Land der Dauerkrise

Rezensiert von Kim Kindermann |
Woran liegt es, dass sich in Deutschland nichts mehr bewegt? Warum wird jede Reform nur als Angriff erlebt und daher schon im Keim erstickt? Woher diese Dauer-Unzufriedenheit der Deutschen und woher ihre Perspektivlosigkeit? Der Diplom-Psychologe Stephan Grünewald versucht, Antworten zu finden.
Es steht schlecht um uns. Keine Frage. Das Land in der Dauerkrise. Gebeutelt von hohen Schulden, erdrückenden Arbeitslosigkeitszahlen, schlechter Schulbildung, haben wir Deutschen unsere Leidenschaft und unsere Visionen verloren. Und nicht nur das: Wir leiden unter einem Gefühl der Orientierungslosigkeit. Uns fehlt der Lebenssinn. Außerdem fühlen wir uns ständig überfordert, eilen rastlos umher, ohne innezuhalten und haben so das Gefühl, wie ein Hamster im Rad zu laufen. Am Ende des Tages sinken wir atemlos und ohne wirklich einen Schritt weiter zu sein auf der Fernsehcouch nieder.

Kurz gesagt: "Wir wollen zuviel vom Leben", schreibt Stephan Grünewald in seinem Buch "Deutschland auf der Couch" und attestiert den Deutschen darüber hinaus unter einem "rasenden Stillstand" sowie unter "überdrehter Erstarrung" zu leiden. Aha! Endlich hat das Kind einen Namen. Endlich wissen wir, was Schuld hat an der deutschen Neigung zum Reformstau und Jammern. Noch dazu hört sich das schick an und hip, wenn man sich sagen hört: Du, ich leide unter "rasendem Stillstand" und "überdrehter Erstarrung".

Dabei versteckt sich hinter diesen Worthülsen, die Stephan Grünewald ausführlich auf den 236 Seiten seiner Befindlichkeitsstudie beleuchtet, letztendlich Altbekanntes. Durch die immer schneller werdende Welt, die dank Handy, Internet und Fernsehen zu einer unüberschaubaren Fülle neuer Weltbilder geführt hat, wo nicht mehr klar ist, was Frau und was Mann ist, was gut und böse, was akzeptabel und was inakzeptabel ist, kommen wir einfach nicht mehr hinterher. Zwar versuchen wir es noch, hetzen uns ab, um allem gerecht zu werden und geben am Ende aber schließlich doch erschöpft auf. Dieses Aufgeben verstecken wir hinter einer unbeteiligten Maske, der Coolness, die uns wiederum erlaubt, alles zu tolerieren und nicht mehr Position beziehen zu müssen.

Grünewalds Erkenntnisse stammen aus 20.000 so genannten Tiefeninterviews, die der Diplompsychologe im Verlauf der letzten Jahre im Auftrag für Industrie und Medien durchgeführt hat. Es handelt sich also um keine vorschnell fabrizierte Studie. Immerhin zwei Stunden lang reden die Interviewteilnehmer über sich und ihr Leben, ihre Vorlieben und ihre Einstellungen. Das ist doch schon was, in einer Zeit, wo wir uns alle "vom wirklichen Leben entfremdet" haben. Denn darum geht es dem Autoren letztendlich: um das wahre Leben!

Erst dann, wenn wir akzeptieren, dass das Leben aus Höhen und Tiefen besteht, wo nicht immer alles rund läuft, erst dann kommen wir raus aus unserer angezüchteten Bewegungslosigkeit. Zumal dieser Zustand nicht wie eine Krankheit auf die Deutschen hereingebrochen ist. "Wir haben ihn vielmehr - ohne es zu wissen und wirklich zu wollen - aktiv herbeigeführt", wie Grünewald schreibt. Und zwar indem wir uns den Heilversprechen der Werbung und der Politik hingegeben haben. Das habe zwar bis in die Neunziger noch Spaß gemacht, mittlerweile aber gehe nichts mehr.

Nur wenn wir rauskommen aus dieser erstarrten, risikoarmen und stimulationssüchtigen Welt, ist ein Neuanfang möglich. Und genau dabei will Stephan Grünewald helfen:

"Dieses Buch soll aufrütteln und dabei bestenfalls einen Prozess der Selbstreflexion einleiten, der es dem Leser am Ende ermöglicht, sich und die Welt einmal anders zu sehen."

Ein hoch gestecktes Ziel, dem der Autor allerdings nicht nahe kommt. Zwar gibt es genügend Momente in dem Buch, wo man innerlich aufschreit und sagt: Genau, so ist es! Oder wo man das Gefühl hat, da spricht einem endlich mal jemand aus der Seele, aber letztendlich scheitert Grünewald an seiner eigenen Diagnose. Sein Buch ist leider wie so vieles im Leben schnelllebig und belanglos: Es fehlt die Tiefe! Vielmehr bedient er den Zeitgeist, den er eigentlich bemängelt, selbst perfekt.

Denn der diplomierte Psychologe versteht es meisterhaft seine Erkenntnisse in eingängiger Weise zu präsentieren. Er langweilt nicht mit Zahlen und Statistiken. Das Buch liest sich locker weg und unterhält. Das liegt vor allem daran, dass Stephan Grünewald jeden neuen Trend, jeden Superstar und viele Filme zu einem hübschen, frechen Paket zusammenschnürt und damit allerdings den Eindruck von Beliebigkeit entsteht lässt. So ist mal von Dieter Bohlen zu lesen, dann von George Orwell, von Sabine Christiansen und Sigmund Freud, um dann die Wirklichkeit an Filmen wie "Der Untergang", "Matrix" oder "Raumschiff Surprise" zu messen. Das wird schnell langweilig und wirkt auch sehr gewollt. Fast so, als hätte der Autor, die Frischzellenkur, die die Gesellschaft braucht, auch seinem Schreibstil angedeihen lassen.

Doch das täuscht letztendlich nicht über das eigentlich Manko hinweg: Wirklich Neues findet sich in Stephan Grünewalds Buch nicht. Und das ist schade, zumal der Autor, der vorgibt am Puls der Zeit zu sitzen, mit seinem altbacken wirkenden Appell von einem Zurück zum "wahren Leben", in dem wir die lebensfeindlichen Glücks-, Perfektions- und Coolness-Ansprüche unserer Kultur umgestalten, den Zeitgeist nicht wirklich einfängt. Selbst dann nicht, wenn es sich gut liest.


Stephan Grünewald: Deutschland auf der Couch. Eine Gesellschaft zwischen Stillstand und Leidenschaft
Campus-Verlag,
Frankfurt am Main 2006,
236 Seiten.