Lammert: Reichstagsbrand sollte von Historikern aufgeklärt werden

Norbert Lammert im Gespräch mit Ulrike Timm · 27.02.2013
War es der holländische Rätekommunist Marinus van der Lubbe, der die Tat gestand und hingerichtet wurde? Oder waren es die Nazis selbst? Manche fordern, dass der Deutsche Bundestag endgültig klären solle, wer den Reichstag 1933 in Brand steckte. Die Politik solle sich da raushalten, findet dagegen Norbert Lammert.
Ulrike Timm: Heute vor 80 Jahren brannte der Reichstag, und eines steht fest: Etwas Besseres hätte den Nazis nicht passieren können. Sie nutzten die Tat, um ihre Macht zu festigen. Schon einen Tag später ermöglichte es die berüchtigte Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat, politische Gegner der NSDAP ganz legal durch Polizei und SA zu verfolgen. Wer den Reichstag nun wirklich angesteckt hat, das ist letztlich nicht geklärt. Auch darüber spreche ich jetzt mit dem derzeitigen Hausherrn, mit Bundestagspräsident Norbert Lammert. Schönen guten Tag, Herr Lammert!

Norbert Lammert: Guten Tag, Frau Timm!

Timm: Wird dieser Jahrestag heute im Bundestag eigentlich irgendwie besonders gewürdigt?

Lammert: Es ist ein, wie mir scheint, eher glücklicher Zufall, dass der jährliche Medienempfang des Deutschen Bundestages, bei dem wir auch den Medienpreis des Bundestages verleihen, heute Abend stattfindet, sodass wir nicht nur mit einer beachtlichen Zahl von Mitgliedern des Hauses, sondern auch mit einer großen Zahl von Vertretern der Medien und der Öffentlichkeit Gelegenheit haben, auch an dieses zweifellos historische Datum zu erinnern. Es wird aber, weil es ja eine Serie von einschlägigen Gedenktagen gibt, die sich alle mit den ersten 100 Tagen nach dem 30. Januar 1933 befassen, in einigen Wochen eine zusätzliche Veranstaltung geben, wo wir mit Historikern gemeinsam über den damaligen Ablauf der Ereignisse und ihre nachwirkende Bedeutung sprechen wollen.

Timm: Das heißt aber auch: Das Parlament in seinem Plenarsaal – der Plenarsaal war es, der vollkommen zerstört wurde vor 80 Jahren –, das Parlament in seinem Plenarsaal macht eigentlich nichts?

Lammert: Umgekehrt: Ich erläutere ja gerade, was wir machen. Und die Vorstellung, dass zu jedem einzelnen dieser Ereignisse jeweils eine Befassung im Plenum des Bundestages erfolgen müsse, erschließt sich mir weder - noch ist es die Auffassung der Fraktion.

Timm: Schauen wir mal zurück: Sebastian Haffner, der spottete im englischen Exil schon in den 30er-Jahren, es sei doch komisch, dass die Nazis, die den Reichstag immer als Quatschbude bezeichneten, mit dem Brand plötzlich das Allerheiligste geschändet sahen und sofort Notverordnungen in Kraft setzten. War der Reichstag eben doch stets ein ganz besonderes demokratisches Symbol? Wie sehen Sie das?

Lammert: Das war eher offensichtlich, was vielleicht auch damit zusammenhängt: dass allein der Bau des Reichstagsgebäudes in einer frühen Phase des deutschen Nationalstaates und in einer aus heutiger Sicht auch unterentwickelten Phase des deutschen Parlamentarismus ein Signal und ein Symbol des selbstbewussten Bürgertums auch gegenüber der Monarchie war. Der preußische König und deutsche Kaiser mochte ja diesen Bau überhaupt nicht, weil er weder ein besonderer Freund des Parlamentarismus war, noch die Symbolwirkung dieses Gebäudes, das, wenn man sich die städtebauliche Situation Ende des 19. Jahrhunderts vorstellt, ja mehr oder weniger unmittelbar gegenüber dem Schloss aufgestellt war, lieber hätte vermeiden wollen. Insofern gibt es eine Vorgeschichte, was die Prominenz des Gebäudes und auch die Symbolwirkung betrifft. Der Umgang der Nationalsozialisten mit dem Gebäude und dem Brand des Reichstagsgebäudes ist geradezu in doppelter Hinsicht pervers. Zum einen hat es ja eine geradezu perfide, schnelle Umsetzung von Maßnahmen zur Liquidierung der Weimarer Demokratie gegeben, für die der Reichstagsbrand gewissermaßen als auslösendes Moment genutzt wurde. Und zweitens erfolgte das mit einer aufgesetzten Empörung gegenüber der vermeintlichen Schändung eines Parlamentes, mit dem die Nationalsozialisten auch vor diesem Ereignis ausdrücklich nichts am Hut hatten.

