obwohl … nun ja …
Geheim – Letzte Nachrichten aus Heiligenbimmbamm
Von Claus Stephan Rehfeld
Der Anblick der Meereswogen, das „Rollen ihres Donners“ verzückte den ollen Lichtenberg, weil da zu bloßem „Waschbeckentumult“ der „hochgepriesene Rheinfall“ verkümmere. Er schrieb den Rheinfall mit h, wir schreiben ihn heute. Damals forderte Lichtenberg: „Man muss kommen und sehen und hören.“ Nun, Heiligenbimmbamm heutzutage bietet Ausnahmezustand, Stacheldraht, Sonderausweise, Phantom-Jäger und Bundesmarine … und ganz secrete Nachrichten.
Secret, sehr Secret. +++ Empfehle dringend Verlegung des Gipfels, hier nur Flachland + Einwohnerin G. glaubte erst, Zaun habe irgendwas mit Wild zu tun, jetzt glaubt sie an die Mauer + MV-Minister S. erklärte Gipfel zur Bugwelle, in der wir Fische fangen; Fischer üben nun Fischfang in der Bugwelle + Bad in der Menge für Politiker nicht, wiederhole: nicht möglich, Badebetrieb und Spaziergänge wurden untersagt +++
Sicherheitsmaßnahmen unzureichend, Zaun nicht durch Zaun geschützt + Bannmeile soll Zaun schützen, empfehle Schutz der Bannmeile ebenfalls durch Zaun + Einwohner ebenfalls ungeschützt, gibt im Ort nicht mal mehr Sonnencreme zu kaufen + Sogar Tiere haben laut Forstamtsleiter R. das Gefühl: Aha, hier will man uns nicht +++
Werbung um Investoren mit Behauptung Wir sind die Mitte Europas verpufft, Kritiker zeigen mit Finger erst zur Stirn, dann auf den Atlas +++
Patriotismus Mangelware, Hiesige horten Kaffee und Dosenwurst + Besitzer der Pension H. will während Gipfel Salat einschleusen – Wer ist „Salat“? + Bauunternehmer B. hat Postenweg am Zaun betoniert und will Gipfelgegnern Zeltplatz planieren +++
Gipfel schlägt hohe Wellen, Zaun aber wasserdurchlässig + Zeitungen auch nicht dicht, melden, US-Kriegsschiffe richten das eine oder andere Bullauge auf Heiligendamm – welche Wirkung hat Bullauge? + Landeskriminalamt hat Pension H. gemietet, LKAler haben sich Besitzer als anständige Leute vorgestellt + Quartier anderer Geheimdienste unbekannt, entnehme regionaler Postille, sie sind schon hier +++
Alle wollen hinter den Zaun, auch die anderen Ortschaften + Erste Platzverweise rund um Heiligendamm unzureichend + Empfehle Evakuierung sämtlicher Bürger, bisherige Ausweisungskriterien anwendbar + Wer kam auf diese Idee, Gipfel im Flachland zu errichten? +++
Wenn Evakuierung Eingeborener entfällt, dann Verlegung des Gipfels in Knast, äh, JVA Bützow sinnvoll + CDU-Justizministerin K. hat Knast vorsorglich geräumt und … freigemacht + CDU-Innenminister C. sorgt sich um Schnellgerichte und mobile Gefangenensammelstellen + Richter vor Ort mit Haftbefehlen zur Hand, Kurzprozesse zugesagt + Für Politiker also gesorgt + Achtung, muss abbrechen +++
Entlarvt – Die Gefahr kommt aus dem Osten
Von Karl Lotz
„Die ganze Küste der Ostsee ist mir unbekannt, und ich für mein Teil würde sie dazu nicht wählen, solange nur noch ein Fleckchen an der Nordsee übrig wäre, das dazu taugte …“ Nun, der Gipfel findet trotz Lichtenbergs wohlfeilem Rat dennoch an der Ostsee statt. Die Kanzlerin zog es partout dorthin. Und die rote Gefahr schert sich ebenfalls einen Dreck um den Fingerzeig des Weisen. Sie naht, unaufhörlich, heißt aber nicht Wladimir! „Kamele trampeln nach Heiligendamm“ – kabelte uns der Berichterstatter. Als wir das Fragezeichen am Ende des Satzes erspäht hatten, atmeten wir erleichtert auf. Nein, die Teilnehmer des G8-Gipfels meinte er also nicht. Aber was dann?
