Ladan und Osman
Seit fast zwei Jahrzehnten herrscht Krieg in Somalia. Die humanitäre Lage ist katastrophal, auch weil sich kaum noch Hilfsorganisationen in das Land trauen. Wer die Möglichkeit hat, flieht wie Ladan und Osman. Jetzt leben sie mit knapp 300.000 Menschen im kenianischen Lager Dadaab, knapp hinter der Grenze zu Somalia.
Sie kommen schon früh. Morgens gegen sechs, sobald die Sonne aufgeht, versammeln sich die ersten Menschen vor den Toren am Flüchtlingslager Dadaab. Jeden Tag sind es hunderte. Sie wollen hier in Kenia, einige Kilometer hinter der Grenze, der Gewalt und dem Elend in ihrem Heimatland Somalia entfliehen. Seit mehr als 18 Jahren herrscht dort Krieg. Clanführer, Islamisten und schwache Regierungstruppen kämpfen um Macht und Einfluss – Verlierer ist immer die Bevölkerung. Fast eine Million Menschen sind Schätzungen zufolge seit 1991 durch die ständigen Auseinandersetzungen getötet worden.
Um acht Uhr werden die Tore in Dadaab geöffnet. Ordner sorgen dafür, dass sich die hereinströmenden Massen in zwei langen Schlangen anstellen. Frauen und Kinder getrennt von den Männern. Sie warten darauf, registriert zu werden. Dann sind sie offiziell Flüchtlinge.
Unter den Frauen ist an diesem Morgen Ladan. Anfang dreißig, die Haare unter einem langen schwarzen Tuch verborgen. Sie trägt ein Baby auf dem Arm, das müde aus den Augen blinzelt. Von hinten drängt sich Schutz suchend ein Mädchen an sie. Die drei waren wochenlang unterwegs, um nach Dadaab zu kommen.
"Die meiste Zeit waren wir zu Fuß unterwegs. Das war sehr anstrengend. Manchmal haben uns andere geholfen und uns ein kurzes Stück mitgenommen."
Ladan und ihre Familie stammen aus der Gegend um Sako, eine Stadt im Süden Somalias. Die Region wird von radikal-islamischen Gruppen kontrolliert. Sie kennen keine Gnade, wenn sich jemand nicht ihren strengen Gesetzen unterwirft. Verschärft wird die Lage noch durch eine seit Monaten anhaltende Dürre. Die Menschen leiden Hunger. Hilfslieferungen kommen häufig erst gar nicht durch oder werden von Milizen beschlagnahmt.
"Wir sind hierher geflohen, weil wir hoffen, versorgt zu werden. Es gibt Essen und Wasser. Die Kinder können zur Schule gehen. Wir wollen einfach Frieden."
Für Ladan bedeutet Dadaab Hoffnung. Die Aussicht auf einen Neuanfang.
Andere im Lager haben den Glauben daran verloren. Sie sind schon seit Jahren hier – und warten immer noch darauf, dass es weitergeht.
In Dagahaley, einem der drei Camps in Dadaab, wird Essen verteilt. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen gibt Säcke mit den Grundnahrungsmitteln für rund zwei Wochen aus. Auch Osman holt seine Ration ab:
"Ich bin im Februar 1992 hergekommen. Ich lebe im Block D Null. Ich bin hier zur Schule gegangen und habe 1998 meinen Abschluss gemacht. Jetzt bin ich 32 Jahre alt."
Mehr als sein halbes Leben hat Osman im Lager verbracht. Ist von einem 15-jährigen Jungen zum Mann geworden. Er hat geheiratet, seine Frau ist hochschwanger mit dem vierten Kind. Osmans Mutter, die damals mit ihm geflohen war, starb inzwischen im Lager.
Osman: " Wir sind hier hingekommen, weil 1990 der Bürgerkrieg ausgebrochen war. Am schlimmsten war es 1991. Menschen wurden getötet, erschossen. Wir haben in der Grenzregion gelebt, nah an Kenia. Wir haben uns entschlossen, aus Somalia zu fliehen. Um in Kenia Frieden zu finden."
