Armee handgetöpferter Wesen im Kuhstall
30 Jahre lang arbeitete hier der Künstler Georg Baselitz - inzwischen ist Schloss Derneburg in Niedersachsen eines der spektakulärsten Privatmuseen für zeitgenössische Kunst. Ein Sammler-Ehepaar aus den USA zeigt hier vor allem sperrige Werke.
Rund um das Schloss liegt Kies. Am markanten Kopfteil, dem quadratischen dicken Turm der dreiflügeligen Anlage, öffnet sich eine Tür. Im Eingang links gleich ein Gemälde von Julian Schnabel: "Herr Hall at Home". Klingt gemütlich - aber der hagere Mann mit schwarzem Umhang und stechendem Blick scheint eher zu fliehen. Dem Bild nach ist zeitgenössische Kunst jedenfalls nichts für heimelige Kaminabende. Sie treibt diejenigen um, die von ihr infiziert sind. So wie Andrew Hall und seine Frau Christine, die 2007 die Hall Art Foundation gegründet haben.
Derneburg ist einer von drei festen Orten für ihre Sammlung. Die anderen beiden liegen in Nordamerika, abseits großer Städte.
"Ich freue mich an Kunst, ich sammle sie auf fast obsessive Weise. Und wenn man Kunst sammelt, dann sollte man einen Grund haben dafür. Und ich als Sammler möchte die Kunst mit anderen Menschen teilen. Die Absicht hinter Derneburg ist genau das: nicht mehr, nicht weniger."
... erzählt der Hausherr wenig später, mit verschränkten Armen und Beinen, aus einem bequemen Sessel in der Bibliothek heraus. Es ist klar: Befragen lässt er sich nur ungern, er fragt und entscheidet lieber selbst. Die Haare sehr kurz, grauschwarz gekleidet, schmal und hochgewachsen, sehr ernst. Er wurde in England geboren, nach dem Chemiestudium in Oxford begann seine Karriere in den USA - erst bei British Petroleum, später als Hedgefonds-Manager. Einen dicken Brocken seines Vermögens verdankt er seinem Instinkt für steigende Ölpreise, als andere noch darüber lächelten. Auch in der Kunst hat er viel Gespür bewiesen. Aber über Geld oder Gespür will der 67-Jährige nicht reden, sondern über das, wofür er und seine Frau jetzt leben: ihre Sammlung. Mittlerweile rund 5700 Werke, vor allem zeitgenössische, sperrige Kunst, die ersten Werke kauften sie schon als Studenten.
"Ich mag nicht belehrt werden darüber, welches Kunstwerk ich kaufen soll. Ich will, dass die Kunst mich anspricht und mich interessiert. Und wenn sie das tut, dann beschaffe ich mir mehr Informationen dazu."
30 Jahre künstlerischer Furor von Georg Baselitz
Längst hat die Sammlung den privaten Kokon gesprengt - der Anzahl, aber auch der Dimension ihrer Werke wegen. So landete eine tonnenschwere und 25 Meter lange Betonskulptur von Anselm Kiefer zunächst im eigenen Garten, bevor Halls sie im Massachusetts Museum of Contemporary Art unterbrachten, gleich mit einigen anderen Kiefers dazu. Und Derneburg? Hier ging Georg Baselitz 30 Jahre lang seinem künstlerischen Furor nach, kam auch privat in Kontakt mit den Halls und bot ihnen bald die eigene Sammlung zum Kauf an.
"Georg meinte, ihr habt meine Sammlung gekauft – warum kauft ihr nicht das Schloss? Das schien erstmal verrückt, aber wir dachten – warum eigentlich nicht? Genau das taten wir, wir kauften das Schloss mit der Idee, dass es ein großartiger Platz ist, um unsere Sammlung zu zeigen."
Nach zehn Jahren umsichtiger Planung, Um- , Aus- und Einbauten hat sich das zuvor verschlossene Gelände mitsamt dem Gutshof nebenan in ein Kunst-Erlebnis verwandelt:
"Man kann hier nicht schnell mal durchlaufen in einer halben Stunde. Es braucht fünf, sechs Stunden, um alles zu verdauen. Die Gebäude hier haben ihren ganz eigenen Charakter – ob das alte Atelier von Baselitz oder das Schloss. Das Ganze hier ist ein Gesamtkunstwerk, eine Kombination aus der besonderen Landschaft, der Architektur und der Kunst."
Und wie kam es gerade zu dieser Auswahl von Werken für Derneburg? Warum Gormley, Morley oder Schnabel statt Baselitz, Immendorff oder Beuys?
"Unsere ersten Ausstellungen hier wurden eigentlich von äußeren Ereignissen diktiert. Plötzlich gab es dieses Gesetz, das Kulturgut-Schutzgesetz. Dadurch waren wir verunsichert und hatten Bedenken, Werke deutscher Künstler hierher zu bringen. So haben wir sehr schnell unsere Pläne geändert, in der letzten Minute."
Einer der Bereiche ist Künstlerinnen gewidmet - und dem Gedenken an die Galeristin Barbara Weiss, Ehefrau von Kaspar König und damit Stiefmutter des New Yorker Galeristen Leo König, der sie für Derneburg kuratiert hat.