Der Rhynchophorus Ferrugineus, allseits bekannt als Roter Palmrüsselkäfer.
Der Rote Palmen Rüsselkäfer.
Er ist schon da, die Palmen noch nicht.
Der Feind ist rot, rückt von Osten vor und hinterlässt gebrochene Existenzen. Das rüsselbewährte Insekt frisst sich unsichtbar durch die Palmenhaine der Welt. Aber nicht unhörbar, denn Benedikt von Laar hat den Großen Lauschangriff gestartet.
„Sie müssen Immer schön hinter mir herlaufen.“
Dies taten wir auch schon so – wegen der Kreutzotter, der Blindschleiche, wegen des Ameisenlöwen und wegen der großen grünen Echse da im Gestrüpp.
„Das ist der Grund, warum wie hier sind.“
In Mecklenburg. Wegen des Roten Palmen Rüsselkäfers. Jedenfalls auch.
Der Kornkäfer. Nur zwei Millimeter groß, aber ein böser Schädling.
Der Hausbock, auch böse, also gefräßig.
Den kennen wir schon, den Roten Palmen Rüsselkäfer. Und Benedikt von Laar, findiger Bioakustiker, erklärter Feind der gefräßigen Schädlinge und kein Freund der Chemieindustrie.
„Das Wichtigste bei dem Käfer ist die Aufklärung. Es ist im Prinzip das, was andere Herrschaften auch machen. Aber mal Spaß beiseite. Das Wichtigste ist die Information, die Erfassung von Informationen, dann die entsprechende Bewertung der Informationen: Wo ist der Ausbreitungsschwerpunkt? Und nicht dem Käfer hinterher arbeitet!“
Kurzum: Schädlingsbekämpfung ohne chemische Keule.
„Und das dann halt auch im Prinzip die Regierungen entsprechend handeln und den Betroffenen helfen. Ansonsten sieht es übel aus.“
Muss es aber nicht. Das Schlapphut-Rezept reicht aus: Gegner ausmachen, isolieren, vernichten. 007 nickt, Benedikt von Laar ebenfalls. Statt großflächiger Chemiesprühe schlicht und direkt akustische Ortung am befallenen Objekt … und weg ist der Schädling.
Hören Sie: kein Roter Palmen Rüsselkäfer, nur Landschaft.
Das ist die gute Nachricht. Aber da wir ohne die schlechte Nachricht nicht auskommen, hier also die besonders für den Mecklenburger Ossi: Es ist erwiesen, dass der rote Palmrüsselkäfer auch auf Ananas scharf ist und – noch schlimmer, viel, viel schlimmer: er frisst Bananen.
Original – Das Ostseewellen-Lied
Von Claus Stephan Rehfeld
„Die Betrachtung, dass die Welt, die jetzt hier meinen Fuß benetzt, ununterbrochen mit der zusammenhängt, die Otaheiti und China bespült“, mag Johann Chr. Lichtenberg geholfen haben. Vielleicht hilft sie auch Angie und George, wenn sie ihren Fuß reinhalten und das Gespräch so dahinplätschert, klimamäßig gesehen. Nun, wie sehr diese Welt zusammenhängt, dies lehrte uns schon vor langer Zeit ein kleines, aber bekanntes Lied. In Amerika wird es gesungen, in Afrika, an der Nordseeküste, aber vor allem dort, wo es tatsächlich herkommt – in Vorpommern: das Original „Mine Heimat“.
Hier ist es zwar nicht entstanden.
Aber die Gegend hier besingt es. Mine Heimat.
Und irgendwie ist es doch hier entstanden.
Hier, zwischen Barth und Zingst.
Die Kurzfassung ist schnell erzählt:
Eine gebürtige Bartherin zieht nach Zingst, heiratet dann nach Berlin, wo sie Heimatweh hat und ein Gedicht schreibt, welches ein Flensburger Glasergeselle auf seiner Wanderschaft nach Zürich bringt, wo er es kurz vor seinem Tod einem gebürtigen Thüringer gibt, der es vertont und es 14 Tage später mit dem Zürcher Arbeiter-Männergesangverein am Grabe des Flensburgers welturaufführt.
Vielleicht erklärt die Odyssee schon einiges über seine Verbreitung heute. Aber es erzählt wenig über Martha Müller-Grählert.
Am 20. Dezember 1876 wird sie als Johanna Daatz in Barth geboren. Drei Jahre später heiratet ihre ledige Mutter den Zingster Müllermeister Friedrich Grählert. Der gibt der kleinen Johanna zum neuen Familiennamen auch einen neuen Vornamen: Martha.
