KZ in Magdeburg

Unter den Augen der Anwohner

Menschen stehen 2001 in Magdeburg-Rothensee vor einem Mahnmal, das an von den Nazis ermordete ungarische Juden erinnert soll. Das Mahnmal steht an der Stelle, wo sich das Außenlager "Magda" des KZ Buchenwald befand.
Mahnmal in Magdeburg-Rothensee an der Stelle des sogenannten KZ Magda, das an von den Nazis ermordete ungarische Juden erinnert. © picture-alliance / ZB /
Von Sebastian Mantei · 06.02.2015
Während Auschwitz am 27. Januar 1945 befreit wurde, ging das Sterben in den anderen Lagern in Mitteldeutschland weiter. So auch im fast vergessenen KZ am Rande von Magdeburg, berüchtigt für seine brutalen SS-Wachmannschaften. Das blieb auch den Anwohnern nicht verborgen - die sich aber nicht trauten zu helfen.
Sommer 2014. Auf einem Trümmerberg in Magdeburg-Rothensee arbeitet sich der Bagger mühsam voran. Er beräumt und stemmt. Mit Fingerspitzengefühl sprengt Karl-Heinz Bühring den Bunker Stück für Stück. Der Sprengmeister muss vorsichtig sein, um nicht die Wohngebäude in der Nähe zu gefährden.
"Das sind hier die Kabel, um die Sprengung vorzubereiten …"
Und so fällt der letzte steinerne Zeuge, an dem sich vor 70 Jahren jüdische Jungen und Männer zu Tode schufteten. Es war ungewöhnlich, dass 1944 Juden von Auschwitz in das damalige Reichsgebiet gebracht wurden. Doch die Rüstungsindustrie brauchte dringend Arbeitskräfte für die Reparatur nach Bombenangriffen und den Bau von Bunkern. Adolf Hitler befehligte persönlich, von den 1944 deportierten ungarischen Juden 100.000 Häftlinge von Auschwitz nach Buchenwald zu deportieren. Von dort wurden sie in rüstungswichtigen Außenlagern eingesetzt, so auch in Magdeburg. Im Stadtteil Rothensee gab es bereits zahlreiche Gefangenenlager, aber keines mit KZ-Häftlingen, wie sich Willi Bandow erinnert, der damals 13 Jahre alt war.
"Bis dann dieses Lager errichtet wurde direkt an der Wohnsiedlung Mieter-Bau- und Sparverein und von der Brabag, Braunkohle Benzin AG, in Magdeburg-Rothensee, die vorrübergehend Flugbenzin für die deutsche Wehrmacht damals hergestellt haben. Und das dauerte dann auch nicht lange, da wurden dann Häftlinge untergebracht, die entgegen allen anderen, die meinetwegen als Kriegsgefangener ein P draufhatten, Polen, oder Franzosen, die ein F draufhatten, wurden die in Sträflingskleidung eingeliefert."
Unter den ersten Häftlingen ist auch der damals 16-jährige Nahum Bandel aus dem Karpatenvorland. Während in Auschwitz seine Mutter, sein jüngerer Bruder und andere Familienangehörige vergast werden, gelangt Nachum Bandel nach Magdeburg.
"Aber es war ein großer Transport, warum ihr kommt arbeiten in eine große Fabrik zu machen Schützengraben. Die Fabrik hieß Brabag Braunkohlen Benzin Aktiongesellschaft. Das kann ich gut, das war geschrieben. Man hat uns auch gesagt ihr arbeitet in ein wichtige, sehr wichtige Fabrik."
Nur wer arbeitet, kann überleben. Beim Morgenappell der Neuankömmling muss der 20-jährige Joseph Pinsker aus Varadia, die Befehle den Mitgefangenen ins Ungarische übersetzen.
"Sage die Leute, das hier ist kein Paradies. Hier kommt man zur Arbeiten, und schwer arbeiten und gut arbeiten. Und die werden nicht richtig arbeiten, die werden streng bestraft."
Nicht alle überstehen diese Strapazen. In Holzpantinen müssen die Häftlinge jeden Morgen ausrücken, wie sich der Belgrader Schriftsteller Ivan Ivanji noch heute erinnert.
"… und dann kam ich nach Magdeburg in dieses Lager, das die Betonbunker bauet. Morgenappell, Abzählen, abmarschieren zu den Baustellen und dann Zementsäcke schleppen, die Eisenbetongitter zusammenflicken."
