Kunst und Macht

Von Susanne von Falkenhausen · 01.10.2009
Was kann heute noch interessieren am Futuristischen Manifest, dessen 100. Geburtstag in dieses Jahr fällt? Italienische Kulturschaffende versuchen, aus diesem Jubiläum Funken zu schlagen, stoßen allerdings bei den Verantwortlichen der Berlusconi-Regierung auf lauwarme Reaktionen.
Kaum verwunderlich, denn ein Funke, der aus dem Manifest nach wie vor geschlagen werden kann, ist der des Anstoßes, oder besser, politischer Anstößigkeit. Politische Korrektheit war nicht die Sache des Chefdemagogen der Gruppe, F.T.Marinetti. Das Manifest verherrlicht die Schönheit des Krieges, die Eroberung von Weib und Kolonien und ist generell Zeugnis eines anti-dekadenten Machismo, geboren aus der Dekadenz des Symbolismus um 1900.

Dass die Kulturmanager der Regierung diese Gelegenheit kaum nutzen, erstaunt außerhalb Italiens insofern, als zumindest ihr Ministerpräsident in mancher Hinsicht einem futuristischen (Alb-?) Traum entstiegen scheint: ein Macho, der keine Regeln kennt, das hohe Lied des xenophoben Nationalismus singt oder singen lässt und Expansion – in seinem Fall wirtschaftliche – für eine virile Tugend hält, von den Parallelen zwischen Berlusconi und Mussolini, die oft gezogen werden, ganz abgesehen.

Mit Mussolini wären wir beim zweiten Punkt, der den Futurismus auch heute noch umstritten sein lässt. Die Berührung zwischen Futurismus und Mussolini beginnt 1914/15 in dem gemeinsamen, lautstarken Kampf für einen Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg. Sie wird offiziell, als sich nach dem Krieg Mussolinis Schlägertrupps und die Futuristen zusammentun, um mit den Mitteln des Straßenkampfes für die Wiederaneignung der durch den Friedensvertrag verlorenen Gebiete zu mobilisieren und gegen die wachsende Sozialistische Partei Front zu machen. Nach der Machtergreifung 1922 versuchen die Futuristen der zweiten Generation, dem Regime futuristische Kunst als ideale Staatskunst anzutragen und haben damit immer wieder kleinere Teilerfolge. Sie sehen sich bis zum Schluss als die kulturellen Vertreter der sogenannten faschistischen Revolution.

Was aber trieb die Künstler an, sich an dieser Dimension des Politischen zu beteiligen? Ein Missverständnis, das die Futuristen mit vielen Künstlern der Avantgarden zwischen den beiden Weltkriegen teilten: Sie hielten in ihrem Verlangen, Kunst und Leben zu verschmelzen, Leben und Politik für ein und dasselbe. Die Avantgarden in jenen Ländern, die in diesen Jahrzehnten politische Systemwechsel mit dem entsprechenden Krisenerleben durchliefen, wie Italien, Russland und Deutschland, aber auch Mexiko, waren besonders gefährdet. In gewissen Grenzen traf dies auch auf die USA der Depression zu, die Roosevelt mit einer bis dato nie gesehenen Portion Staatsdirigismus zu überwinden suchte. Der ideologische Rahmen für diese Verschmelzungsversuche von Kunst und Leben allerdings war so unterschiedlich wie die Kunst: Futurismus, Konstruktivismus, Suprematismus, Bauhaus, Muralismo, in den USA Regionalism und American Gothic.

Der Systemwechsel scheint ein wichtiges Stichwort zu sein, um dieses Phänomen, das auch heute noch irritiert, zu verstehen. Systemwechsel wurden als "Revolutionen" erlebt, ob nun von rechts oder links ausgehend, und boten offenbar den Künstlern DIE Gelegenheit, aus dem Elfenbeinturm akademischer Kunst und bürgerlichen Geschmacks auszubrechen und ihre Kunstpraxis ins Leben zu entgrenzen.

Heute wird diese Kunst, sofern sie in einem und FÜR ein System wie den Faschismus produziert wurde, aber als "reine" Kunst in den Kanon bleibender kultureller Leistungen einer Nation eingespeist werden soll, gern als Opfer einer Instrumentalisierung des Systems gesehen. Ich schlage eine andere Lesart vor: Beide Seiten, die Künstler wie das Regime, hatten gute Gründe, aufeinander zuzugehen. Durch die Anerkennung des Regimes und die Teilhabe am politisch-gesellschaftlichen Leben entkamen die Künstler ihrer Isolierung, sie sahen sich als kulturelle Führungselite der Nation. Das Regime hingegen, hervorgegangen aus dem Umsturz der parlamentarischen Ordnung, brauchte die Kompetenzen der Künstler für die visuelle Legitimation seiner Macht. Künstler und Regime legitimierten sich gegenseitig. Vom Missbrauch der Kunst zu sprechen, verschiebt das Problem ihrer Teilhabe in eine verfehlte Dimension der Moral.

Susanne von Falkenhausen, Kunstwissenschaftlerin, Professur am Kunstgeschichtlichen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin für Neuere Kunstgeschichte mit Schwerpunkt Moderne. Forschungsschwerpunkte: Kunst, Architektur und Macht seit der Französischen Revolution, Theorien und Praxen von Repräsentation in der Kunst seit 1945, Kunst des 19. Jahrhunderts.