Schon früh schreibt sie plattdeutsche Verse. Eine Heimatdichterin.
1907 erscheinen in Berlin die „Schelmenstücke“ von Martha Müller-Grählert – mit dem Erstdruck des Gedichts „Mine Heimat“. Dort heißt es noch in der letzten Strophe „Sehnsucht na dat lütte, kahle Inselland“. Die heutige Fassung besingt die „Sehnsucht na dat lütte, stille Inselland“. Die 1908 in der Zeitschrift für Humor und Kunst Meggendorfer Blätter veröffentlichte Fassung – sekundiert von einem großen Strandbild – macht das Lied einem größeren Leserkreis bekannt.
1910, in Zürich, wird der Text von Simon Krannig vertont. Er braucht eine halbe Stunde dafür. Das Lied schlägt Wellen, setzt sich an der deutschen Nordseeküste durch.
Mit einer zum Walzer zersungenen Melodie wird es an der Nordseeküste zum Heimathit. Auf den Ostfriesischen Inseln fasst es mit den Nordseewellen Fuß.
Der Soltauer Verleger Fischer-Friesenhausen macht dann als erster das große Geld damit. Er lässt Lied-Varianten auf Postkarten drucken, Noten für Akkordeon, Klavier und Orchester.
Martha Müller-Grählert weiß lange nichts davon. Die Dichterin geht leer aus. Erst 1936 erhalten sie und Krannig die Urheberrechte zugesprochen. Nach langen Jahren des Prozessierens und zu spät für Müller-Grählert. Die Ehe ist vor Jahren zerbrochen, sie lebt schon lange in wirtschaftlicher Not. Leseabende und Vortragsreisen bessern die Lage nicht wesentlich.
Einsam, arm und fast völlig erblindet stirbt sie am 19. November 1939. Auf dem Grabkreuz in Zingst steht der Vers: „Hier is mine Heimat / hier bün ick to Hus.“
Martha Müller-Grählert. In ein Buch hatte sie die Widmung geschrieben:
„Ein kleiner Sperling bin ich nur,
meine Kunst ist sehr begrenzt –
doch es muß auch Sperlinge geben.“
Sturmflut – ein Bericht zum 13. November 1872
Von Claus Stephan Rehfeld
Das „unbeschreiblich große Schauspiel der Ebbe und Flut“ könne an der Ostsee „nicht in der Majestät beobachtet werden …, in welcher es sich an der Nordsee zeigt.“ Als Lichtenberg dies 1793 notierte, hatte er zweifellos Recht und möglicherweise die große Sturmflut von 1362 vor Augen, die Rungholt ins Meer riss. Doch auch die Ostsee kennt Sturmfluten. Jene, an die nun erinnert werden soll, war nicht die erste, aber sie war die heftigste Sturmflut, die das Prerower Kirchenbuch vermerkt.
„1872 am 13. November – größte Sturmflut, denn es sind Menschenleben zu beklagen.“
Das Vorspiel dauerte Wochen.
„Stürmische Westwinde hatten den ganzen Oktober hindurch getobt und mit ungeheurer Wucht die Wassermassen aus der Nordsee in die Ostsee gedrängt ...“
Anfang November drehen die Stürme von Südwest auf West und Nordwest.
„Sie erzeugten in dem westlichen Teile der Ostsee eine Art Ebbe und stauten das Wasser in den östlichen Gebieten auf.“
Am 8. November drängen neue Wassermassen in die Ostsee. Die Wanne ist bis zum Rand voll.
„Am Sonntag, dem 10. November, begann es mit einer unheilverkündenden Stille.“
Aus dem östlichen Teil der Ostsee fluten aufgestaute Wassermassen zurück.
„Am 10. November ging der Wind über Norden nach Nordosten um, wehte erst mäßig, wurde dann immer stärker und steigerte sich am 12. November ... zum Orkan.“
In der Nacht vom 12. zum 13. November 1872 vereinen sich Wind und Wasser.
„Am 13. November brach es herein.“
Zwischen Mitternacht und Sonnenaufgang. Deiche brechen, Dünen reißen weg. Der Orkan tobt, die See schäumt.
„Wie ein reißender Strom stürzte es zwischen die Häuser, sie bald von allen Seiten umspülend.“
Die Wassermassen verschaffen sich mit Gewalt Eingang in Häuser und Ställe. Mensch und Getier flüchten auf Anhöhen, anderen bleibt nur der Dachboden. Die Familie von Tischler Lampe rettet aber auch der Dachboden nicht mehr.
