Kuriositäten der Entwicklungsgeschichte

Rezensiert von Johannes Kaiser |
Dass Wale singen, ist keine neue Entdeckung. Es gibt schon ganze CDs mit Aufnahmen. Allerdings hat man erst in letzter Zeit herausgefunden, dass die gesangsfreudigen Walmännchen wahre Komponisten sind, die jedes Jahr einen neuen Hit landen. Das jedenfalls berichtet der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht vom Museum für Naturkunde der Humboldt-Universität Berlin jetzt in seinem Buch "Seitensprünge der Evolution":
"Ähnlich wie bei den Gassenhauern der menschlichen Musikszene singt auch bei den Buckelwalen stets die gesamte Population die aktuellen "Schlager". Die offenbar sehr musikalischen Wale variieren wie ein Komponist die Themen ihres Gesangs von Jahr zu Jahr, bis sie aus bekannten und neu erfundenen Elementen ein völlig neues Lied entwickelt haben … Beim Komponieren stehen die Buckelwale auf ihre Weise Beethoven und den Beatles offenbar kaum nach. "

Das Ganze dient natürlich nicht nur dem puren Vergnügen, sondern vorrangig der Verführung. Wer die flottesten Songs flötet, gewinnt die Herzen der stolzesten Walfrauen.

Die Evolution hat sich so manche verblüffenden Tricks im ewigen Paarungsreigen ausgedacht, die sich erst bei genauerem Hinsehen erschließen. Und eben das tut der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht in seinem Buch in drei Dutzend Kurzepisoden. Natürlich erheben diese Streifzüge durch die Natur nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Sie wollen vielmehr Kuriositäten aufdecken wie zum Beispiel die erschlichene Vaterschaft bei den Menschenaffen:

" Beim Orang-Utan machen die heranwachsenden Männchen lange auf kindlich-naiv, damit sie vom territorialen Männchen nicht bedroht und bekämpft werden. Derart getarnt werden die Halbstarken weiter in dessen Streifgebiet geduldet, während sie ungehindert schon mal ihr Glück bei den Weibchen versuchen … In einem Studiengebiet auf Sumatra … hat immerhin jedes zweite dort geborene Orang-Baby einen solchen unauffällig-jugendlichen Vater. "

Leider funktioniert das nach dem Prinzip: Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt. Die Tierwelt ist keine heile, freundliche Welt, in der das Gute siegt. Der Untertitel des Buches "Machos und andere Mysterien der Biologie", deutet das bereits an und Matthias Glaubrecht belegt es. Dennoch bleibt vieles rätselhaft, bleibt mysteriös. Drei Mysterien prägen nach Ansicht des Evolutionsbiologen die Evolutionstheorie: Keiner weiß, wie viele Arten es wirklich gibt. Vorsichtige Schätzungen sprechen von 10 bis 15 Millionen Tierarten. Auch die Klassifizierung einer Art fällt schwer, denn sie löst sich in Nebel auf, schaut man genauer hin. Artabgrenzungen verschwimmen. Und schließlich wird selbst die Herkunft, die Entstehungsgeschichte immer dubioser. So stammen zum Beispiel die Vögel aller Wahrscheinlichkeit nach von den Dinosauriern ab.

Viele dieser neuen Erkenntnisse erzählt Matthias Glaubrecht in seinen lehrreichen, bisweilen vergnüglichen Geschichten. Die berichten von tropischen Meeresschnecken, die mit Giftpfeilen Jagd machen, nimmersatten Bonobos, einer Schimpansenart, bei der sich Frauen zur Kommune zusammenschließen und der Sex keineswegs allein der Fortpflanzung dient, energiesparsamen Kängurusprunggelenken, die wie Spiralfedern wirken, gesprächigen Elefanten, die per Infraschall, also für den Menschen nicht hörbar, über 20 km und mehr miteinander plaudern. Die Kürze der Geschichten stört manchmal. Es bleiben Schnipselinformationen. Ausführlichere vertiefende Erklärungen fehlen.

Problematisch wird diese starke Verknappung auf wenige Einzelfakten bei Glaubrechts Geschichten über die Besonderheiten der menschlichen Evolution. Hier verkürzt der Biologe das komplexe Wechselspiel von Körper und Seele unzulässig auf pure biologische Fremdsteuerung. Mann und Frau agieren demnach rein triebgesteuert.

"Während … ein hübsches Gesicht und eine aufregende Figur Männern in aller Welt den Kopf verdrehen, schauen Frauen eher aufs Geld … Dass die blutjunge Blondine den mickernden Millionär erhört, hat seine Wurzeln in eben jenem Prinzip, nach dem Weibchen für sich und den Nachwuchs die bestmögliche Ressourcensicherung erstreben. "

Wenn das Geschlechterspiel beim Menschen so simpel erklärbar wäre, könnte man die ganze Kultur auf dem Scheiterhaufen der Geschichte verbrennen, Ethik und Moral vergessen und die Psychoanalyse ebenso. Zum Glück funktioniert der Mensch weitaus komplizierter und lässt sich nicht über den biologistischen Leisten schlagen. Bei allen Verwirrungen, die die Liebe mit sich bringt, eine beruhigende Vorstellung. Bis auf diese kleinen Einschränkungen sind die mit spitzer Feder geschriebenen Streifzüge von Matthias Glaubrecht amüsant und aufschlussreich, voller Aha-Effekte. So macht Evolutionsbiologie Spaß.