Osman lernte Dadaab noch in den Anfängen kennen. Für 90.000 Menschen war das Lager einst ausgelegt – inzwischen sind es fast 300.000, die hier leben. Das größte Flüchtlingslager der Welt. Ausreichend Platz ist nicht. Darum soll zumindest ein Teil der Flüchtlinge umgesiedelt werden. Nach Kakuma, 1500 Kilometer entfernt, in ein Lager, in dem bislang vor allem Vertriebene aus dem Südsudan untergebracht wurden. Aber der Umzug ist teuer. Drei Tage dauert die Fahrt mit dem Bus nach Kakuma, zwischendurch zwei Übernachtungen. In dieser Zeit sind in Dadaab dann wieder hunderte Flüchtlinge angekommen.
Osman: " Je mehr Menschen ins Lager kommen, desto größer werden auch die Probleme im Camp. Das ist etwas, was wir jeden Tag aufs Neue erleben."
Geberländer und Hilfsorganisationen haben vor einigen Wochen einen Brief an die kenianische Regierung geschrieben. Dadaab muss dringend erweitert werden, heißt es darin. Zu den drei Lagern soll ein viertes hinzukommen. Aber die Regierung hält davon nichts. Sie will nicht noch mehr Land an die Flüchtlinge abgeben. Die Einwohner der Orte rund um Dadaab sind ohnehin unzufrieden. Sie beschweren sich, weil die Menschen im Lager mit Nahrungsmitteln versorgt werden, während sie selbst unter der Dürre leiden, ihr Vieh wegstirbt und die Pflanzen auf den Feldern eingehen. Das wenige Wasser, das in der Region noch vorhanden ist, wird zum Großteil durch die Brunnen im Lager abgezapft.
Deshalb versucht die kenianische Regierung, Dadaab nicht noch größer werden zu lassen. Zumindest flächenmäßig.
Osman: "Es ist schwer, noch einen Platz zu finden. Wenn beispielsweise eine neue Familie ins Lager kommt, wird sie zwar registriert und bekommt eine Lebensmittelkarte. Aber wo die Menschen leben sollen, wissen sie nicht. Manchmal versuchen sie sogar, sich einen Platz zu kaufen. Nur das ist sehr, sehr teuer."
Ladan ist in der Schlange vorangekommen. Sie steht vor dem Registrierungsschalter. Papiere hat sie nicht dabei – die hat hier kaum jemand. Die zuständige Mitarbeiterin fragt Ladan nach ihrem Namen, dem ihrer Kinder, und warum sie geflohen ist.
Ladan: "Es gab Kämpfe in unserer Stadt. Die Menschen sind wild durcheinander gelaufen. Ich habe meinen Mann und die anderen beiden Kinder verloren. Ich weiß bis heute nicht, wo sie sind."
Solche Geschichten hören die Mitarbeiter hier ständig. Familien werden auseinandergerissen. Die Flüchtlinge haben Grausames gesehen, viele sind traumatisiert. Aber bei der Ankunft in Dadaab ist keine Zeit für tröstende Worte oder Unterstützung. Hier geht es um Formalitäten.
In welchem der drei Camps sie leben will, fragt die Mitarbeiterin. In Ifo, das ist eins der beiden größeren, sagt Ladan, in Block B. Die Flüchtlinge können sich aussuchen, wo sie unterkommen. Oder anders gesagt: Sie müssen selbst einen Platz finden. Es gibt keine bessere Lösung, sagt Marc Nzano, der die Registrierungsstelle leitet. Schon seit dem vergangenen Jahr sind alle drei Lager offiziell am Ende ihrer Kapazität.
Marc Nzano: "Früher war es vorgeschrieben, da wurden sie immer erst in Dagahaley aufgenommen. Aber jetzt haben wir so einen Ansturm. Flüchtlinge kommen mit ihren Familien überall unter. Darum müssen wir sie fragen, wo sie hier leben. Sie entscheiden, in welchem Camp sie registriert werden wollen."
