Kunst in Taranto

Das Schweigen der Muscheln

Ein Ortsschild mit der Aufschrift Taranto
Der Stahlkonzern Ilva hat Taranto jahrzehntelang mit Feinstaub und Dioxin belastet. © dpa / pa / Halbauer
Von Sven Rech · 03.03.2014
Die süditalienische Stadt Taranto gilt als das am schlimmsten verseuchte Gebiet Westeuropas. Ein Stahlkonzern vergiftet Luft, Wasser und Boden. Ausgerechnet diesen Ort hat sich eine Künstlergruppe aus Berlin nun als Residenz gewählt.
Ein kleines, kaum hörbares Geräusch bringt die ganze Misere von Taranto auf den Punkt: das Dioxin, die Krebstoten, die leukämiekranken Kinder, die jahrelange, skrupellose Vergiftung einer ganzen Stadt durch einen Stahlkonzern. Natürlich gab es Demonstrationen, Zeitungsberichte, Fernsehbilder, Gerichtsurteile. Aber dieses eine Geräusch treibt Besuchern einer Kunstausstellung in Taranto Tränen in die Augen. Es ist das Klappern von Muschelschalen, die in der Strömung des Meeres aneinanderschlagen.
"Das hat mich sehr berührt", sagt eine junge Frau. "Es klingt wie das Plektron auf den Saiten einer Gitarre, man hört, wie die Natur etwas sagen will. Aber wir lassen es nie zu." Und ein anderer Besucher ergänzt: "Wenn man die Augen schließt, kann man sich diese andere Landschaft vorstellen, die uns hier umgibt. Und für einen Moment das Ungeheuer vor der Stadt vergessen."
Das Ungeheuer heißt Ilva, ein Stahlkonzern, der seit mehr als vier Jahrzehnten Luft, Wasser und Boden in Taranto vergiftet. Das Stahlwerk ist eines der größten in Europa, es brachte Arbeitsplätze und Wohlstand in die verarmte Region – und die mit Abstand höchsten Dioxinbelastungen von Lebensmitteln in ganz Italien. Die traditionelle Muschelzucht im Binnenmeer von Taranto, dem "Mar Piccolo", musste verboten werden. Eigentlich bietet die natürliche Mischung aus Salz- und Süßwasser optimale Bedingungen für das Wachstum der Muscheln, seit der Antike gelten die tarentiner Miesmuscheln darum als Delikatesse. Das Stahlwerk und der riesige Kriegshafen von Taranto haben das "Mar Piccolo" zerstört. Ohne große Hoffnung hat der britische Klangkünstler Peter Cusack darum sein Mikrofon ins Wasser gehalten.
"Wenn ich an einem Ort Aufnahmen mache, benutze ich immer auch ein Unterwassermikrofon", sagt Peter Cusack. "Ich war selbst überrascht von dem, was ich dann hörte – ich hatte das nicht erwartet."
Peter Cusack ist einer von fünf Künstlern aus Berlin, die im letzten Herbst drei Wochen in Taranto damit verbrachten, Bilder, Klänge und Stimmungen aufzunehmen. Angestoßen hat das Projekt die junge Performance-Künstlerin Alessandra Eramo. Sie stammt aus Taranto.
"Die Leute in dieser Stadt sind ziemlich unbewusst. Die warten, dass ein Mirakel passiert."
Sumpf aus Korruption, Lügen, Angst und Desinteresse
Alessandra Eramo aber will nicht auf ein Wunder warten. Aufwecken will sie ihre Landsleute, ihnen klarmachen, dass sie selbst handeln können und müssen. Darum hat sie eine Art Klagegesang aufgenommen, ein De Profundis, wenn man so will. An einem langen Hanfseil, an dem normalerweise tief im Meer die Tarantiner Muscheln gezüchtet werden, hängen kleine Lautsprecher, aus denen es beschwörend auf Altgriechisch tönt - der Sprache der Gründer der Stadt, die noch heute im Tarantiner Dialekt lebendig ist.
"Die Worte sind Worte von Leiden und Hoffnung."
Fast alle Arbeiten der Künstler setzen sich mit dem Leid und dem Erlittenen der Stadt auseinander, mit dem Sumpf aus Korruption, Lügen, Angst und Desinteresse. Finanziell wurde das Projekt durch das deutsche Goetheinstitut Neapel ermöglicht. Die örtlichen Politiker haben sich bei der Unterstützung des Kunstprojekts eher zurückgehalten. "Typisch!" findet das eine Ausstellungsbesucherin.
"Es entscheiden immer andere für uns, die Regierung, die Institutionen - aber die Tarantiner werden nie gefragt. Aber solche Kunstaktionen helfen uns, ein Selbstbewusstsein zu entwickeln und die Augen zu öffnen. Das ist wichtig, denn die Tarantiner - schlafen!"
Die fünf Künstler aus Berlin legen Wert darauf, dass sie nicht nach Taranto gekommen sind, um den Zeigefinger zu heben. Die Arbeit von Stefanie Weismann macht das vielleicht am deutlichsten. Sie lädt ein in einen verlassenen Tourismuspavillon aus besseren Tagen. Dort flimmern die Fenster in bunten Farben. Erst wenn die Besucher selbst aktiv werden, entstehen aus den Farben konkrete Videobilder, die die schöneren Seiten der Stadt zeigen. Die Besucher müssen dazu in einen Strohhalm pusten.
"Selber etwas tun, auch wenn es nur pusten ist. Nicht durch Sprache, sondern durch eine körperliche Aktion. Und der Atem ist ja auch etwas sehr Elementares und betrifft ja auch ganz stark die Luftverschmutzung und die Gesundheit hier in dieser Stadt und so habe ich meinen Link hier gefunden."
Besucher: "Kommt drauf an, wie lang man schauen will: für einen Kurzfilm reicht die Luft eines Kindes, aber für großes Kino braucht man schon eine kräftige Lunge!"