„Das ganze Haus wurde auseinander gerissen, die Insassen kamen dabei ums Leben, Mann, Frau und 3 Kinder von 1 bis 11 Jahren.“
Fischland, Darß, Zingst – Land unter. Häuser, Möbel und Hausrat sind ein Spielzeug der Sturmflut. Dächer.
" ... wurde das Dach von Wind und Wellen losgerissen und trieb mit den Leuten, die sich noch hinauf retten konnten, davon.“
Schränke werden zu Rettungsbooten. In einer Wiege treibt die sechs Monate alte Mary Drewelow auf den Wellen. Sie überlebt. Drei sturmerprobte Seemänner nicht.
„... die mit ihrem Schiffe, einem Dreimastschoner, auf den Dünen strandeten und vom Maste erschlagen wurden.“
13. November 1872. Nachmittag Der Wind flaut ab, das Meer lässt ab. Tote, massenhaft Tierkadaver, zerstörte Häuser und Schiffe. Das Salzwasser hat Brunnen und Ackerland verdorben.
Eisiger Wind und Schneetreiben erschweren die Rettungsarbeiten.
„Am 14. kam das Wasser wieder, erreichte aber nicht mehr solche Höhe.“
Die große Sturmflut 1872 hat ein Nachspiel. Zwei Jahre später, 1874, werden die Durchbrüche zum Prerowstrom zur Ostsee geschlossen und ein fester Damm angelegt. Zingst ist keine Insel mehr, entstanden ist nun die Halbinsel Fischland-Darß-Zingst.
Geheim – Ein letzter Bericht
Von Claus Stephan Rehfeld
An das Schicksal des Jonas erinnerte uns Georg Christoph Lichtenberg in seiner Schrift „Warum hat Deutschland noch kein großes, öffentliches Seebad?“ Jonas, wir wissen es alle, war der Prophet des Alten Testaments, der von einem großen Fisch einfach so verschlungen worden sein soll. Warum das in Heiligendamm nicht passieren kann, wusste uns Lichtenberg schon 1793. „Die Fische, die einen Propheten fressen könnten, sind da so selten als die Propheten. Eher könnte man die dortigen Fische vor den Badegästen warnen.“ Wieso denken wir da sofort wieder an den G8-Gipfel im Flachland?
Achtung, Achtung! Hier wieder Secret +++ Lage spitzt sich zu, gemütliche Kaminrunde gefährdet + Japanische Vorabdelegation vorzeitig abgereist, ihr standen Tränen in den Augen + Soll am Kamin gelegen haben, der qualmte +++
Gipfelherberge ist unbewegliches Ziel – Hotel läuft nicht, wie es soll, sagt der Hotel-Chef + Lediglich sein Vorgänger hat sich bewegt und den Hut genommen + Habe gehört, Bank hat Hotel Kredit gekündigt, weil 2006 nur zu 42 Prozent ausgebucht + Gäste des Hauses seien sich wie Tiere im Zoo vorgekommen + Was sagt Knut dazu? +++
Hiesige haben falsche Vorstellungen von Gipfel-Treffen + Ladenbesitzer wollen wissen, ob Schaufenster vernagelt werden müssen + Andere befürchten, dass in ihre Vorgärten gepinkelt wird + Alle fürchten sich vor den Zaungästen + Der den Zaun gebaut hat, nennen sie Zaunkönig +++
Private Frage von Secret an alle + Bundesrepublik will Zaun, der ihr gehört, nach Gipfel verkaufen + Wohin? Nach Berlin? Bonn? Hessen? + Erbitte brutalstmögliche Aufklärung über meinen neuen Einsatzort +++
MV ist Flachland, Polizei will aber rechtzeitig in der Tiefe tätig werden + Gehe jetzt ebenfalls in die Tiefe + Wenn bis 18 Uhr keine Meldung, dann verhaftet + Hoffe auf mildes Urteil + Vergesst mich nicht +++
„Was ist ein abgelegener Ort im allgemeinen Verstand“, fragte uns alle der alte Lichtenberg 1793, als er – nicht ganz folgenlos – die Einrichtung großer öffentlicher Seebäder auch in Deutschland empfahl. Die Ostseeküste schlug er fürs erste aus, doch justament dort – im drauffolgenden Anno 1794 – öffnete am Heiligen Damm das erste deutsche Seebad. Jetzt, da die Kanzlerin, eine gebürtige Hamburgerin, dorthin geladen hat, ist uns klar: Heiligendamm ist mitnichten „ein abgelegener Ort im allgemeinen Verstand“, sondern Zonenrandgebiet, Sonderzonenrandgebiet. Obwohl … nun ja …
Geheim – Letzte Nachrichten aus Heiligenbimmbamm
Von Claus Stephan Rehfeld
Der Anblick der Meereswogen, das „Rollen ihres Donners“ verzückte den ollen Lichtenberg, weil da zu bloßem „Waschbeckentumult“ der „hochgepriesene Rheinfall“ verkümmere. Er schrieb den Rheinfall mit h, wir schreiben ihn heute. Damals forderte Lichtenberg: „Man muss kommen und sehen und hören.“ Nun, Heiligenbimmbamm heutzutage bietet Ausnahmezustand, Stacheldraht, Sonderausweise, Phantom-Jäger und Bundesmarine … und ganz secrete Nachrichten.
