Land mit Identitätsproblemen

Moderation: Joachim Scholl · 05.06.2008
Die Österreicher haben keinen "selbstverständlichen Patriotismus". Das meint zumindest der Schriftsteller Josef Haslinger. "Denn wenn man sich fragt, was eint eigentlich alle Österreicher, was ist der Kern, der sie alle zusammenhält, dann kommt möglicherweise raus, dass sie keine Deutschen sind."
Joachim Scholl: Jetzt ist bei uns im Studio Josef Haslinger, einer der bekanntesten österreichischen Schriftsteller, Autor zahlreicher erfolgreicher Romane, zum Beispiel "Der Opernball" oder "Das Vaterspiel" stammt von ihm. Derzeit leitet Josef Haslinger das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig. Willkommen, Herr Haslinger!

Josef Haslinger: Ja, freut mich!

Scholl: Erklären Sie uns Österreich. Darum wollen wir Sie bitten angesichts ausgesuchter Klischees und Vorurteile, die wir in den letzten Wochen in unserer Redaktion gesammelt haben. Einiges ist auch schon in unserer Umfrage angeklungen. Wir servieren jetzt, Sie parieren. Was sagen Sie zu folgender Behauptung, vielleicht auch noch mit dem bösen Thomas-Bernhard-Wort im Ohr, der Österreicher distanziert sich ständig vom eigenen Land?

Haslinger: Das stimmt einfach. Ja, das ist eine Realität. Die Österreicher haben keinen ausgeprägten, sagen wir mal, keinen selbstverständlichen Lokalpatriotismus, keinen selbstverständlichen Patriotismus. Denen ist das Land immer zusammengebrochen. Das ist so ein Restland, ist da übrig geblieben. Und zuletzt, der eine sagt, es war mal ein Teil von Deutschland. Nun gut, diese Freude konnte er tatsächlich nur sieben Jahre lang teilen in der Nazizeit, und dann war das Ding wieder ...

Scholl: Aber, ich meine, es war einst mal eine machtvolle Monarchie, die k.u.k-Monarchie, das Habsburger Reich. Ist das alles weg?

Haslinger: Das war die mitteleuropäische Macht. Und meiner Meinung nach laboriert Europa bis heute am Zusammenbrechen dieser mitteleuropäischen Macht. Ich glaube, dass wir mittlerweile in eine Phase eingetreten sind, wo tatsächlich sozusagen das Licht am Ende des Tunnels zu sehen ist, wo sich Europa wieder fängt und zu etwas Neuem wird und damit tatsächlich die Folgen des Ersten Weltkrieges überwunden werden. Aber das, ich würde sagen, das ist bis zum Niedergang des Kommunismus und bis in die letzten Jahre hinein sind diese Folgen des Zusammenbruchs von Österreich deutlich spürbar.

Scholl: Vielleicht klingt da auch schon das nächste Klischee oder der Keim des nächsten Klischees, wenn es wieder bestätigt wird Ihnen. Der Österreicher fühlt sich immer als Opfer.

Haslinger: Das ist leider wahr. Das ist leider wahr. Nicht immer, ich meine, zunächst einmal fällt es mir schwer, ich muss da jetzt eine Klarstellung machen, der Österreicher zu sagen, weil letztlich kann ich nur über meine Erfahrungen und über mich sprechen. Und was das Schöne an Österreich ist, dass es so unterschiedlich ist, dass ist so. Es gibt diesen großen Unterschied schon einmal von der Stadt zum Land und von der Stadt in Österreich gibt es eigentlich nur eine Stadt, die es wert ist, Stadt genannt zu werden, und das ist Wien. Und die Wiener werden eigentlich in Westösterreich gehasst und haben dort keinen guten Stand. Und ich komme eigentlich vom Land, habe aber natürlich jetzt ein Wiener Autokennzeichen und werde selbst in der näheren Umgebung, da, wo ich herkomme, für einen Wiener gehalten und hab dann mit den Vorurteilen zu tun.

Scholl: Das ist doch ein prima Querschnitt für uns.

Haslinger: Und innerhalb Wiens wiederum gibt es völlig unterschiedliche Bezirke, die tatsächlich auf eine Weise geschichtet sind und sozial geschichtet sind wie kaum noch in einer anderen Stadt, wo es so Nobelbezirke gibt und richtig Arbeiterbezirke. Und das sind unterschiedliche Mentalitäten und Kulturen.

