Kunsthaus KuLe in Berlin

Die Geschichte einer legendären Künstlerkommune

6. Juli 1991: Hoffest in dem besetzten Haus Auguststraße 10 in Berlin-Mitte.
6. Juli 1991: Hoffest in dem besetzten Haus Auguststraße 10 in Berlin-Mitte. © imago/Rolf Zöllner
Von Andreas Baum · 03.06.2016
Beim Dedications-Festival wird ein Teil der Geschichte des einst besetzten Hauses in der Berliner Auguststraße 10 erzählt. Für viele ist das Kunsthaus KuLe bis heute mehr als eine gewöhnliche Künstler-WG.
Als wäre das Haus in der Auguststraße 10 in Berlins Scheunenviertel nicht schon auffällig genug mit seinen Einschusslöchern, bunten Fensterkreuzen und Farbklecksen auf grauem Putz: Von der Fassade hängen neuerdings trompetenartige Lautsprecher, Klangduschen.
"Das geht nur rum, wenn man hier rumgeht – sobald Passanten hier langgehen, verteilen sich Klänge auf den fünf Lautsprechern."
Die Künstlerin Steffi Weismann hat gemeinsam mit Georg Klein die "Interaktive Hörinstallation mit fünf Lichtlautsprechern und Telefonhörer" geschaffen und an die Fassade gehängt. Am altertümlichen Telefonhörer kann kaum einer der Passanten vorbeigehen, er wirkt wie ein Magnet, besonders auf Kinder, aber nicht nur auf die.
"Ich drücke mal für dich."
"Jetzt hörst du eine Frage."
"Jetzt ist es englisch."
"Wechselt zwischen deutsch und englisch, das ist typisch für die KuLe."

KuLe steht für Kunst und Leben

Im Frage- und Antwortspiel wird ein Teil der Geschichte des Hauses Auguststraße 10 erzählt – seit es 1990 zum Kunsthaus KuLe wurde –, KuLe steht für Kunst und Leben.
"Diese Sprachfragmente sind von Interviews, die wir geführt haben, mit Leuten, die hier das Haus mit besetzt haben, also der Gründergeneration, und mit Leuten, die eben seit kurzem hier leben, zum Beispiel Lulu Obermayer auch."
Die Performancekünstlerin Lulu Obermayer war ein Jahr alt, als das Haus im Sommer nach dem Mauerfall besetzt wurde: Die KuLe ist für sie sehr viel mehr als eine Künstler-WG – eigentlich, sagt sie, müsste man gar nicht mehr raus.
"In der KuLe zu leben ist für mich ein radikaler Akt – ich finde, dass man in seiner Kunst verpflichtet ist, bestimmte Ideale zu verwirklichen – und da ist man in so einer Situation gezwungen, die umzusetzen."

Inspiriert von Joseph Beuys

Ideale von Gemeinschaft: Inspiriert war das Projekt von Joseph Beuys, der Leben und Kunst zu einer Einheit verschmelzen wollte. Im Sommer 1990 hatte der Magistrat von Ostberlin dazu aufgerufen, leerstehenden Wohnraum "aktiv in Obhut zu nehmen" – Hausbesetzungen waren legal. Es gab rauschende Feste im Hof, lange Tafeln wurden auf der Auguststraße aufgebaut, mitternächtliche Underground-Konzerte, Papierskulpturen auf dem Dach und Kletterer an den Fassaden.
KuLe-Veteranin Ursula Maria Berzborn erinnert sich: An einem Abend war Heiner Müller zu Gast.
"Dann saß er da in der Ecke auf seinem Thron und dann hat er irgendwann gesagt: Leute, ihr seid physische Wesen. Ihr braucht ein Dach über dem Kopf. Haltet das Haus. Erzählt der Obrigkeit irgendwas, aber versucht, dieses Haus zu halten."
Was gelang: Es wurden Käufer gefunden, denen die Idee, dass hier auf Dauer eine Künstlerkommune entstand, sympathisch war. Seitdem sind hunderte von Künstlern hier gewesen, kürzer oder länger, Kinder sind hier aufgewachsen. 1998 bekam die KuLe ganz plötzlich Besuch von einer Familie aus Chicago, deren Vorfahren bis 1933 hier lebten: Eve Neigers Großvater war acht, als die Familie 1933 fliehen musste:
"Wir liefen durchs Viertel, unser Großvater zeigte uns seine alten Schule, plötzlich standen wir vor der Auguststraße 10, sahen Ursula Berzborn, wie sie ins Haus wollte und meine Großmutter rannte über Straße, schnappte sie und sagte: mein Mann ist hier aufgewachsen. Ursula hat uns sofort reingebeten."

"Alle waren gerührt, alle haben geweint"

Spontan öffneten die Künstler die Tür und machten mit der Großfamilie eine Tour durchs Haus.
"Dann kamen wir in den Keller und sahen den Backofen. Alle waren gerührt, alle haben geweint. Und er erzählte Geschichten aus seiner Kindheit und über seinen Vater..."
Die Neigers betrieben bis 1933 eine koschere Bäckerei im Haus – den Backofen, den die Künstler erhalten hatten, wiedererkennbar im Keller des Hauses zu vorfinden, war wichtig, tröstend und heilend – vor allem für Carmi Neigers Vater, aber auch für die anderen.
"Man konnte sehen, dass er dasselbe sah, was er als Kind gesehen hatte. Und es war wundervoll zu sehen, wie offen und gastfreundlich die KuLe-Leute waren, eine sehr bewegende Erfahrung."
Die Künstler und die Neigers wurden Freunde – Carmi Neiger und seine Tochter Eve sind eigens für das Festival angereist, um Vorlesungen zu halten über das Erinnern und darüber, wie wichtig es, Spuren der Vergangenheit zu bewahren. Aber ebenso wichtig war die Begegnung für die Bewohner, sagt Ursula Maria Berzborn:
"Also dass er das gemocht hat, dass wir so lebendig sind, und dass jetzt Künstler an diesem Ort sind, das war für ihn halt was wunderbares. Und zu sagen, das ist toll, was ihr macht, das hat einen Wert, das hat einen Wert in der Geschichte auch, das war ganz wichtig für uns."
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