So soll gleichzeitig verhindert werden, dass Mitglieder verfeindeter Gruppen sich plötzlich als Nachbarn im Lager wiederfinden. Akzeptiert in Dadaab wird jeder, der sich als Flüchtling ausgibt. Darum können auch Milizionäre und Islamisten hier untertauchen. Wie die der radikalislamischen Al Shabab-Gruppierung, die große Teile Somalias terrorisiert und Verbindungen zur Terrororganisation El Kaida haben soll. Es gibt Berichte, dass Al Shabab gezielt Mitglieder nach Dadaab schickt. Sie haben den Auftrag, im Lager junge Männer als Kämpfer anzuwerben.
"Wenn jemand Al Shabab angehört, können wir das nur schwer feststellen, denn sie haben ja keine Papiere dabei. Jeder, der ankommt, wird aufgenommen."
Die nächste Station bei der Anmeldung: Die medizinische Untersuchung. Ladans Baby ist sieben Monate alt, ein kleines Mädchen. Es muss jetzt die ersten Spritzen seines Lebens über sich ergehen lassen.
Arzt: "Wir geben ihr etwas gegen Durchfall, sie wird gegen Kinderlähmung geimpft und bekommt Vitamin A, erklärt der Arzt. Ladan macht das Ärmchen frei und klopft ihrer Kleinen beruhigend auf den Rücken. Doch der Schreck ist trotzdem groß."
Ein schmerzvoller Anfang für das Leben im Camp. Ladan und die größere Tochter, zwölf Jahre alt, machen einen gesunden Eindruck und werden erstmal nicht behandelt. Sobald sie aufgenommen sind, können sie sich in den nächsten Tagen aber noch an eines der Gesundheitszentren im Lager wenden.
Osman hat inzwischen einen Sack bei der Essensverteilung bekommen. Er muss seine Lebensmittelkarte abstempeln lassen, damit er sich nicht noch mal anstellen kann.
Osman: " Wir bekommen zweimal im Monat etwas. Das hier ist die erste Verteilung in diesem Monat."
In den Säcken sind Maismehl, getrocknete Bohnen und einige Dosen Pflanzenöl. So soll der Grundbedarf von 2.100 Kalorien am Tag pro Person gedeckt werden. Im vergangenen Jahr musste das Welternährungsprogramm trotzdem einräumen, dass ein Drittel der Menschen im Lager an akuter Mangelernährung leidet. Besonders Kinder unter fünf Jahren sind betroffen. Das liegt daran, dass Flüchtlinge ihre Rationen verkaufen, weil sie Geld brauchen, um sich einen guten Platz im Lager zu sichern. Oder weil sie das Essen für Brennholz abgeben. Die zugeteilten Lebensmittel sind für viele die einzige Währung. Sie haben nichts anderes.
Auch Osman wird nicht alles aus dem Sack behalten. Er tauscht aber nicht aus Not.
Osman: "Meine Familie kann nicht nur von diesem Essen leben. Beispielsweise meine Kinder mögen es nicht. Darum müssen wir andere Dinge kaufen. Wie Nudeln und Reis. Sogar die Bohnen, die wir bekommen, sind nicht die, die wir essen. Es sind andere."
Die kleinen roten Bohnen sind nicht nach Osmans Geschmack. Auch viele andere der Lebensmittel aus dem Sack ist er leid. 17 Jahre im Camp – da kann man nicht immer nur das Gleiche essen. Zum Glück verdient Osman ein wenig Geld. Er hat nach der Schule einen Abschluss in Sozialarbeit gemacht. Jetzt ist er bei der Hilfsorganisation Care beschäftigt und berät Frauen, die sich mit Nähen oder Kochen etwas dazu verdienen wollen.