Timm: Wir sprechen mit Bundestagspräsident Norbert Lammert aus Anlass des 80. Jahrestags des Reichstagsbrands. Herr Lammert, wer letztlich das Feuer angezündet hat, das diesen Plenarsaal komplett zerstörte, das ist nicht mit Sicherheit geklärt. War es nun der holländische Rätekommunist Marinus van der Lubbe, der die Tat gestand und als Einzeltäter hingerichtet wurde? Oder waren es die Nazis selbst? Darüber streiten Historiker. Jetzt gibt es den Vorschlag, das noch mal von Grund auf neu zu klären und diese Klärung in die Hände des Bundestages zu legen. Der sollte dann eine überparteilich agierende Institution einsetzen, die den Reichstagsbrand von 33 noch mal ganz neu untersucht, mit abschließendem Ergebnis. Was halten Sie von dem Gedanken?

Lammert: Der Vorschlag ist gewiss gut gemeint, aber nicht zielführend. Wir reden hier ja nicht über einen politischen Streitgegenstand, sondern über einen historischen Forschungsgegenstand. Mit diesem Thema haben sich Historiker, verschiedene Historiker zu verschiedenen Zeitpunkten, mit bemerkenswertem Aufwand an Quellenrecherche auseinandergesetzt. Es hat sich im Laufe der Zeit auch der Akzent in der Wahrnehmung des Ablaufs der Ereignisse und der Verantwortlichkeiten, der erkennbaren, verändert mit dem Ergebnis, dass es nach wie vor keinen völlig unstreitigen Befund gibt. Diese Frage ist nicht politisch zu klären, sondern sie ist, wenn überhaupt, von Historikern zu klären, und die Vorstellung, dass der Deutsche Bundestag als ein politisches Organ sich selbst an die Spitze eines Aufklärungsinteresses setzt, das er selber gar nicht leisten kann, um dann am Ende - was denn bitte schön - über verschiedene vorgeschlagene Alternativen per Mehrheit zu entscheiden, ist eher kurios als zielführend.

Timm: Gibt es nicht eine Parallele in gewisser Weise, die erfolgreich war? Es gab ja die Historikerkommission Auswärtiges Amt, eingesetzt 2005 vom damaligen Außenminister Fischer, die hat die Verstrickungen des Auswärtigen Amtes ins Naziregime akribisch erforscht und die hat auch viel Neues zutage gefördert. Das Buch "Das Amt", das damals erschien, sorgte ja für ganz bestürzende Erkenntnisse. Niemand kann mehr behaupten, der vornehme auswärtige Dienst habe den Nazis lange widerstanden. Könnte so eine überparteilich eingesetzte Reichstagsbrand-Untersuchungskommission, sage ich mal, könnte die nicht doch nützlich sein?

Lammert: Ich will nicht wiederholen, was ich gerade gesagt habe. Niemand ist daran gehindert, wenn er glaubt, neue Anhaltspunkte zu haben, sich damit auseinanderzusetzen. Ich habe nicht mal einen Zweifel daran, dass wegen der überragenden historisch-symbolischen Bedeutung dieses Ereignisses auch die einschlägigen Institutionen, die für die Förderung von Forschungsprojekten infrage kommen, gerade solchen plausiblen Anträgen mit besonderer Aufgeschlossenheit begegnen werden. Was die Parallele zu dem damaligen Auftrag des Auswärtigen Amtes angeht, habe ich allerdings auch noch in lebhafter Erinnerung, dass das vorgelegte, eindrucksvolle Konvolut wiederum auf eine sehr geteilte öffentliche Reaktion getroffen ist, wobei wiederum all diejenigen, die mit den vorgetragenen Befunden welche Probleme auch immer hatten, mit einer nicht überraschenden Regelmäßigkeit auf den Auftraggeber verwiesen haben. Und genau dieses Interesse kann der Deutsche Bundestag nicht haben, auch nur in den Verdacht zu geraten, er wolle sich hier in einen Streit von Historikern einmischen und mit der Autorität der Verfassungsinstitution eine historische Streitfrage zu klären.

