High-Tech im Seniorenheim

Wenn Sensoren automatisch den Notarzt rufen

Älterer Mann schaut auf sein Smartpone, das Blutdruckwerte anzeigt.
Moderne Assistenzsysteme helfen Senioren im Alltag. © imago
Von Thomas Wagner · 23.01.2018
Kleiderschränke, die automatisch die Hose herausreichen, Sensoren, die die Bewegung überwachen, oder Toiletten, die die Vitalwerte prüfen – technische Assistenzsysteme sollen das Leben von Senioren sicherer und lebenswerter machen.
Vor was Senioren am meisten Angst haben, weiß Marianne Klaunsler aus Kempten, Mitte 70:
"Wenn man halt fällt, hinfällt. Das kann passieren. Mir ist auch schon manchmal ein bisschen schummrig geworden. Das ist dann schon schlimm, wenn man fällt."
Vor was sich Senioren im Alter am meisten fürchten, beschreibt Monika Merkle, Anfang 70, aus Stuttgart:
"Das Hauptproblem: das Treppensteigen. Aber nicht das Hochgehen, nur das Runtergehen. Wir sehen und hören, dass es klingelt. Wir sehen uns auf dem Tablet. Und jetzt schaue wir mal, wer vor der Tür steht."
Zu Gast in der "Zukunftswohnung für Senioren" in einem Wohngebiet in Stuttgart-Untertürkheim. Wer hier wohnt, braucht weder Angst vor Stürzen haben, die niemand bemerkt, noch vor schwer überwindbaren Treppen. Hier erprobt die Evangelische Heimstiftung Baden-Württemberg, wie ältere Menschen ihren Lebensabend mit großer Lebensqualität und vor allem sicher verbringen können. Und das fängt schon an, wenn ein Besucher klingelt. Dessen Konterfei erscheint automatisch auf dem großen Flachbild-Fernseher im Wohnzimmer:
"Wir haben gesagt: Häufig sind ja auch ältere Menschen gerade davon betroffen, also von Trickbetrug. Und wir sagen: Durch eine Video-Tür-Kommunikation kann ich sehen: Wer steht gerade vor meiner Haustür. Und ich kann immer entscheiden, möchte ich die Person rein lassen oder nicht?"

Erleichterung im Alltag

Ferdinand Schäffler ist Leiter des sogenannten Innovationszentrums der Evangelischen Heimstiftung, dem größten Träger für Altenwohnanlagen in Baden-Württemberg. Innovationszentrum – das steht für die Seniorenwohnanlage der Zukunft, gespickt mit einer Fülle technischer Assistenzsysteme. Die sollen älteren Menschen, trotz dem einen oder anderen Zipperlein, das Alltagsleben so gut es geht erleichtern – in den eigenen vier Wänden.
Zwei ältere Ehepaare betreten die Versuchswohnung. Sie sind in der gleichen Wohnanlage zuhause und waren schon öfters im Innovationszentrum zu Gast. Das, was sie dort ausprobieren, haben sie sich teilweise bereits in ihren eigenen Wohnungen einbauen lassen.
"Man hat ein Tablet. Man kann damit das Licht anmachen. Man kann die Rollläden hoch- und runterlassen. Man muss nicht immer aufstehen dazu. Das ist natürlich wichtig, grade wenn man im Rollstuhl sitzt und so. Und das sind alles Dinge, die einem das Leben da so erleichtern. Also ich hab‘ jetzt grade so ein Tablet in der Hand: Die Rollläden kann man einzeln steuern. Und man kann damit auch ins Internet - auch manchmal wichtig. Und da sind da noch verschiedene Spiele drauf. Dass einem nicht langweilig wird. Auch wenn man bettlägerig ist: Man kann alles in der Wohnung damit steuern."
Monika und Hans-Peter Merkle wollen auf all diese kleinen technischen Helferlein in der Seniorenwohnung nicht mehr verzichten. Die sorgen nämlich auch für mehr Sicherheit.
"Grade zum Beispiel mit der Raumüberwachung – was da alles an Möglichkeiten geboten wird: Da sind Sensoren an der Decke. Und da wird der Raum überwacht. Ein sogenanntes Bewegungsprofil wird da erstellt. Und wenn man da erkennt, dass nach einer gewissen Zeit keine Bewegungen mehr im Raum sind, dann gibt’s Alarm. Und wenn man dann Hilfe benötigt, dann ist da immer jemand da."