Osman: "Sie machen sich selbstständig und verschaffen sich so ein kleines Einkommen. Manche eröffnen einen Kiosk, andere verkaufen Kleindung. Es sind diese kleinen Geschäfte."
Allerdings ist es Flüchtlingen in Kenia verboten, Geld zu verdienen. Sie dürfen nur Aufwandsentschädigungen bekommen, wenn sie mithelfen, das Lager am Laufen zu halten. Auch Osman wird darum in Dadaab immer von Hilfslieferungen abhängig bleiben. Trotz seiner guten Ausbildung - Care darf ihm für seine Arbeit nur ein Taschengeld zahlen.
Ladan muss ihr Kopftuch abnehmen. Sie hat die letzte Stelle der Aufnahme-Prozedur erreicht. Ihre Daten werden im Computer erfasst, Fingerabdrücke genommen und Fotos von ihr und ihren Kindern gemacht. Dabei muss das Gesicht ganz zu sehen sein. Der Mitarbeiter fragt nach dem Rest ihrer Familie. Was ist mit dem Mann und den übrigen Kindern?
"Ich weiß nicht, ob er noch lebt, oder ob er getötet wurde. Ob er und die beiden anderen Kinder überhaupt noch in Somalia sind."
Trotzdem werden auch die Daten der Vermissten aufgenommen. Eine weitere Tochter, die Ladan zurückgelassen hat, ist sieben Jahre alt, der einzige Sohn gerade mal drei. Irgendwann in den nächsten Wochen wird Ladan erfahren, was aus ihnen und ihrem Mann geworden ist. Und hoffentlich ein Lebenszeichen erhalten. Vielleicht kommt die Familie wieder zusammen. Vorerst aber muss Ladan es allein schaffen, sich mit ihrem Baby und ihrer ältesten Tochter ein Leben in Dadaab aufzubauen.
"Ich habe hier keine Verwandten. Aber ich habe einige meiner früheren Nachbarn aus Somalia hier getroffen."
Es ist später Nachmittag, als Ladan mit ihren Kindern die Registrierungsstelle verlässt. Ihnen steht ein weiterer Fußmarsch bevor, rund zehn Kilometer bis zu ihrem Camp. Dann sind Ladan und ihre Töchter tatsächlich angekommen. Dadaab, das völlig überfüllte Flüchtlingslager, ist jetzt ihr Zuhause – vielleicht für Monate, vielleicht für Jahre.
Bei Osman zu Hause ist es ganz still. Nach all dem Geschrei und Trubel im Lager findet sich hier eine Oase der Ruhe. Osman bringt seinen Sack mit Lebensmitteln in das mit einem Zaun aus Zweigen abgesteckte Areal. Er hat ein kleines Haus. Es besteht zwar nur aus einem Raum, ist aber solide mit Lehmziegeln gebaut:
"Das hier ist allein für meine Familie, es ist unser Schlafzimmer. Dann haben wir noch einen Schattenplatz draußen und einen Raum zum Kochen, der ist für die Frauen, die sind dafür zuständig."
Im Schlafzimmer steht ein Bett, eine Matratze liegt auf dem Boden und es gibt ein Regal für Kleidung. Osmans drei Söhne spielen draußen. Der Jüngste kann gerade mal laufen, der Älteste ist vier. Die Kinder sind in Kenia geboren, aber keine Kenianer. Sie wachsen auf im Niemandsland.
Osman: " Es gibt keine Hoffnung, zurückgehen zu können. Die neugebildete Regierung bricht schon wieder fast zusammen. Al Shabab und andere Gruppen zerstören das ganze Land."
Osman informiert sich zwar noch, was in Somalia passiert. Aber er fühlt sich dabei als Außenstehender. Das Bürgerkriegsland ist schon lange nicht mehr seine Heimat. Eine neue hat er noch nicht gefunden:
"Es liegt alles in Gottes Hand. Aber wir haben Hoffnung, denn wir sind hier schon 1992 angekommen und viele andere konnten seitdem in ein anderes Land ausreisen. Wir gehen davon aus, dass es für uns auch bald so weit ist. Vielleicht schon Ende dieses Jahres, oder früh im nächsten Jahr."