Timm: Nun gab es einmal einen berühmt gewordenen Hobbyhistoriker, so hat man ihn genannt, Fritz Tobias, der meinte, die Einzeltäterschaft van der Lubbes nachweisen zu können, und es gab das sogenannte Luxemburger Komitee, unterstützt von Willy Brandt bis Golo Mann, das unterstützte die These vom durch die Nazis gelegten Reichstagsbrand. Beide sollen mit den Quellen nicht sehr genau umgegangen sein. Wenn wir wirklich wüssten, wer es war – würde uns das wirklich so viel nützen? Müsste dann die Geschichte der NS-Zeit neu geschrieben werden?

Lammert: Ich persönlich glaube das eher nicht, weil der Brand zwar ganz sicher ein unter jedem Gesichtspunkt auffälliges Signal war und rückblickend ja geradezu so wirkt und wirken muss, als sei damals nicht nur ein Gebäude, sondern die Weimarer Demokratie in Brand gesteckt worden, aber gerade, wer die Perfidie der strategischen Systemveränderung durch die Nationalsozialisten im Blick hat, der wird nicht ernsthaft vermuten können, dass die Geschichte des Nationalsozialismus völlig anders und schon gar harmloser verlaufen wäre, wenn es den Reichstagsbrand nicht gegeben hätte.

Timm: Herr Lammert, ich erinnere mich noch gut: Als der Bundestag nach Berlin zog, da stießen sich viele Menschen am Wort Reichstag, brachten ihn vor allem mit den Nazis in Verbindung, obwohl der Reichstag ja schon vorher das Parlament der Weimarer Republik beherbergt hat. Inzwischen hat das Gebäude eine wunderbare Kuppel, ist das Touristenziel in Berlin und durfte zwischenzeitlich von Christo sogar eingepackt werden. Hat der Reichstag den kompletten Imagewechsel geschafft inzwischen?

Lammert: Ich sehe den Imagewechsel auch jedenfalls nicht so, wie Sie ihn gerade charakterisiert haben. Ich bin ziemlich sicher, dass es die erstaunlich schnelle und erstaunlich breite Mehrheit im Deutschen Bundestag, das Reichstagsgebäude als Sitz eines frei gewählten Parlaments des wiedervereinigten Deutschlands zu nutzen, gar nicht gegeben hätte, wenn die Abgeordneten das Reichstagsgebäude als Symbol für die Zeit des Nationalsozialismus gesehen hätten. Das hätte eine vermutlich geradezu ausschließende Wirkung gehabt. Unter diesem Gesichtspunkt war der Reichstagsbrand beinahe ein glückliches Ereignis, weil er zur Folge hatte, dass dieses Gebäude für die Zeit des Nationalsozialismus als Parlamentsgebäude nicht mehr zur Verfügung stand. Insofern ist das Reichstagsgebäude ein Gebäude, das die Frühphase des deutschen Parlamentarismus verkörpert, Aufstieg und Fall der ersten deutschen Demokratie. Und daran haben wir angeknüpft mit der Wiederherstellung dieses Gebäudes als Sitz eines frei gewählten demokratischen Parlaments.

Timm: Herr Lammert, ich danke Ihnen ganz herzlich und ich wünsche Ihnen einen schönen Tag!

Lammert: Ihnen auch, alles Gute, Frau Timm!

Timm: Norbert Lammert war das, der Präsident des Deutschen Bundestages. Wir sprachen mit ihm aus Anlass des Reichstagsbrands vor 80 Jahren.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Links bei dradio.de:

Das Rätsel Reichstagsbrand
Alexander Bahar/Wilfried Kugel: "Der Reichstagsbrand", Papyrossa Verlagsgesellschaft; Josh van Soer (Hg.): "Marinus van der Lubbe und der Reichstagsbrand", Edition Nautilus


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