Labor des Grauens

09.02.2012
Block 10 war ein besonderer Ort in der Hölle von Auschwitz. Dort vollzogen Ärzte ihre grausamen Experimente an Gefangenen - mit Röntgenstrahlung, Giftspritze und Skalpell. Die Probanden, meist Frauen, litten qualvoll. Hans-Joachim Lang hat ihre Geschichte aufgeschrieben.
Der KZ-Arzt Josef Mengele erscheint in diesem Buch über Auschwitz nur am Rand. Wir erfahren: Es gab noch andere Ärzte, die im Lager genau das machten, was Mengele machte - mörderische Menschenversuche. Von ihren Opfern finde sich kaum eine Spur, klagt der Journalist und Germanist Hans-Joachim Lang. "Aber alles bleibt unerreichbar für die Vorstellungskraft, wenn die Schauplätze der Geschichtsschreibung menschenleer sind, weil nur Fakten und Zahlen regieren." Das ändert Lang mit seinem Buch "Die Frauen von Block 10": Die Opfer bekommen Namen, Gesicht, Biografie.

Block 10, ein zweistöckiger Ziegelbau, war ein besonderer Ort in der Hölle von Auschwitz, ein Labor. Zwei Ärzte testeten hier ab 1942/43 Methoden der Massensterilisierung - mit Röntgenstrahlung, Giftspritze und Skalpell. Andere Mediziner machten Experimente zu Gebärmutterkrebs und Rheuma. Die Probanden (in der Mehrheit Frauen) litten qualvoll, erkrankten, etliche starben nach Tagen, aber kaum jemand wagte zu klagen oder sich gar zu verweigern. Denn wer nicht parierte, kam ins Arbeitskommando - oder in die Gaskammer.

Hans-Joachim Lang beschreibt das Labor und die Vorgänge im Block bis ins schmerzhafte Detail: das Haus, sein Inneres; den Ablauf der Experimente; die Mediziner - Herkunft und Sozialisierung, Rassenwahn und Geltungsdrang, ihre Launen, ihr Vorgehen; die Frauen, Jüdinnen aus halb Europa, 400 Menschen auf engstem Raum. Lang skizziert den Alltag aus Angst, Verzweiflung und lähmender Langeweile. Er analysiert die Rolle der jüdischen Assistenzärzte, die selbst Gefangene waren. Er erwähnt die Zweiklassengesellschaft aus kaltherzigen "Funktionshäftlingen" und "Kaninchen" sowie den allgemeinen Mangel an Solidarität. Lang schildert aber auch Mitgefühl, Freundschaft und Sex sowie eine Art von abendlichem Kulturleben mit Kabarett und Klassikkonzert.

Über 800 Frauen wurden bis Ende 1944 im Labor missbraucht. Mehr als ein Drittel überstand Lager und Todesmarsch. Langs Schilderung endet deshalb nicht mit der Befreiung. Der Autor erzählt von bleibenden Traumata nach der "Begegnung mit der menschlichen Bestie" (so nannte es ein Gutachter), von Armut, Heimat- und Kinderlosigkeit, von vernichteten Familien, zerstörten Biografien. Er beschreibt auch den weiteren Weg der Ärzte von Block 10; keiner wurde für die Experimente verurteilt. Und über viele Seiten erhellt Lang, auf welch beschämende Weise sich die junge Bundesrepublik gegen Entschädigungen wehrte.

Woher stammen die Tatsachen für dieses aufwühlende Buch? Die Lagerakten wurden vernichtet. Andere Quellen seien fehlerhaft, schreibt der Autor. Das Zusammenleben im Block werde idealisiert, und weit mehr Frauen als angenommen hätten überlebt. Lang sammelte Erinnerungen, Zeugenaussagen, Gesprächsprotokolle, Dokumente von Behörden, Gutachten. Mit einigen Überlebenden sprach er persönlich. Die Stimmen (Dutzende Stimmen, alle mit Namen) verwob der Verfasser zu einer Art Chorgesang von beklemmender Intensität. Diese Darstellungsweise ist das Besondere an dem Buch: Die Originaltöne schaffen große Nähe zu dem, was geschah. Auschwitz wird plötzlich "irdisch und gegenwärtig", ganz wie der Autor es wollte. Der Leser fühlt sich ins Geschehen gezogen - so etwas schafft sonst nur ein guter Roman.

Aber - so viele Opfer auch zu Wort kämen, schreibt Lang, eine Hürde bleibe für den Aufklärer unüberwindbar. "Es gibt eine schweigende Mehrheit von Nichtüberlebenden: Frauen aus Block 10, die in diesem Buch nicht erwähnt sind, weil sie nicht einmal dem Namen nach bekannt sind."

Besprochen von Uwe Stolzmann

Hans-Joachim Lang: Die Frauen von Block 10. Medizinische Versuche in Auschwitz.
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2011
288 Seiten, 22,99 Euro