Diese Hoffnung bleibt – von Jahr zu Jahr. In die USA, nach Kanada oder Australien könnte es gehen. Für Osman wäre dann ein Traum wahr geworden. Doch so wie er warten darauf zehntausende in Dadaab. Und jeden Tag kommen neue Flüchtlinge aus Somalia. Am frühen Morgen stellen sie sich wieder vor den Toren an.
Um acht Uhr werden die Tore in Dadaab geöffnet. Ordner sorgen dafür, dass sich die hereinströmenden Massen in zwei langen Schlangen anstellen. Frauen und Kinder getrennt von den Männern. Sie warten darauf, registriert zu werden. Dann sind sie offiziell Flüchtlinge.
Unter den Frauen ist an diesem Morgen Ladan. Anfang dreißig, die Haare unter einem langen schwarzen Tuch verborgen. Sie trägt ein Baby auf dem Arm, das müde aus den Augen blinzelt. Von hinten drängt sich Schutz suchend ein Mädchen an sie. Die drei waren wochenlang unterwegs, um nach Dadaab zu kommen.
"Die meiste Zeit waren wir zu Fuß unterwegs. Das war sehr anstrengend. Manchmal haben uns andere geholfen und uns ein kurzes Stück mitgenommen."
Ladan und ihre Familie stammen aus der Gegend um Sako, eine Stadt im Süden Somalias. Die Region wird von radikal-islamischen Gruppen kontrolliert. Sie kennen keine Gnade, wenn sich jemand nicht ihren strengen Gesetzen unterwirft. Verschärft wird die Lage noch durch eine seit Monaten anhaltende Dürre. Die Menschen leiden Hunger. Hilfslieferungen kommen häufig erst gar nicht durch oder werden von Milizen beschlagnahmt.
"Wir sind hierher geflohen, weil wir hoffen, versorgt zu werden. Es gibt Essen und Wasser. Die Kinder können zur Schule gehen. Wir wollen einfach Frieden."
Für Ladan bedeutet Dadaab Hoffnung. Die Aussicht auf einen Neuanfang.
Andere im Lager haben den Glauben daran verloren. Sie sind schon seit Jahren hier – und warten immer noch darauf, dass es weitergeht.
In Dagahaley, einem der drei Camps in Dadaab, wird Essen verteilt. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen gibt Säcke mit den Grundnahrungsmitteln für rund zwei Wochen aus. Auch Osman holt seine Ration ab:
"Ich bin im Februar 1992 hergekommen. Ich lebe im Block D Null. Ich bin hier zur Schule gegangen und habe 1998 meinen Abschluss gemacht. Jetzt bin ich 32 Jahre alt."
Mehr als sein halbes Leben hat Osman im Lager verbracht. Ist von einem 15-jährigen Jungen zum Mann geworden. Er hat geheiratet, seine Frau ist hochschwanger mit dem vierten Kind. Osmans Mutter, die damals mit ihm geflohen war, starb inzwischen im Lager.
Osman: " Wir sind hier hingekommen, weil 1990 der Bürgerkrieg ausgebrochen war. Am schlimmsten war es 1991. Menschen wurden getötet, erschossen. Wir haben in der Grenzregion gelebt, nah an Kenia. Wir haben uns entschlossen, aus Somalia zu fliehen. Um in Kenia Frieden zu finden."
Osman lernte Dadaab noch in den Anfängen kennen. Für 90.000 Menschen war das Lager einst ausgelegt – inzwischen sind es fast 300.000, die hier leben. Das größte Flüchtlingslager der Welt. Ausreichend Platz ist nicht. Darum soll zumindest ein Teil der Flüchtlinge umgesiedelt werden. Nach Kakuma, 1500 Kilometer entfernt, in ein Lager, in dem bislang vor allem Vertriebene aus dem Südsudan untergebracht wurden. Aber der Umzug ist teuer. Drei Tage dauert die Fahrt mit dem Bus nach Kakuma, zwischendurch zwei Übernachtungen. In dieser Zeit sind in Dadaab dann wieder hunderte Flüchtlinge angekommen.