Secret, sehr Secret. +++ Empfehle dringend Verlegung des Gipfels, hier nur Flachland + Einwohnerin G. glaubte erst, Zaun habe irgendwas mit Wild zu tun, jetzt glaubt sie an die Mauer + MV-Minister S. erklärte Gipfel zur Bugwelle, in der wir Fische fangen; Fischer üben nun Fischfang in der Bugwelle + Bad in der Menge für Politiker nicht, wiederhole: nicht möglich, Badebetrieb und Spaziergänge wurden untersagt +++
Sicherheitsmaßnahmen unzureichend, Zaun nicht durch Zaun geschützt + Bannmeile soll Zaun schützen, empfehle Schutz der Bannmeile ebenfalls durch Zaun + Einwohner ebenfalls ungeschützt, gibt im Ort nicht mal mehr Sonnencreme zu kaufen + Sogar Tiere haben laut Forstamtsleiter R. das Gefühl: Aha, hier will man uns nicht +++
Werbung um Investoren mit Behauptung Wir sind die Mitte Europas verpufft, Kritiker zeigen mit Finger erst zur Stirn, dann auf den Atlas +++
Patriotismus Mangelware, Hiesige horten Kaffee und Dosenwurst + Besitzer der Pension H. will während Gipfel Salat einschleusen – Wer ist „Salat“? + Bauunternehmer B. hat Postenweg am Zaun betoniert und will Gipfelgegnern Zeltplatz planieren +++
Gipfel schlägt hohe Wellen, Zaun aber wasserdurchlässig + Zeitungen auch nicht dicht, melden, US-Kriegsschiffe richten das eine oder andere Bullauge auf Heiligendamm – welche Wirkung hat Bullauge? + Landeskriminalamt hat Pension H. gemietet, LKAler haben sich Besitzer als anständige Leute vorgestellt + Quartier anderer Geheimdienste unbekannt, entnehme regionaler Postille, sie sind schon hier +++
Alle wollen hinter den Zaun, auch die anderen Ortschaften + Erste Platzverweise rund um Heiligendamm unzureichend + Empfehle Evakuierung sämtlicher Bürger, bisherige Ausweisungskriterien anwendbar + Wer kam auf diese Idee, Gipfel im Flachland zu errichten? +++
Wenn Evakuierung Eingeborener entfällt, dann Verlegung des Gipfels in Knast, äh, JVA Bützow sinnvoll + CDU-Justizministerin K. hat Knast vorsorglich geräumt und … freigemacht + CDU-Innenminister C. sorgt sich um Schnellgerichte und mobile Gefangenensammelstellen + Richter vor Ort mit Haftbefehlen zur Hand, Kurzprozesse zugesagt + Für Politiker also gesorgt + Achtung, muss abbrechen +++
Entlarvt – Die Gefahr kommt aus dem Osten
Von Karl Lotz
„Die ganze Küste der Ostsee ist mir unbekannt, und ich für mein Teil würde sie dazu nicht wählen, solange nur noch ein Fleckchen an der Nordsee übrig wäre, das dazu taugte …“ Nun, der Gipfel findet trotz Lichtenbergs wohlfeilem Rat dennoch an der Ostsee statt. Die Kanzlerin zog es partout dorthin. Und die rote Gefahr schert sich ebenfalls einen Dreck um den Fingerzeig des Weisen. Sie naht, unaufhörlich, heißt aber nicht Wladimir! „Kamele trampeln nach Heiligendamm“ – kabelte uns der Berichterstatter. Als wir das Fragezeichen am Ende des Satzes erspäht hatten, atmeten wir erleichtert auf. Nein, die Teilnehmer des G8-Gipfels meinte er also nicht. Aber was dann?