Jeden Morgen sieht auch die Magdeburgerin Ruth Graue die Kolonne der abgemagerten Häftlinge auf dem Schwerin-Krosigk Damm zu den Baustellen der Brabag ausrücken. Die damals 18-Jährige arbeitet als Sekretärin.
"Ich habe auch gesehen, dass die beispielsweise die Bunker gebaut haben. Das waren so Rundbunker, das war ne neue Erfindung. Und da rollten die Bomben drauf ab. Da haben die im Januar 1945 mit ihren dünnen Leinenanzügen in Holzpantinen ohne Strümpfe, haben sie die schweren Säcke mit Zement zur Baustelle getragen, vom Damm bis zur Baustelle vielleicht 100 Meter waren das."
Angriffe von Scharfhunden der SS
Auch Joseph Pinsker trägt die schweren Säcke, nicht ohne Folgen für seinen Körper.
"Wir gehen zu Fuß bis Brabag, eine Stunde sind wir zu Fuß gegangen. Und man hat uns verteilt. Mich hat man verteilt. Am ersten Tag musste ich Zement von die Waggonen, 50 Kilogramm wiegt ein Zementsack. Und ich war so schwach, nach einige Tage habe ich schon einen Seitenbruch bekommen."
Nicht jeder überlebt diese Tortur, wie Willi Bandow berichtet. Besonders im Winter beobachtet er als Junge, wie die Häftlinge auf dem Rückweg von der Arbeit die Toten ins Lager brachten.
"Das vollzog sich so, dass dann immer vier Häftlinge, einen Balken, zwei Balken mit Brettern überlegt über den Schultern hatten. Vorne zwei, hinten zwei. Und das war dann wie eine Trage und da drauf lag dann der verstorbene Häftling. Oder es kam auch vor, dass nur zwei Mann getragen haben, und der Häftling wurde dann über den Balken gehängt als wäre ein Wild erschossen worden. Das heißt Kopf nach unten und Beine nach unten und dann trugen sie ihn so ins Lager."
Das Ganze geschah nicht ungesehen. Die Anwohner hatten alles im Blick, wenn die Kolonne der Elenden durch ihre Straßen zog. Auch wenn der Scharfhund der SS auf die Häftlinge losging. Einen solchen unglaublichen Fall hat Ivan Ivanji in seinem Roman "Schattenspringen" verarbeitet.
"Ich habe in meinem ersten Roman übers KZ geschrieben, dass ein Häftling, der auf der Arbeit eingeschlafen sei, und als man ihn gefunden hat, dass er von einem Hund zerrissen wurde vor angetretenem Appel. Und als ich dann darüber einen Film mitgedreht habe mit dem ZDF waren da zwei Zeitzeugen mit dabei, Deutsche die da gewohnt haben. Und da hat der Magdeburger, der wohnte, der hat von sich aus erzählt, dass er aus seinem Haus diese Szene miterlebt hat, diesen Hund der diesen Häftling zerrissen, und es hat sich herausgestellt, dass ich das nicht erfunden habe.
Die Waffen-SS, das Wachkommando, hatte einen Hund. Der war nicht nur scharf, der war eine Bestie. Der hieß Fanny, vergess ich im Leben nicht. Und ein Häftling, dem es gelungen ist zu fliehen, der wurde gesucht. Und dann wurde ganz Rothensee umstellt und dann wurde überall gesucht und gesucht. Und den Häftling hat man dann gefunden, der ausgerückt war und der hatte sich unter einem Kaninchenstall versteckt und hatte sich wahrscheinlich mit einer Glasscherbe die Pulsadern aufgeschnitten. Und als sie den dann gefunden hatten, mussten zwei Häftlinge den links und rechts musste der sich darüber hängen. Die beiden Häftlingen haben den festgehalten, der der konnte ja nicht mehr. Und die mussten den bis zum Lager bringen. Und hinter diesen dreien wurde dieser Hund Fanny ständig von dem Waffen-SS-Mann gehetzt und der sprang dann ständig nach vorn und hat dann gebissen. Ob der den Arm erwischt hat oder ob der den Hintern erwischt hat, das war alles zerrissen und blutig."
Der Häftling stirbt wenig später und wird, wie die anderen Toten, vor seiner Baracke entkleidet auf die Erde gelegt. Ein Laster transportiert den nackten Leichnam später ab.