Der Roboter reicht Hemden aus dem Schrank

Ferngesteuerte Rollläden und Lampen, videoüberwachte Haustüren, Sensoren, die automatisch den Notarzt rufen, wenn jemand stürzt und regungslos am Boden liegen bleibt – was nach Zukunftsmusik klingt, ist in der Musterwohnung in Stuttgart-Untertürkheim bereits Realität, wird Tag für Tag aufs Neue auf seine Praxistauglichkeit erprobt. Das System hat einen Namen: Aladin.
"Aladin ist ein Wortspiel. Das setzt sich zusammen aus Alltagsunterstützten Assistenzsystemen mit Dienstleistungen. Und wir sagen als Heimstiftung: Wir möchten gerne technologische Möglichkeiten nutzen, dass Menschen so lange wie möglich zuhause wohnen bleiben dürfen. Und überall, wo Technik diesen Lebenswunsch übersetzen kann, setzen wir sie gewinnbringend ein."
Erklärt Ferdinand Schäffler, Innovationsexperte bei der Evangelischen Heimstiftung Baden-Württemberg. Und dieses Ziel verfolgen nicht nur er und seine Kollegen in Stuttgart-Untertürkheim.
Kempten im Allgäu: In der dritten Etage einer Altenwohnanlage hat die Hochschule Kempten ihr "Ambient Assisted Living" vorgestellt. Eine Art "Zukunftswohnlabor für Senioren" - ähnlich wie in Stuttgart-Untertürkheim.
Wenn Laboringenieur Alexander Karl auf sein Tablet tippt, öffnen sich im Schlafzimmer automatisch die Schränke. Wie von Zauberhand bewegt, reicht eine Art Roboterarm die Hemden heraus:
"Mit der Fernbedienung können wir das nach unten holen. Und somit ist gewährleistet, dass wir wirklich an jedes Schubfach drankommen."

Überwachung auf der Toilette

Innovative Technik ist in der Kemptener Versuchswohnung auch an einem Örtchen verbaut, wo man sie eher nicht vermuten würde: "Intelligente Toilette" steht über dem Waschbecken gleich neben dem WC.
"Das sind verschiedene Vitalwerte, die wir mit dieser Toilette erfassen können. Unter anderem Puls, Sauerstoff-Sättigung, Blutdruck, Blutzucker. Wir können das Gewicht messen, eine Urinprobe erstellen – selbst eine EKG-Messung können wir hier machen."
Später einmal könnten, so die Vision, all diese Daten automatisch zum Hausarzt übermittelt werden. Der schaut sich die Werte an und kann daraus Krankheitsbilder schon im Anfangsstadium erkennen, ohne dass der Patient dafür in die Sprechstunde kommen muss.
Die Beispiele Stuttgart und Kempten zeigen: High-Tech-Assistenzsysteme in Seniorenwohnungen werden in den kommenden Jahren immer mehr an Bedeutung gewinnen. Davon ist Bernhard Schneider, Geschäftsführer der Evangelischen Heimstiftung, fest überzeugt:
"Die Gesellschaft wird nicht nur immer älter, sondern auch immer individueller, bunter. Die Menschen wollen immer mehr individuellen Lebensentwürfen nachkommen und diese auch leben. Das heißt: Wir können mit einer Institution wie Pflegeheim gar nicht in dem Maße dem Rechnung tragen, wie die Menschen das wollen. Nur sechs Prozent der Bevölkerung, das zeigt hier die Umfrage, kann sich eine stationäre Versorgung im Pflegeheim vorstellen. Also: Wir müssen auch in dieser Beziehung alles tun, um individuelle Lebensentwürfe zu entwickeln, auch im Alter. Dazu kann Technik eine Unterstützung bieten. Wenn man alleine ist, ist das alles ganz wichtig. Ich finde das gut, wirklich sehr gut. Aber: Wer kann das bezahlen? Ich könnte das nicht bezahlen mit meiner Rente."