Scholl: Aber wissen Sie, wir müssen doch hier gar nicht gerecht sein, Herr Haslinger! Wissen Sie, wir sagen jetzt einfach mal so der Österreicher. Und Sie haben ja gerade auch spontan gesagt, leider ja, wenn es um das Opfer geht. Was hat es damit auf sich, ganz ins Blaue?

Haslinger: Das hat es damit auf sich, dass die Österreicher tatsächlich eine Einübung in die Opferrolle seit längerer Zeit, ein Jahrhundert lang sich vorgenommen haben, nicht vorgenommen, es wurde ihnen mehr oder weniger nahegelegt. Und sie sind dabei gar nicht so schlecht gefahren, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich das sehr opportun dargestellt, wenn man sagt, man ist das erste Opfer. Und das war für die, sagen wir mal, Psychohygiene des Österreichers nicht, sagen wir mal, das Idealste. Es hat nämlich dann sehr lange gedauert, bis man mit dieser Zeit einigermaßen umgehen konnte. Aber es hat doch große Vorteile von Anfang an gebracht. Wenn man sich nicht als Täter darstellt, dann konnte man alle diese ganze Täter- und Schuldproblematik einmal auf die Deutschen abwälzen. Und man hat sich damit da in dieser Opferrolle eingenistet. Man hat sozusagen das sehr gerne. Und sodass dieses Opfersein in Österreich nicht nur negativ besetzt ist, sondern das hat auch etwas Lustvolles und Positives. Man fühlt sich als Opfer oder hat sich lange Zeit als Opfer besser gefühlt, als wäre man ein Macher gewesen, ein Täter gewesen.

Scholl: Der Österreicher wird nichts in eigenem Land.

Haslinger: Das stimmt nur zum Teil. Mit Sicherheit stimmt das, wenn ein Wiener nichts in Tirol wird. Umgekehrt werden viele Tiroler etwas in Wien. Und es ist auch so, dass viele Österreicher im Ausland erstaunliche Karriere machen. Das muss man auch bestätigen, gemessen an der Kleinheit des Landes. Acht Millionen findet man im Ausland von Amerika, Deutschland sowieso, aber auch in anderen europäischen Ländern sehr viele Österreicher in bedeutenden Positionen.

Scholl: Genau das macht er, und das brachte uns auf dieses Vorurteil, dieses Klischee, das so viele Österreicher im Ausland eigentlich berühmt werden.

Haslinger: Und im eigenen Land oft nichts gelten oder erst wenn sie aus dem Ausland zurückkommen.

Scholl: Man muss weggehen?
Haslinger: Ja. Aber ich weiß nicht, ob das nur für Österreich zutrifft. Es ist halt so, das trifft für alle Staaten zu, die so eine Neigung haben zu einer Bündelei und Kartelle zu bilden, wie alle im Grunde Staaten, die so männerbündisch strukturiert waren und das wird man so schnell nicht los.

Scholl: Österreicher fahren auf akademische Titel ab, wenn man als Doktor in eine Bank geht und Sie kriegen mit, dass man Doktor ist, dann ist man ein Herr Professor. Wenn man ein Professor ist man sofort ein Herr Geheimrat. Ist das noch ein Erbe von k.u.k.?

Haslinger: Das ist ein Erbe von k.u.k., ganz klar. Mein Schwiegervater war Gendarmerieinspektor, und meine Schwiegermutter, die einen eigenen Beruf hatte als Hebamme war natürlich selbstverständlich die Frau Inspektor. Das hält sich durch. Es ist weniger geworden, muss man sagen, aber alles in allem ist es interessant, dass die Studenten keine große soziale Reputation haben. Auch das fängt sich an zu ändern. In meiner Zeit, als ich studiert habe, war es ganz schlimm, waren die Studenten überhaupt das Letzte. Und jetzt immer noch. Immer noch ist ihre soziale Reputation sehr gering. Aber dann gibt es diese entscheidenden zwei Wochen, wo ein Student zum Doktor wird. Und da macht er einen gigantischen Sprung durch. Da ist so wie ein Trampolinsprung von ganz unten nach ganz oben. Plötzlich hat er einen Titel und ist wer.

