Kunstfotos und Schnappschüsse

Von Jochen Stöckmann |
Was macht die Fotografie aus den Leuten, die Literatur machen? Dieser Frage geht das Literaturmuseums der Moderne in Marbach mit seiner Ausstellung von Autorenporträts nach.
Sie schweben im Raum, 500 Porträtaufnahmen, die ungerahmt und ohne Passepartout, manche zerknittert oder eingerissen hinter schrägen Glasplatten auf Augenhöhe fixiert sind. Und sie scheinen eben aus dem Archiv hereingeweht ins Museum, all die Lichtbilder, die Ulrich Raulff aus der Fülle von 60.000 Schriftstellerfotografien in den Marbacher Autorennachlässen ausgewählt hat. Der Direktor des Literaturmuseums der Moderne stieß dabei auf:

"Fotos, die man als Kunstbilder ansprechen muss, die also in strenger Sitzung entstanden sind. Wir haben auch ganz viele Schnappschüsse, beim Sport oder beim fröhlichen Zechen - alles durcheinander. Und wir versuchen in dieser Ausstellung, auch dieses große Durcheinander, was ein Archiv aufhebt und hütet, zu zeigen. All diese Typen von Bildern, die kleinen, die großen - übrigens auch bei den Dichtern: die berühmten, die unberühmten."

Also trifft man in der Abteilung "Warten, Lauern" auf den wenig bekannten Sprachjongleur Schuldt, der mit verschwitztem T-Shirt im Hamburger Hafen am Kran vorbei in den leeren Himmel starrt, neben Martin Walser, der mit scheinbar demselben Blick - aber eben ganz Weltmann in Trenchcoat und Borsalino-Hut - am Gleisende des Frankfurter Hauptbahnhofs in die Ferne schaut.

"Diese Fotoporträtausstellung sollte zugleich eine Literaturausstellung sein, das heißt, wir wollten zeigen, was macht die Fotografie aus den Leuten, die Literatur machen."

Dazu muss man wissen, dass einige Schriftsteller sich nun wiederum gar nichts aus der Fotografie machten: Joseph Roth zum Beispiel mokierte sich 1929 über Leute, "die den Unterschied zwischen der Photographie und dem Porträt nicht kennen und das falsche Dokument der Momentaufnahme höher schätzt als das echte des Bildes") Welcher Köder aber lockte selbst Literaten wie Roth vors Objektiv?

"Die Lockspeise ist die Hoffnung, die Erwartung, die er vielleicht mit dem Fotografen teilt, dass er als großer Geist eingefangen wird. Dass nicht nur er als mehr oder weniger gut aussehender Mensch fotografiert wird, sondern dass er tatsächlich auch als geistiges Wesen, als Dichter, als Schriftsteller aus diesem Prozess rauskommt."

Das war anfangs ein alchemistischer Prozess: Balzac verweigerte sich dem fotografischen Apparat, weil ihm mit jeder Aufnahme eine Schicht seiner "spektralen Existenz" genommen werde.

"Es gibt so etwas wie eine magische Angst vor der Fotografie. Angst davor, dass man irgendwie so etwas wie die Lichthaut abgezogen kriegt oder seine Seele dabei verliert."

In der Moderne wird die Fotografie zum Überwachungsinstrument: Thomas Pynchon und Jerome D. Salinger in den USA, Maurice Blanchot in Frankreich verweigern jedes Fotoporträt. Und für welchen deutschsprachigen Autoren hätte Kuratorin Heike Gfrereis ein weißes Blatt in Marbach aufhängen müssen?

"Patrick Süßkind wäre der klassische Porträtverweigerer. Im Literaturmuseum der Moderne haben wir einen ähnlichen Porträtverweigerer, von dem wir ein heimliches Marbacher Bild haben, nämlich Hans Blumenberg. Von Blumenberg gibt es zu Lebzeiten nur ein offizielles Foto, wir haben aber den Führerschein von Hans Blumenberg."