Der Rhynchophorus Ferrugineus, allseits bekannt als Roter Palmrüsselkäfer.
Der Rote Palmen Rüsselkäfer.
Er ist schon da, die Palmen noch nicht.
Der Feind ist rot, rückt von Osten vor und hinterlässt gebrochene Existenzen. Das rüsselbewährte Insekt frisst sich unsichtbar durch die Palmenhaine der Welt. Aber nicht unhörbar, denn Benedikt von Laar hat den Großen Lauschangriff gestartet.
„Sie müssen Immer schön hinter mir herlaufen.“
Dies taten wir auch schon so – wegen der Kreutzotter, der Blindschleiche, wegen des Ameisenlöwen und wegen der großen grünen Echse da im Gestrüpp.
„Das ist der Grund, warum wie hier sind.“
In Mecklenburg. Wegen des Roten Palmen Rüsselkäfers. Jedenfalls auch.
Der Kornkäfer. Nur zwei Millimeter groß, aber ein böser Schädling.
Der Hausbock, auch böse, also gefräßig.
Den kennen wir schon, den Roten Palmen Rüsselkäfer. Und Benedikt von Laar, findiger Bioakustiker, erklärter Feind der gefräßigen Schädlinge und kein Freund der Chemieindustrie.
„Das Wichtigste bei dem Käfer ist die Aufklärung. Es ist im Prinzip das, was andere Herrschaften auch machen. Aber mal Spaß beiseite. Das Wichtigste ist die Information, die Erfassung von Informationen, dann die entsprechende Bewertung der Informationen: Wo ist der Ausbreitungsschwerpunkt? Und nicht dem Käfer hinterher arbeitet!“
Kurzum: Schädlingsbekämpfung ohne chemische Keule.
„Und das dann halt auch im Prinzip die Regierungen entsprechend handeln und den Betroffenen helfen. Ansonsten sieht es übel aus.“
Muss es aber nicht. Das Schlapphut-Rezept reicht aus: Gegner ausmachen, isolieren, vernichten. 007 nickt, Benedikt von Laar ebenfalls. Statt großflächiger Chemiesprühe schlicht und direkt akustische Ortung am befallenen Objekt … und weg ist der Schädling.
Hören Sie: kein Roter Palmen Rüsselkäfer, nur Landschaft.
Das ist die gute Nachricht. Aber da wir ohne die schlechte Nachricht nicht auskommen, hier also die besonders für den Mecklenburger Ossi: Es ist erwiesen, dass der rote Palmrüsselkäfer auch auf Ananas scharf ist und – noch schlimmer, viel, viel schlimmer: er frisst Bananen.
Original – Das Ostseewellen-Lied
Von Claus Stephan Rehfeld
„Die Betrachtung, dass die Welt, die jetzt hier meinen Fuß benetzt, ununterbrochen mit der zusammenhängt, die Otaheiti und China bespült“, mag Johann Chr. Lichtenberg geholfen haben. Vielleicht hilft sie auch Angie und George, wenn sie ihren Fuß reinhalten und das Gespräch so dahinplätschert, klimamäßig gesehen. Nun, wie sehr diese Welt zusammenhängt, dies lehrte uns schon vor langer Zeit ein kleines, aber bekanntes Lied. In Amerika wird es gesungen, in Afrika, an der Nordseeküste, aber vor allem dort, wo es tatsächlich herkommt – in Vorpommern: das Original „Mine Heimat“.
Hier ist es zwar nicht entstanden.
Aber die Gegend hier besingt es. Mine Heimat.
Und irgendwie ist es doch hier entstanden.
Hier, zwischen Barth und Zingst.
Die Kurzfassung ist schnell erzählt:
Eine gebürtige Bartherin zieht nach Zingst, heiratet dann nach Berlin, wo sie Heimatweh hat und ein Gedicht schreibt, welches ein Flensburger Glasergeselle auf seiner Wanderschaft nach Zürich bringt, wo er es kurz vor seinem Tod einem gebürtigen Thüringer gibt, der es vertont und es 14 Tage später mit dem Zürcher Arbeiter-Männergesangverein am Grabe des Flensburgers welturaufführt.