Osman: " Je mehr Menschen ins Lager kommen, desto größer werden auch die Probleme im Camp. Das ist etwas, was wir jeden Tag aufs Neue erleben."
Geberländer und Hilfsorganisationen haben vor einigen Wochen einen Brief an die kenianische Regierung geschrieben. Dadaab muss dringend erweitert werden, heißt es darin. Zu den drei Lagern soll ein viertes hinzukommen. Aber die Regierung hält davon nichts. Sie will nicht noch mehr Land an die Flüchtlinge abgeben. Die Einwohner der Orte rund um Dadaab sind ohnehin unzufrieden. Sie beschweren sich, weil die Menschen im Lager mit Nahrungsmitteln versorgt werden, während sie selbst unter der Dürre leiden, ihr Vieh wegstirbt und die Pflanzen auf den Feldern eingehen. Das wenige Wasser, das in der Region noch vorhanden ist, wird zum Großteil durch die Brunnen im Lager abgezapft.
Deshalb versucht die kenianische Regierung, Dadaab nicht noch größer werden zu lassen. Zumindest flächenmäßig.
Osman: "Es ist schwer, noch einen Platz zu finden. Wenn beispielsweise eine neue Familie ins Lager kommt, wird sie zwar registriert und bekommt eine Lebensmittelkarte. Aber wo die Menschen leben sollen, wissen sie nicht. Manchmal versuchen sie sogar, sich einen Platz zu kaufen. Nur das ist sehr, sehr teuer."
Ladan ist in der Schlange vorangekommen. Sie steht vor dem Registrierungsschalter. Papiere hat sie nicht dabei – die hat hier kaum jemand. Die zuständige Mitarbeiterin fragt Ladan nach ihrem Namen, dem ihrer Kinder, und warum sie geflohen ist.
Ladan: "Es gab Kämpfe in unserer Stadt. Die Menschen sind wild durcheinander gelaufen. Ich habe meinen Mann und die anderen beiden Kinder verloren. Ich weiß bis heute nicht, wo sie sind."
Solche Geschichten hören die Mitarbeiter hier ständig. Familien werden auseinandergerissen. Die Flüchtlinge haben Grausames gesehen, viele sind traumatisiert. Aber bei der Ankunft in Dadaab ist keine Zeit für tröstende Worte oder Unterstützung. Hier geht es um Formalitäten.
In welchem der drei Camps sie leben will, fragt die Mitarbeiterin. In Ifo, das ist eins der beiden größeren, sagt Ladan, in Block B. Die Flüchtlinge können sich aussuchen, wo sie unterkommen. Oder anders gesagt: Sie müssen selbst einen Platz finden. Es gibt keine bessere Lösung, sagt Marc Nzano, der die Registrierungsstelle leitet. Schon seit dem vergangenen Jahr sind alle drei Lager offiziell am Ende ihrer Kapazität.
Marc Nzano: "Früher war es vorgeschrieben, da wurden sie immer erst in Dagahaley aufgenommen. Aber jetzt haben wir so einen Ansturm. Flüchtlinge kommen mit ihren Familien überall unter. Darum müssen wir sie fragen, wo sie hier leben. Sie entscheiden, in welchem Camp sie registriert werden wollen."
So soll gleichzeitig verhindert werden, dass Mitglieder verfeindeter Gruppen sich plötzlich als Nachbarn im Lager wiederfinden. Akzeptiert in Dadaab wird jeder, der sich als Flüchtling ausgibt. Darum können auch Milizionäre und Islamisten hier untertauchen. Wie die der radikalislamischen Al Shabab-Gruppierung, die große Teile Somalias terrorisiert und Verbindungen zur Terrororganisation El Kaida haben soll. Es gibt Berichte, dass Al Shabab gezielt Mitglieder nach Dadaab schickt. Sie haben den Auftrag, im Lager junge Männer als Kämpfer anzuwerben.