Elfriede Jelinek, frischgekürte Nobelpreisträgerin, verbat sich eine Sonderbriefmarke, weil sie ihr millionenfach verbreitetes Gesicht nicht hätte ertragen können. Da spielte auch die Furcht vor der Boulevardpresse mit, vor jenen Massenmedien, die nach Einschätzung von Ulrich Raulff eben nicht nur die Fotografie verändert haben:

"Die Fotografie ändert sich, aber die Dichter und ihre Posen ändern sich auch. Im 19. Jahrhundert posiert man entweder als Melancholiker, oder mit dem Buch in der Hand vor der Bücherwand, in idealischem Aufblick - Augen gen Himmel gerichtet, wartend auf die Inspiration. Im 20. Jahrhundert posiert man wie Brecht mit der Lederjacke und guckt trotzig in die Kamera oder fläzt sich auf irgendwelchen Sofas herum oder wie hier Marcel Reich-Ranicki sorgenvoll auf dem Podium, also alle Falten nach oben geschoben."

Der Schriftsteller ist längst zur öffentlichen Figur geworden, zum Schauspieler, der im Gespräch mit einer kongenialen Porträtfotografin wie Isolde Ohlbaum seine differenzierte Rolle findet - oder aber als klischeehaftes Denkmal seiner selbst vor die Kamera tritt: Günter Grass, der streng über die Brillengläser blickt, die Pfeife zwischen den Zähnen. Beim Titel für diese Abteilung, das hört man von Heike Gfrereis zwischen den Zeilen, erlaubten sich die Kuratoren die gebotene Ironie:

"Es gibt bei uns eine Kategorie der 'Natürlichkeit'. Wenn man sich Leute anschaut, wie sie sich geben, sieht man immer: Letztlich schlägt die Kunst doch wieder zurück, da gilt der schöne Satz von Oscar Wilde 'Die Natur imitiert eben doch immer wieder die Kunst', weil jeder in sich Bilder hat, Vorstellungen hat, wie man sich zu geben hat."

Etwa beim Stichwort "Schwere": Da hängen - aufgereiht wie an einer Wäscheleine - Ionesco und Walter Benjamin, die Dichterin Hilde Domin und der Philosoph Hans-Georg Gadamer, auch Peter Handke und Marcel Reich-Ranicki dicht nebeneinander, verklammert allein durch die Pose des Denkerkopfes, dessen Kinn schwer in der aufgestützten Hand ruht. Konnte man anfangs nur bezweifeln, dass jede fotografische "Geisterfalle" - gleich ob vom stolzen Vater, einem anonymen Zechkumpan oder der professionellen Porträtistin aufgestellt - tatsächlich einen genialischen oder zumindest in irgendeiner Hinsicht bedeutungsvollen Moment erhascht, macht man jetzt die einfache Rechnung auf: Gleiche Geste, gleiche Haltung - völlig konträre Ergebnisse. Die Fotos täuschen, sollte man da nicht doch lieber die Texte lesen?

"Man muss in die Bücher schauen, man muss aber dann auch wieder das Foto an sich anschauen, man wird wieder zurückgeworfen auf das Foto. Gerade wenn man die Ähnlichkeit feststellt, den Beziehungszauber: Jedes Foto ist mehr als es selbst - und ich kann es nur identifizieren, in dem ich aus dieser höheren Warte wieder zu ihm zurückkomme. Das ist wie mit Kleists Satz 'Man kommt durch zwei Seiten ins Paradies hinein: entweder durch die Eingangstür oder auch durch die Hintertür.'"

Service:

Zur Ausstellung erscheint das "marbachermagazin 115/116: In der Geisterfalle. Ein deutsches Pantheon: Fotos aus dem Archiv aus drei Jahrhunderten" von Heike Gfrereis, Ulrich Raulff und Ellen Strittmatter, mit einem Essay von Sibylle Lewitscharoff. Die Ausstellung ist bis zum 28. Januar 2007 zu sehen.