Scholl: Der Österreicher kann keine Autos bauen.

Haslinger: Na, ich weiß nicht. Der Siegfried Markus, der ja eine der Pioniere des Autobaus war, hat das schon gekonnt, und ansonsten hat sich die österreichische Autoindustrie nicht wirklich entwickelt. Das ist richtig. Ja, aber dafür haben wir eine Menge Kunst und Kultur.

Scholl: Und alle Österreicher können Ski fahren.

Haslinger: Das ist wahr. Das ist ein Nationalsport. Das ist etwas, was sozusagen eintrainiert wird. Jedes Kind wird von der Schule aus im Skifahren zwangssozialisiert. Da gibt es eine Skiwoche, da fährt man hin, und da wird man in Gruppen eingeteilt und lernt man einfach Skifahren, heutzutage wahrscheinlich auch Snowboardfahren.

Scholl: Zum Fußball, Herr Haslinger. Es macht Österreich wenig aus, im Fußball zu verlieren, nur gegen die Deutschen will man immer gewinnen, Stichwort Cordoba.

Haslinger: Gegen die Deutschen kann man nicht immer gewinnen, man würde es gerne, das ist ganz richtig. Das ist eigentlich auch eine ganz merkwürdige Sache. Denn wenn man sich fragt, was eint eigentlich alle Österreicher, was ist der Kern, der sie alle zusammenhält, dann kommt möglicherweise raus, dass sie keine Deutschen sind.

Scholl: Und warum artikuliert sich das gerade im Fußball mit so einem Furor oder mit so einer Leidenschaft?

Haslinger: Ist doch gut, wenn Sie es im Fußball haben, die Kulisse, und nicht anderswo.

Scholl: I werd närrisch krankel, krankel. Das Drei-zu-Zwei 1978 in Cordoba, dieses Gekreische des Radioreporters, das haben wir, glaube ich, alle noch ein bisschen im Ohr, oder Fernsehkommentators damals. Es muss irgendwie ein Riesenschlag gewesen sein.

Haslinger: Ja, wissen Sie, wenn man im Schatten dieser großen Nation lebt und dieselbe Sprache spricht, dann kommt es natürlich, insbesondere im Bereich, wo alles was mit Sprache zu tun hat, schon zu einer großen Abhängigkeit. Die österreichischen Autoren publizieren in deutschen Verlagen. Die österreichischen Kinder wachsen auf mit deutschen Kinderbüchern und verlernen tatsächlich die österreichischen Ausdrücke langsam, weil die sehen deutsches Fernsehen. Die Kindersendungen werden alle im deutschen Fernsehen gemacht. Das heißt, die österreichische Sprache ist eindeutig in einem Rückzug begriffen, so ganz. Es gibt ja eigentlich auch gar keine österreichische Sprache, sondern es gibt bestimmte Sprachfärbungen, die zum Teil für den süddeutschen Raum auch gelten.

Scholl: Ihr Tipp, wie geht das Spiel Deutschland – Österreich aus?

Haslinger: Oh, darüber habe ich überhaupt nicht nachgedacht. Einen Tipp? Na ja, die Deutschen werden gewinnen, ganz klar.

Scholl: Tatsächlich? Freuen Sie sich denn auf die Europameisterschaft? Sind Sie ein Fußballfan? Gucken Sie sich die Spiele an?

Haslinger: Na, es ist so, dass ich kein großer Fußballfan bin, dass ich mich aber dann von so Großereignissen anstecken lasse. Ich warte jetzt noch drauf, bis ich angesteckt werde. Ich beobachte am Wochenende, wie das ganze Wien umgebaut wird, die Ringstraßen nicht mehr passierbar, kann man nicht mehr fahren.

Scholl: Genau, die Fanmeile wird hier aufgebaut.

Haslinger: Und das wird sicher einen Sog erzeugen. Ich werde mir sicher Spiele anschauen und dann wird es so sein, dass das Interesse erwacht. Im Augenblick ist überhaupt das Interesse, soweit ich es sehe, in Österreich nicht so groß, wie es in Deutschland damals war. Aber das kann sich natürlich ändern.

Scholl: Herzlichen Dank! Josef Haslinger, Schriftsteller aus Österreich, über das EM-Gastland. Schön, dass Sie bei uns waren.

Haslinger: Bitte!