Ländliche Geschichten von archaischer Wucht

06.09.2012
Die österreichische Lyrikerin Christine Lavant litt Zeit ihres Lebens an den Folgen einer Skrofulose. Einzig im Schreiben fand sie Trost und Halt. Der Göttinger Wallstein Verlag hat nun ihre Erzählung "Das Wechselbälgchen" neu aufgelegt.
Die 1915 in St. Stefan im Lavanttal/Kärnten geborene Christine Lavant (gest. 1973) beleuchtet in Gedichten und Prosa stets die Schattenseiten irdischer Existenz. Thomas Bernhard, der 1987 in der Bibliothek Suhrkamp eine Auswahl aus dem poetischen Hauptwerk Lavants herausgab, bezeichnete ihre Lyrik als das "elementare Zeugnis eines von allen guten Geistern missbrauchten Menschen". Mit dieser Äußerung verweist Bernhard auf eine Existenz in größter Armut, aber auch auf ein grandioses literarisches Werk, das vielfach missverstanden wurde und bis heute wenig Beachtung findet.

Im Alter von zwölf Jahren erkrankt Christine Habernig (geb. Thonhauser) an Skrofulose und entkommt nur knapp dem Tod. Die Krankheitshöllen hinterlassen nicht nur äußerlich Narben, sondern auch eine starke Hör- und Sehschwäche sowie ein chronisches Lungenleiden. Einzig im Schreiben findet sie Trost und Halt. Ihr tiefer Zweifel an den gemeinhin geltenden Ordnungs- und Glaubenssystemen verwandelt sich dabei in eine einzigartige künstlerische Produktivität.

Dass in der großen Lyrikerin Lavant auch eine exzellente Erzählerin steckt, ist anhand der Erzählung "Das Wechselbälgchen" erneut zu entdecken. Zwischen 1945 und 1949 entstanden, konnte der Text erst 1998 nach einer konfliktreichen Publikationsodyssee im Otto Müller Verlag Wien erscheinen. In einem die vorliegende Neuedition begleitenden Nachwort ist nun zu erfahren, dass sich der Göttinger Wallstein Verlag künftig um das Werk der großen Österreicherin kümmern wird.

Im "Wechselbälgchen" spannt Lavant einen großen Bogen, der von der Sage eines "missratenen" Kindes, das - wie es heißt - der Wöchnerin von bösen Geistern "untergeschoben" wird, bis zur Vernichtung "unwerten" Lebens im 20. Jahrhundert reicht.

Die einäugige Kuhmagd Wrga hat solch einen Wechselbalg, den sie liebevoll Zitha nennt. Täglich behütet sie es vor den Übergriffen, die selbst von ihrem Ehemann Lenz zu befürchten sind. Erst als Zitha bei einem von Lenz angestifteten Unglück ihr Leben für die Rettung der Halbschwester Magdalena einsetzt, gerät die von Aberglauben und enger Moral geschnürte Welt ins Wanken. Die Zeit steht einen Moment lang still und in der Gemeinde deutet sich zaghaft ein Umdenken an.

Zithas stumme, für die Dorfbewohner vor allem unheilvolle Existenz wird bei Lavant zur Parabel über die Sündhaftigkeit des Individuums, die Strafe Gottes und den Glauben an Gerechtigkeit. Dabei rückt die aus ärmlichsten Verhältnissen stammende Wrga ins Zentrum der Handlung. Sie, die nie ein Zuhause hatte und vielen als wertlose Menschin erscheint, besitzt jene Herzenswärme, die den anderen fehlt.

Christine Lavant beschreibt einen absurden Kosmos, wo Mägde, Knechte und Gutsherren in einer strengen und brutalen sozialen Hierarchie befangen sind. Sie spürt Geschichten auf, die von archaischer Wucht sind und doch ganz gegenwärtig. Dabei geht sie immer wieder der Sprache auf den Grund, die Mitschuld trägt an der Feindseligkeit allem und jedem gegenüber, das fremd und anders ist.

Besprochen von Carola Wiemers

Christine Lavant: Das Wechselbälgchen. Erzählung.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012
104 Seiten, 16,90 Euro