Vielleicht erklärt die Odyssee schon einiges über seine Verbreitung heute. Aber es erzählt wenig über Martha Müller-Grählert.
Am 20. Dezember 1876 wird sie als Johanna Daatz in Barth geboren. Drei Jahre später heiratet ihre ledige Mutter den Zingster Müllermeister Friedrich Grählert. Der gibt der kleinen Johanna zum neuen Familiennamen auch einen neuen Vornamen: Martha.
Schon früh schreibt sie plattdeutsche Verse. Eine Heimatdichterin.
1907 erscheinen in Berlin die „Schelmenstücke“ von Martha Müller-Grählert – mit dem Erstdruck des Gedichts „Mine Heimat“. Dort heißt es noch in der letzten Strophe „Sehnsucht na dat lütte, kahle Inselland“. Die heutige Fassung besingt die „Sehnsucht na dat lütte, stille Inselland“. Die 1908 in der Zeitschrift für Humor und Kunst Meggendorfer Blätter veröffentlichte Fassung – sekundiert von einem großen Strandbild – macht das Lied einem größeren Leserkreis bekannt.
1910, in Zürich, wird der Text von Simon Krannig vertont. Er braucht eine halbe Stunde dafür. Das Lied schlägt Wellen, setzt sich an der deutschen Nordseeküste durch.
Mit einer zum Walzer zersungenen Melodie wird es an der Nordseeküste zum Heimathit. Auf den Ostfriesischen Inseln fasst es mit den Nordseewellen Fuß.
Der Soltauer Verleger Fischer-Friesenhausen macht dann als erster das große Geld damit. Er lässt Lied-Varianten auf Postkarten drucken, Noten für Akkordeon, Klavier und Orchester.
Martha Müller-Grählert weiß lange nichts davon. Die Dichterin geht leer aus. Erst 1936 erhalten sie und Krannig die Urheberrechte zugesprochen. Nach langen Jahren des Prozessierens und zu spät für Müller-Grählert. Die Ehe ist vor Jahren zerbrochen, sie lebt schon lange in wirtschaftlicher Not. Leseabende und Vortragsreisen bessern die Lage nicht wesentlich.
Einsam, arm und fast völlig erblindet stirbt sie am 19. November 1939. Auf dem Grabkreuz in Zingst steht der Vers: „Hier is mine Heimat / hier bün ick to Hus.“
Martha Müller-Grählert. In ein Buch hatte sie die Widmung geschrieben:
„Ein kleiner Sperling bin ich nur,
meine Kunst ist sehr begrenzt –
doch es muß auch Sperlinge geben.“
Sturmflut – ein Bericht zum 13. November 1872
Von Claus Stephan Rehfeld
Das „unbeschreiblich große Schauspiel der Ebbe und Flut“ könne an der Ostsee „nicht in der Majestät beobachtet werden …, in welcher es sich an der Nordsee zeigt.“ Als Lichtenberg dies 1793 notierte, hatte er zweifellos Recht und möglicherweise die große Sturmflut von 1362 vor Augen, die Rungholt ins Meer riss. Doch auch die Ostsee kennt Sturmfluten. Jene, an die nun erinnert werden soll, war nicht die erste, aber sie war die heftigste Sturmflut, die das Prerower Kirchenbuch vermerkt.
„1872 am 13. November – größte Sturmflut, denn es sind Menschenleben zu beklagen.“
Das Vorspiel dauerte Wochen.
„Stürmische Westwinde hatten den ganzen Oktober hindurch getobt und mit ungeheurer Wucht die Wassermassen aus der Nordsee in die Ostsee gedrängt ...“
Anfang November drehen die Stürme von Südwest auf West und Nordwest.
„Sie erzeugten in dem westlichen Teile der Ostsee eine Art Ebbe und stauten das Wasser in den östlichen Gebieten auf.“
Am 8. November drängen neue Wassermassen in die Ostsee. Die Wanne ist bis zum Rand voll.
„Am Sonntag, dem 10. November, begann es mit einer unheilverkündenden Stille.“
Aus dem östlichen Teil der Ostsee fluten aufgestaute Wassermassen zurück.
„Am 10. November ging der Wind über Norden nach Nordosten um, wehte erst mäßig, wurde dann immer stärker und steigerte sich am 12. November ... zum Orkan.“
In der Nacht vom 12. zum 13. November 1872 vereinen sich Wind und Wasser.
