Kunsttheorie

Sinnlicher Energiespeicher

Eine Besucherin des Museums Frieder Burda in Baden-Baden betrachtet das fotorealistische Gemälde "Gräser IV" des Schweizer Künstlers Franz Gertsch
"Gräser IV" von Franz Gertsch - der Schweizer Künstler gehört zu Ammanns Favoriten. © picture-alliance / dpa / Uli Deck
Von Rudolf Schmitz · 13.01.2014
Der Kurator Jean-Christophe Ammann wehrt sich gegen eine global konzipierte Designkunst. Mit "Kunst? Ja Kunst!" kämpft er für mehr Körperlichkeit, Gefühl und Intimität in Museen und Ausstellungen.
Jean-Christophe Ammann, der von 1989-2002 das Frankfurter Museum für Moderne Kunst zu einer der innovativsten Adressen des internationalen Kunstbetriebs machte, war schon immer ein Wanderprediger für die Kunst. Kunst müsse vermittelt werden, und zwar mit persönlicher Leidenschaft – das war und ist sein Motto. Auch in seinem neuen Buch "Kunst! Ja, Kunst!" pflegt er deshalb eine empathische Form des Schreibens und Beschreibens. Der Untertitel "Die Sehnsucht der Bilder" macht die Richtung klar: Bilder werden wie animierte Wesen dargestellt, nachts, im Museum, "flüstern die Werke miteinander". Derartig poetische Kunstermächtigung muss man mögen, sonst erscheinen Ammanns Ausführungen leicht wie Obskurantismus.
Kunst ist kein Luxus
Es gebe in der heutigen Kunst keine allgemeine Richtung mehr, sondern einen Gesichtskreis von 360 Grad, stellt Ammann fest. Das mache es nicht leicht, die prognostischen Fähigkeiten der Künstler zu bestimmen. Trotzdem sei die Kunst kein Luxusartikel, sondern "ein Energiespeicher von höchster anthropologischer Brisanz". Und diese Energien, daran lassen die zumeist in Katalogen erschienenen Texte des Buches keinen Zweifel, haben mit der Sinnlichkeit zu tun, mit Körperbildern, mit Körpergedächtnis, mit Intimität.
Der "Körper, der Lust, Schmerz, Ekstase und Askese vereint", das "unergründliche, ja eruptive Selbst" ist für Ammann immer noch der Generalschlüssel zur Kunst. Deshalb bevorzugt er Malerei, wie die von Franz Gertsch, Stanley Spencer, Cornelia Schleime, Justine Otto oder John Currin. Fotografie, wie die von Jessica Backhaus, Dennis Hopper oder Balthasar Burkhard. Videos wie die von Julia Charlotte Richter oder Eva Weingärtner.
Ammanns Interpretationen solcher Körperkunst sind sensibel, rückhaltlos und oft von erstaunlicher Verbaldrastik geprägt. Das wirkt nicht selten wie das Protzgehabe eines Alt-68ers, der es nicht lassen kann, die Umwelt mit seiner immer noch gehätschelten sexuellen Freizügigkeit zu nerven. Es ist zweifellos verständlich, angesichts einer um sich greifenden politischen Korrektheit, auf den Entgrenzungspotenzialen des Körpers zu beharren. Bisweilen allerdings fragt man sich, ob die Dinge da nicht ein wenig entgleisen. Wenn der Autor zum Beispiel behauptet, dass die "drei Grazien sich dem Urteil des Penis" zu stellen hätten. Und nicht immer erscheinen die vorgestellten Künstler und Künstlerinnen als dringlichste Wahrnehmungsaufgaben heutiger Kunst.
Warnungen eines Überzeugungstäters
Doch man sollte den Kampf, den Jean-Christophe Ammann führt, darüber nicht aus den Augen verlieren. Denn wovor der lange Zeit originell agierende Museumsmann warnt, ist die "interkontinental kompatible Konzeptualisierung der Kunst", die sich im Zuge ihrer Globalisierung ausgebreitet habe. Das heißt: der Vorrang des Dokumentarischen, der leicht identifizierbaren Themen, der Vereinheitlichungsstrategien einer "soziologisierten Designkunst". Exemplarisch für solche Globalisierungskuratoren knöpft sich Ammann den Nigerianer Okwui Enwezor vor, derzeit Leiter des Münchener Hauses der Kunst. Er gehöre zu denjenigen, die unter Bevorzugung einer politisch dokumentarischen Kunst "dem Individuum den subjektiven anarchischen, sinnenbetonten, phantasmagorischen Freiraum" verweigerten.
Jean-Christophe Ammanns neues Buch ist das Wahrnehmungsprotokoll eines Überzeugungstäters, der für eine sinnliche und sinnenfreudige Kunst kämpft. So wie er sie versteht. Oft freut man sich über seine Begeisterung, manchmal fühlt man sich an den Künstler Ben Vautier erinnert, der schrieb: „Je vous propose mon gout personnel“ – Versuchen Sie es doch mal mit meinem Geschmack!
Warum allerdings das Buch die 28 Abbildungen von künstlerischen Werken, um die es hier geht, in die man eintauchen soll, die Ammanns Enthusiasmus beflügelt haben, in verwaschenem Schwarz-Weiß-Druck wiedergibt – das wird wohl das Geheimnis des Westend-Verlags bleiben.

Jean-Christophe Ammann: Kunst? Ja, Kunst!
Westend Verlag, Frankfurt am Main 2014
320 Seiten, 24,99 Euro

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