"Wenn jemand Al Shabab angehört, können wir das nur schwer feststellen, denn sie haben ja keine Papiere dabei. Jeder, der ankommt, wird aufgenommen."
Die nächste Station bei der Anmeldung: Die medizinische Untersuchung. Ladans Baby ist sieben Monate alt, ein kleines Mädchen. Es muss jetzt die ersten Spritzen seines Lebens über sich ergehen lassen.
Arzt: "Wir geben ihr etwas gegen Durchfall, sie wird gegen Kinderlähmung geimpft und bekommt Vitamin A, erklärt der Arzt. Ladan macht das Ärmchen frei und klopft ihrer Kleinen beruhigend auf den Rücken. Doch der Schreck ist trotzdem groß."
Ein schmerzvoller Anfang für das Leben im Camp. Ladan und die größere Tochter, zwölf Jahre alt, machen einen gesunden Eindruck und werden erstmal nicht behandelt. Sobald sie aufgenommen sind, können sie sich in den nächsten Tagen aber noch an eines der Gesundheitszentren im Lager wenden.
Osman hat inzwischen einen Sack bei der Essensverteilung bekommen. Er muss seine Lebensmittelkarte abstempeln lassen, damit er sich nicht noch mal anstellen kann.
Osman: " Wir bekommen zweimal im Monat etwas. Das hier ist die erste Verteilung in diesem Monat."
In den Säcken sind Maismehl, getrocknete Bohnen und einige Dosen Pflanzenöl. So soll der Grundbedarf von 2.100 Kalorien am Tag pro Person gedeckt werden. Im vergangenen Jahr musste das Welternährungsprogramm trotzdem einräumen, dass ein Drittel der Menschen im Lager an akuter Mangelernährung leidet. Besonders Kinder unter fünf Jahren sind betroffen. Das liegt daran, dass Flüchtlinge ihre Rationen verkaufen, weil sie Geld brauchen, um sich einen guten Platz im Lager zu sichern. Oder weil sie das Essen für Brennholz abgeben. Die zugeteilten Lebensmittel sind für viele die einzige Währung. Sie haben nichts anderes.
Auch Osman wird nicht alles aus dem Sack behalten. Er tauscht aber nicht aus Not.
Osman: "Meine Familie kann nicht nur von diesem Essen leben. Beispielsweise meine Kinder mögen es nicht. Darum müssen wir andere Dinge kaufen. Wie Nudeln und Reis. Sogar die Bohnen, die wir bekommen, sind nicht die, die wir essen. Es sind andere."
Die kleinen roten Bohnen sind nicht nach Osmans Geschmack. Auch viele andere der Lebensmittel aus dem Sack ist er leid. 17 Jahre im Camp – da kann man nicht immer nur das Gleiche essen. Zum Glück verdient Osman ein wenig Geld. Er hat nach der Schule einen Abschluss in Sozialarbeit gemacht. Jetzt ist er bei der Hilfsorganisation Care beschäftigt und berät Frauen, die sich mit Nähen oder Kochen etwas dazu verdienen wollen.
Osman: "Sie machen sich selbstständig und verschaffen sich so ein kleines Einkommen. Manche eröffnen einen Kiosk, andere verkaufen Kleindung. Es sind diese kleinen Geschäfte."
Allerdings ist es Flüchtlingen in Kenia verboten, Geld zu verdienen. Sie dürfen nur Aufwandsentschädigungen bekommen, wenn sie mithelfen, das Lager am Laufen zu halten. Auch Osman wird darum in Dadaab immer von Hilfslieferungen abhängig bleiben. Trotz seiner guten Ausbildung - Care darf ihm für seine Arbeit nur ein Taschengeld zahlen.