Mit den Hunden der SS macht auch Nahum Bandel Bekanntschaft. Misshandlungen mit Hund und Knüppel sind Alltag.
"Immer die Hunde gehen mit die SS. Und wer es macht nicht so wie die wollen, gehen auch die Hunde und man schießt. Wenn du arbeitest schlecht, gehen gleich die Hunde. Bis zum heutigen Tage habe ich es hier, die Hunde haben mich gegessen."
Drohungen verhindern Hilfeleistungen
Besonders schlimm ist für Nachum Bandel aber, dass so viele Menschen die Häftlinge sehen und ihnen niemand hilft.
"Ich kann mich erinnern, wir gehen jeden Tag zu der Arbeit dort in Rothensee. Das ist eine Siedlung. Gesehen. Die haben gesehen alles, man wird dir nicht helfen."
Ruth Graue begegnet manchen Häftlingen bei Luftangriffen auf den Feldern vor Magdeburg. Dort gelingt es ihr mit einem Kollegen, den Häftlingen ihr Frühstücksbrot zukommen zu lassen, doch ihnen mehr helfen traut sie sich nicht.
"… denn mir hatte mal einer von den Kapos gesagt, 'Sie brauchen sich nur irgendwie bemerkbar zu machen. Dann können Sie diese Sache aus ganz nächster Nähe sehen. Denn das macht uns nichts aus, Sie können auch gern in das Lager.' Denn das war ja ne Drohung, die geholfen hat. Man hat also nicht mit den Leuten Kontakt aufgenommen aus Angst."
Kapos sind die "Funktionshäftlinge". Straftäter aus dem Zuchthaus, die für die SS die Misshandlungen vornehmen, um ihren Stand zu verbessern. Am 9. Februar ist dann alles vorbei – die Bunker sind fertig und die Brabag braucht die Häftlinge nicht mehr – zu groß sind die Zerstörungen. Außerdem rückt die Front näher, so dass der Kommandant des KZs Buchenwald die Außenlager auflöst, zu denen auch das KZ Magda in Magdeburg gehört. Der 13-jährige Willi Bandow beobachtet an diesem Tag vom Dachboden seines Wohnhauses folgendes:
"Man merkte, es war Tumult. Die Häftlinge wurden im Lager selbst alle zusammengetrieben, mussten antreten. Und die marschierten ja immer in Vierer-, Fünferreihen. Je nachdem wie breit die Straße war, in Sechserreihen. Und denn wurden die aus dem Lager raus durch die Heinrichsbergerstraße und sind marschiert über die Brücke."
Das Kriegsende scheint nahe. Ruth Graue, die gesehen hat, wie die Häftlinge zerschunden oder tot von der Arbeit kamen, hat Angst vor dem was kommt. Auch ihr Vater, der die mit Menschen vollgeladenen Viehwaggons in Richtung Osten sah, ahnt nichts Gutes.
"Mein Vater war Lokführer im BW Rothensee und der hat die Züge da stehen sehen. Und der sagte immer in gutem Neustädter Deutsch, 'Na Kahle, wenn das man schief geht, dann Gnade uns Gott'."
60 Jahre nach dem Krieg begegnet die Magdeburgerin Ruth Graue dem Überlebenden Ivan Ivanji aus Belgrad.
"Und darum habe ich auch gesagt, als wir uns vor Brabag gesagt, ich schäme mich, das muss ich Ihnen sagen. Ich habe nichts getan, damit sie auch nur eine kleine Erleichterung hatten. Und da war er so gerührt, und hat mich in den Arm genommen und die Tränen liefen übers Gesicht und sagte, das genügt mir eigentlich, dass es einen Menschen in Magdeburg gibt, der sagt, doch ich hab euch gesehen, ihr ward wirklich hier."
Außer Ruth Graue und Willi Bandow hat sich kein Magdeburger auf einen Zeitungsaufruf gemeldet, ob er sich an dieses Lager am Rande der Stadt erinnern kann. Der letzte Bunker ist gesprengt, das Lager ist heute Teil eines Gewerbegebietes. Nur eine Stehle erinnert noch an das Todeslager im Magdeburger Stadtteil Rothensee. Nahum Bandel und Josef Pinsker haben in Israel ihr neues Zuhause gefunden, Ivan Ivanji lebt heute in Belgrad und Wien.
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