Kunstprojekt zur Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte

Bruch eines Tabus

Von Leonie March · 17.04.2018
Vor über 100 Jahren fand der Völkermord an den Herero durch die deutsche Schutztruppe im heutigen Namibia statt. Mit einem Fotoprojekt bemüht sich das Völkerkundemuseum in Hamburg um die Aufarbeitung deutscher Geschichte. Auch die namibische Künstlerin Nicola Brandt nimmt daran teil.
Das Haus wirkt wie eine Festung. Mitten in der weiten Wüstenlandschaft am Stadtrand von Swakopmund. Der Sand hat die Spuren der Vergangenheit fast vollständig verweht. Fast – denn die namibische Künstlerin Nicola Brandt ruft sie mit ihrer Fotografie wieder in Erinnerung:
"Das ist das Haus eines Deutsch-Namibiers, das direkt an der Grenze zu einem alten Gefangenenlagers gebaut wurde. Wer genauer hinsieht, erkennt hunderte kleine Hügel in der Landschaft. Das sind die Gräber. Als ich aufgewachsen bin, war dieser Ort nicht abgesperrt. Die Leute sind dort mit ihren Hunden spazieren gegangen, Kinder sind dort Rad gefahren. Erst in den letzten paar Jahren wurde dort ein Denkmal errichtet und die Geschichte somit anerkannt."

Über die Vergangenheit nachdenken

In der Elterngeneration deutschstämmiger Namibier waren die Gräueltaten der deutschen Kolonialzeit lange ein Tabuthema. Nicola Brandt – Jahrgang 1983 – bricht mit diesem Tabu. Ihre Fotografien und Videos sind jedoch weder konfrontativ noch anklagend, sie machen eher nachdenklich. Ein zentrales Motiv sind Landschaften, deren historische Bedeutung sich manchmal kaum mehr erahnen lässt. Und trotzdem wirkt Namibias Weite auf einmal beklemmend.

"Wir wachsen mit einem gewissen Bild der Landschaft auf, die uns umgibt. Sie ist Teil der namibischen Psyche. Doch es kommt auf die Herkunft an, ob man darin Schönheit sieht oder Spuren der Gewalt. Deutschstämmige Namibier sehen die Landschaft meist romantisch verklärt. Ich versuche zu zeigen, dass das es angesichts der Geschichte unseres Landes keine unschuldigen Landschaften geben kann."

Den Menschen gerecht werden

Auf die deutsche Kolonialzeit folgten südafrikanische Verwaltung und Apartheid. Was also denkt und fühlt eine Herero-Frau, wenn sie auf die Landschaft ihrer Heimat blickt? Auch diese Frage wirft Nicola Brandt durch ihre Arbeit auf. Eine Herero-Frau schaut in die Ferne. Sie trägt ein prächtiges traditionelles Kleid, dessen Ursprung auf die Zeit der rheinischen Missionare zurückgeht. Dem Betrachter hat sie den Rücken zugewandt. So wird sie zu einem Subjekt, nicht zum Objekt wie in Fotografien aus der Kolonialzeit.

"Zum einen drücke ich damit also eine Form des Respekts aus. Zum anderen steht sie so als abstrakte Person für viele andere. Außerdem hat die Rückenfigur natürlich kunsthistorische Bezüge, z.B. zur deutschen Romantik. Und viertens wirkt sie so selbst wie eine Art Denkmal."

Gemeinsame Wurzeln erkennen

Eine dieser Rückenfiguren hat blonde Haare. Es ist die Künstlerin selbst. Auf Einladung der Herero trägt sie ebenfalls das traditionelle Kleid. Es ist eine Metapher für eine gemeinsame Identität, für die untrennbar miteinander verwobene und gleichsam überfrachtete Geschichte ihrer Heimat, die nicht länger totgeschwiegen werden sollte.

"Ich finde es frustrierend, wenn Leute sagen: Wir sind es leid, uns schuldig zu fühlen. Für mich klingt das wie eine Ausrede, um sich nicht mit dieser unangenehmen Geschichte auseinandersetzen zu müssen. Ich glaube zwar nicht, dass meine Generation über einhundert Jahre noch Schuld dafür trägt, aber wir sollten uns dem stellen, was während der Kolonialzeit und der Apartheid geschehen ist. Das ist unsere Verantwortung. Diese Debatte hat in Namibia jedoch erst vor ein paar Jahren begonnen."

An die Kolonialzeit erinnern

In Deutschland gibt es eine derartige Erinnerungskultur zwar in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg, doch die Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit im damaligen Deutsch-Südwestafrika ist lange vermieden worden. Dabei bezeichnen Historiker den Vernichtungsfeldzug gegen die Herero und Nama als ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts. Mit zehntausenden Toten, Internierung in Konzentrationslagern und Zwangsarbeit.
"Deutsche und deutschstämmige Namibier vermeiden die Auseinandersetzung mit diesem Thema auch, wenn sie sagen, es gäbe nicht genügend Fakten. Zum Beispiel kenne man die genaue Anzahl der Toten nicht. Für mich ist auch das nur eine Ausrede. Es ist unbestritten, dass diese Ära extrem traumatisch war. Wir sollten ihr mit Empathie begegnen und nicht mit der Frage nach Fakten - an denen es übrigens nicht gerade mangelt. Dokumentation und Aufzeichnung waren schließlich schon immer eine Stärke der Deutschen."
Nicola Brandt durchforstet zur Zeit gemeinsam mit Hamburger Wissenschaftlern und anderen namibischen Künstlern ein umfangreiches Fotoarchiv aus der deutschen Kolonialzeit. Das Projekt der "visuellen Geschichte des kolonialen Genozids" soll im kommenden Jahr in einer Ausstellung münden. Die Künstlerin hofft, dass es zu einer kritischen Debatte beiträgt, einen Schritt in Richtung der überfälligen Versöhnung markiert und so auch eine neue Perspektive für die Zukunft eröffnet.
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