„Am 13. November brach es herein.“
Zwischen Mitternacht und Sonnenaufgang. Deiche brechen, Dünen reißen weg. Der Orkan tobt, die See schäumt.
„Wie ein reißender Strom stürzte es zwischen die Häuser, sie bald von allen Seiten umspülend.“
Die Wassermassen verschaffen sich mit Gewalt Eingang in Häuser und Ställe. Mensch und Getier flüchten auf Anhöhen, anderen bleibt nur der Dachboden. Die Familie von Tischler Lampe rettet aber auch der Dachboden nicht mehr.
„Das ganze Haus wurde auseinander gerissen, die Insassen kamen dabei ums Leben, Mann, Frau und 3 Kinder von 1 bis 11 Jahren.“
Fischland, Darß, Zingst – Land unter. Häuser, Möbel und Hausrat sind ein Spielzeug der Sturmflut. Dächer.
" ... wurde das Dach von Wind und Wellen losgerissen und trieb mit den Leuten, die sich noch hinauf retten konnten, davon.“
Schränke werden zu Rettungsbooten. In einer Wiege treibt die sechs Monate alte Mary Drewelow auf den Wellen. Sie überlebt. Drei sturmerprobte Seemänner nicht.
„... die mit ihrem Schiffe, einem Dreimastschoner, auf den Dünen strandeten und vom Maste erschlagen wurden.“
13. November 1872. Nachmittag Der Wind flaut ab, das Meer lässt ab. Tote, massenhaft Tierkadaver, zerstörte Häuser und Schiffe. Das Salzwasser hat Brunnen und Ackerland verdorben.
Eisiger Wind und Schneetreiben erschweren die Rettungsarbeiten.
„Am 14. kam das Wasser wieder, erreichte aber nicht mehr solche Höhe.“
Die große Sturmflut 1872 hat ein Nachspiel. Zwei Jahre später, 1874, werden die Durchbrüche zum Prerowstrom zur Ostsee geschlossen und ein fester Damm angelegt. Zingst ist keine Insel mehr, entstanden ist nun die Halbinsel Fischland-Darß-Zingst.
Geheim – Ein letzter Bericht
Von Claus Stephan Rehfeld
An das Schicksal des Jonas erinnerte uns Georg Christoph Lichtenberg in seiner Schrift „Warum hat Deutschland noch kein großes, öffentliches Seebad?“ Jonas, wir wissen es alle, war der Prophet des Alten Testaments, der von einem großen Fisch einfach so verschlungen worden sein soll. Warum das in Heiligendamm nicht passieren kann, wusste uns Lichtenberg schon 1793. „Die Fische, die einen Propheten fressen könnten, sind da so selten als die Propheten. Eher könnte man die dortigen Fische vor den Badegästen warnen.“ Wieso denken wir da sofort wieder an den G8-Gipfel im Flachland?
Achtung, Achtung! Hier wieder Secret +++ Lage spitzt sich zu, gemütliche Kaminrunde gefährdet + Japanische Vorabdelegation vorzeitig abgereist, ihr standen Tränen in den Augen + Soll am Kamin gelegen haben, der qualmte +++
Gipfelherberge ist unbewegliches Ziel – Hotel läuft nicht, wie es soll, sagt der Hotel-Chef + Lediglich sein Vorgänger hat sich bewegt und den Hut genommen + Habe gehört, Bank hat Hotel Kredit gekündigt, weil 2006 nur zu 42 Prozent ausgebucht + Gäste des Hauses seien sich wie Tiere im Zoo vorgekommen + Was sagt Knut dazu? +++
Hiesige haben falsche Vorstellungen von Gipfel-Treffen + Ladenbesitzer wollen wissen, ob Schaufenster vernagelt werden müssen + Andere befürchten, dass in ihre Vorgärten gepinkelt wird + Alle fürchten sich vor den Zaungästen + Der den Zaun gebaut hat, nennen sie Zaunkönig +++
Private Frage von Secret an alle + Bundesrepublik will Zaun, der ihr gehört, nach Gipfel verkaufen + Wohin? Nach Berlin? Bonn? Hessen? + Erbitte brutalstmögliche Aufklärung über meinen neuen Einsatzort +++
MV ist Flachland, Polizei will aber rechtzeitig in der Tiefe tätig werden + Gehe jetzt ebenfalls in die Tiefe + Wenn bis 18 Uhr keine Meldung, dann verhaftet + Hoffe auf mildes Urteil + Vergesst mich nicht +++