Noch sehr hohe Kosten

Damit legt Marianne Klausner, Mittsiebzigerin aus Kempten, den Finger in eine offene Wunde: Derzeit sind all die technischen Assistenzsysteme für Senioren, die gerade in Stuttgart, Kempten und anderswo erprobt werden, nicht eben als Schnäppchen zu haben: Alleine in die Technologien der Laborwohnung im Allgäu hat die Hochschule Kempten rund 400.000 Euro investiert. Allerdings: Man dürfe solche Kosten nicht isoliert betrachten. Halten moderne Technologien erst einmal flächendeckend in Seniorenwohnungen Einzug, lasse sich damit im Gesundheits- und Pflegesystem sogar Geld sparen, sagt Petra Friedrich, Professorin für Elektrotechnik an der Hochschule Kempten und Projektleiterin für die Zukunftswohnung für Senioren:
"Ich denke, man kann Kosten sparen, indem man einfach Prozesse optimieren kann, Wege sparen kann, Krankenhauseinweisungen sparen kann, in dem man frühzeitig Warnsignale erkennt. Naja, der Klassiker ist ja: Zuhause vor dem Bett hinfallen, Oberschenkelhalsbruch, man kommt ins Krankenhaus und dann ist ja oftmals der nächste Schritt, dass es ins Pflegeheim geht. Und wenn man das alles vermeiden kann, dann ist das hohe Lebensqualität, die man da erreicht, und letztlich dann auch Kostensenkung."
Und Bernhard Schneider von der Evangelischen Heimstiftung ergänzt: Nicht jede Seniorin, nicht jeder Senior benötigt gleichzeitig alle Technologien:
"Die Musterwohnungen sind dazu da, um zu zeigen, was möglich ist. Und nicht alles, was möglich ist, hat eine Person nötig. Wir müssen ja immer vom Bedarf und der Lebenslage ausgehen: So ein Schrank, wo ihm die Kleiderbügel entgegen kommen, braucht vielleicht auch nicht jeder. Aber vielleicht benötigt der eine das Licht, der andere braucht die Herdabschaltung. Und das sind Dinge, die wir individuell zusammenstellen können, die dem Menschen helfen, und die dann im Einzelnen auch finanzierbar sind."

Mehr Lebensqualität

Bernhard Schneider leitet daraus eine gesundheitspolitische Erwartung ab, nämlich …
"… dass dafür Geld zur Verfügung gestellt werden kann, auch von Pflegekassen und Krankenkassen. Und ich bin überzeugt: In ein paar Jahren wird eine sensorgestützte Sturzerfassung oder ein Herdabschalter oder andere unterstützende Maßnahmen auch im Hilfsmittelkatalog auftauchen müssen, damit das auch finanzierbar ist."
Bis dahin müssen aber noch eine Fülle von Fragen geklärt werden: Wie steht es mit dem Datenschutz bei Überwachungssensoren? Wie viel neue Technologie ist Senioren überhaupt zumutbar? Letztlich, so heißt es bei der Evangelischen Heimstiftung, haben die betroffenen alten Menschen selbst das letzte Wort darüber, wie viel Technik sein darf – und wie viel Technik sein muss.
Allerdings: Manchmal sind die Folgen neuer Technologien erst erkennbar, wenn es zu spät ist, erzählt Heinz Missbach augenzwinkernd. Mit seiner Frau bewohnt er bereits in Stuttgart-Untertürkheim eine Wohnung mit Assistenzsystemen:
"Wenn ich drüben in meinem Zimmer bin und es dauert meiner Frau zu lange, dann geht die ans Tablet und macht mir einfach das Licht aus. Und tagsüber, wenn ich da so sitze, dann lässt die mir den Rollladen runter. Da weiß ich: Aha, jetzt wird’s Zeit zum Mittagessen – insofern ist es schon geschickt. Es gibt schon sehr praktische Einrichtungen."
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