"Barbara starb Ende des letzten Jahres. Sie hatte Christine und mich darin beeinflusst, Künstlerinnen zu unterstützen und ihre Werke zu kaufen."
Was gezeigt wird, ist nur ein Ausschnitt der Sammlung, die nur noch langsam weiter wächst. Einer der Gründe: Es wird zu teuer. Über Käufe wie das vermutlich von da Vinci stammenden Gemälde für 400 Millionen Dollar schüttelt Hall nur den Kopf. Dabei ist auch der Wert seiner Sammlung, schon 2008 auf 100 Millionen Dollar geschätzt, in den letzten Jahren deutlich gestiegen: Freut ihn das nicht?
"Das hat offensichtlich einigen Einfluss auf den Kunstmarkt, der diesen Leuten ein gutes Gefühl gibt, wenn sie sehen: Der Preis steigt. Aber das ist nicht das, was mich antreibt, das ist nicht mein Zugang zum Sammeln von Kunst. Das ist nicht mein Ding."
Exzentriker an der Wall Street und als Kunstsammler
Hall galt schon an der Wall Street als Exzentriker - als Kunstsammler ist er es ebenfalls. Wer kommt, muss das wollen und Zeit mitbringen. Mit diesem privaten Museum schärft das Ehepaar Hall das kollektive Bewusstsein für zeitgenössische Kunst. Und nebenbei verewigt es sich auch selbst, wie es in dieser Dimension zuvor auch Stifter wie Gulbenkian, Carnegie oder Guggenheim taten. Sie tun es wohl auch, weil sie es müssen. Die Kunst hat beider Leben verändert, erzählt Christine Hall.
"Ich denke ja, das hat sie. Sie hat die Regie übernommen. Tatsächlich leben wir leben sehr einfach - bis auf die Kunst, die uns verbindet."
Sie sammeln vor allem Kunst von Zeitgenossen.
"Es sind Künstler und sie sprechen in ihrem eigenen Medium zu uns. Wir können vielleicht ein bisschen besser verstehen, was sie sagen. Denn ihre politischen Einstellungen und Vorstellungen von Schönheit verändern sich. Oder die Beziehungen. Das ist faszinierend und Künstler drücken das auf ihre je eigene Weise aus."
Den Rundgang begleitet Kai Heinze, der ab Januar das Museum leiten wird und selbst bisher für die Galerie Leo König weltweit unterwegs war. Er ist sichtlich stolz, eine der bisher umfangreichsten Ausstellungen des britischen Künstlers Antony Gormley zu zeigen. Das "Sleeping field" mit 700 Metallskulpturen in der Kapelle, seine Armee von handgetöpferten Wesen im Kuhstall:
"Gormleys European Field aus dem Jahr 1993 - über 35.000 Terracotta-Figurinen mit zwei Augen schauen den Besucher an."
Vor-Vorbesitzer noch präsent
Im alten Salon, jetzt Bar, hängt ein großes Schnabel-Porträt der Hausherrin, darunter zwei Jonathan Meeses. Edle Destillate stehen auf einer Art Laborwagen aus Glas.
"... ursprünglich ein Serviertisch des österreichischen Künstlers Paul Renner, ein Kunstwerk an sich ..."
Die alten Tapeten und Holztäfelungen dünsten noch ein Hauch der Vor-Vorbesitzer aus, der Grafenfamilie zu Münster. Der erste, Ernst Friedrich Herbert, hatte als Gesandter für das britische Königreich Hannover beim Wiener Kongress so geschickt verhandelt, dass er das einstige Klostergut geschenkt bekam, vor 200 Jahren. Er und später sein Sohn bauten es mithilfe des Architekten Georg Laves zum Familiensitz um, englischer Landschaftspark inklusive.
Mancher mag schon damals gestaunt haben über den Spleen der Herrschaft. Martin Ganzkow kennt die Geschichte des Ortes sehr gut und sieht viele Parallelen zu den Ereignissen heute. Der Kulturbeauftragte arbeitet nur wenige Kilometer entfernt in der Gemeinde Holle. Mit einem Lächeln erzählt er:
"Ich hab manchmal den Eindruck, dass Andrew Hall eine Reinkarnation des Grafen Ernst Graf zu Münster ist, sogar von der Statur ähneln die beiden sich. Damals gab es den Adel der Grafen zu Münster und heute gibt's den Adel der Reichen, die beide ein bisschen oberhalb der Gesellschaft stehen und sich für Kunst interessieren."
Ganzkow hat die Umbauarbeiten über all die Jahre aufmerksam verfolgt und ist sehr einverstanden mit dem Ergebnis.
"Wir haben im Gegensatz zur Zeit von Georg Baselitz nur gewonnen. Die Gemeinde begrüßt die Aktivitäten von Andrew Hall, was er hier macht. Aber es gibt in der Art kein Verhältnis - die Hall Foundation macht ihr Ding und wir schauen zu."
Wer selber schauen möchte, muss sich für eine Tour anmelden, für zweieinhalb- oder fünf Stunden, 30 oder 75 Euro. Schloss Derneburg und Andrew Hall kann man auch auf Instagram folgen.