Ladan muss ihr Kopftuch abnehmen. Sie hat die letzte Stelle der Aufnahme-Prozedur erreicht. Ihre Daten werden im Computer erfasst, Fingerabdrücke genommen und Fotos von ihr und ihren Kindern gemacht. Dabei muss das Gesicht ganz zu sehen sein. Der Mitarbeiter fragt nach dem Rest ihrer Familie. Was ist mit dem Mann und den übrigen Kindern?
"Ich weiß nicht, ob er noch lebt, oder ob er getötet wurde. Ob er und die beiden anderen Kinder überhaupt noch in Somalia sind."
Trotzdem werden auch die Daten der Vermissten aufgenommen. Eine weitere Tochter, die Ladan zurückgelassen hat, ist sieben Jahre alt, der einzige Sohn gerade mal drei. Irgendwann in den nächsten Wochen wird Ladan erfahren, was aus ihnen und ihrem Mann geworden ist. Und hoffentlich ein Lebenszeichen erhalten. Vielleicht kommt die Familie wieder zusammen. Vorerst aber muss Ladan es allein schaffen, sich mit ihrem Baby und ihrer ältesten Tochter ein Leben in Dadaab aufzubauen.
"Ich habe hier keine Verwandten. Aber ich habe einige meiner früheren Nachbarn aus Somalia hier getroffen."
Es ist später Nachmittag, als Ladan mit ihren Kindern die Registrierungsstelle verlässt. Ihnen steht ein weiterer Fußmarsch bevor, rund zehn Kilometer bis zu ihrem Camp. Dann sind Ladan und ihre Töchter tatsächlich angekommen. Dadaab, das völlig überfüllte Flüchtlingslager, ist jetzt ihr Zuhause – vielleicht für Monate, vielleicht für Jahre.
Bei Osman zu Hause ist es ganz still. Nach all dem Geschrei und Trubel im Lager findet sich hier eine Oase der Ruhe. Osman bringt seinen Sack mit Lebensmitteln in das mit einem Zaun aus Zweigen abgesteckte Areal. Er hat ein kleines Haus. Es besteht zwar nur aus einem Raum, ist aber solide mit Lehmziegeln gebaut:
"Das hier ist allein für meine Familie, es ist unser Schlafzimmer. Dann haben wir noch einen Schattenplatz draußen und einen Raum zum Kochen, der ist für die Frauen, die sind dafür zuständig."
Im Schlafzimmer steht ein Bett, eine Matratze liegt auf dem Boden und es gibt ein Regal für Kleidung. Osmans drei Söhne spielen draußen. Der Jüngste kann gerade mal laufen, der Älteste ist vier. Die Kinder sind in Kenia geboren, aber keine Kenianer. Sie wachsen auf im Niemandsland.
Osman: " Es gibt keine Hoffnung, zurückgehen zu können. Die neugebildete Regierung bricht schon wieder fast zusammen. Al Shabab und andere Gruppen zerstören das ganze Land."
Osman informiert sich zwar noch, was in Somalia passiert. Aber er fühlt sich dabei als Außenstehender. Das Bürgerkriegsland ist schon lange nicht mehr seine Heimat. Eine neue hat er noch nicht gefunden:
"Es liegt alles in Gottes Hand. Aber wir haben Hoffnung, denn wir sind hier schon 1992 angekommen und viele andere konnten seitdem in ein anderes Land ausreisen. Wir gehen davon aus, dass es für uns auch bald so weit ist. Vielleicht schon Ende dieses Jahres, oder früh im nächsten Jahr."
Diese Hoffnung bleibt – von Jahr zu Jahr. In die USA, nach Kanada oder Australien könnte es gehen. Für Osman wäre dann ein Traum wahr geworden. Doch so wie er warten darauf zehntausende in Dadaab. Und jeden Tag kommen neue Flüchtlinge aus Somalia. Am frühen Morgen stellen sie sich wieder vor den Toren an.