Kunst

Fotografie als Denkhilfe

Fotoapparat s/w
Ob Happenings oder Performances, die temporären Skulpturen sind und waren auf Foto- und Filmkamera angewiesen, um im Museum zu überdauern. © picture alliance / dpa / Boris Roessler
Von Jens Stöckmann · 22.01.2014
Das "lens-based" im Titel der AdK-Ausstellung bedeutet mehr als bloße Dokumentation künstlerischer Arbeit. Die optischen Apparaturen beeinflussen bereits die Konzeption und Skizzierung einer Skulptur.
Die jüngste Ausstellung der Berliner Akademie der Künste beginnt am Vorabend des Ersten Weltkriegs: Mit einer futuristischen, aus abstrakten Formsplittern konstruierten Skulptur erregt der Bildhauer Umberto Boccioni 1913 Aufsehen, lenkt erstmals den Blick auf die reine Bewegung, die Dynamik. Eine Epoche, die Skulptur ganz klassisch und ausschließlich nur als statuarisches Bildnis des menschlichen Körpers begreifen mochte, scheint an ihr Ende gekommen.
"Dieser Aufbruch zur Experimentalisierung der Skulptur, der hing zusammen mit ungeheuren bildtechnologischen Revolutionen: Die Chronofotografie – damals die topwissenschaftliche Bildtechnik –, dazu kam die Röntgenfotografie, die plötzlich feste Körper durchsichtig machte, dazu kam das real bewegte Bild, das Kino."
Für den Kunsthistoriker Herbert Moldering beginnt die "lens-based sculpture“, eine durch den Fotoapparat radikal veränderte Kunst der Skulptur, mit den Bilderserien von Etienne-Jules Marey, einem Pionier wissenschaftlicher Bewegungsstudien. Der Bildhauer Bogomir Ecker, ebenfalls Kurator, schätzt Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Atelier des Avantgarde-Künstlers Marcel Duchamp als Schlüsseldokumente:
"Es ist eine vollgerümpelte Bude, Dinge hängen in der Luft, Fahrräder sind auf Sockeln montiert, alles ist in Bewegung. Es ist mehr eine Versuchsanordnung denn der klassische Bildhauer, der auf einem Sockel eine Figur haut. Das ist die große Veränderung."
Grenzen des Genres lange nicht überschritten
Weder Boccioni noch Duchamp, auch nicht der Bauhäusler Moholy-Nagy mit seinen opto-kinetischen Film-Experimenten scheinen viel bewirkt zu haben. Denn noch über Jahrzehnte hielt sich der starre Kanon der Künste, wurden die Grenzen des Genres nicht überschritten:
Herbert Molderings:"Das war bei der Skulptur halt Oberfläche, Masse, Gewicht, Block, Proportionen, Statik. Und es war der Bruch mit dieser Ideologie der reinen Skulptur, der Mitte der 60er-Jahre dazu geführt hat, anzuknüpfen an diesen Paradigmenwechsel, der 1913/14 begonnen hat. Und dann gibt es eine explosive Entwicklung bis heute."
Ob Land-Art, Happenings im städtischen Raum oder Performances, die neuen temporären Skulpturen waren auf Foto- und Filmkamera angewiesen, um im Museum zu überdauern. Aber "lens-based“ bedeutet mehr als nur bloße Dokumentation. Die optischen Apparaturen beeinflussen bereits Konzeption und Skizzierung einer Skulptur, dienen als Werkzeug beim Skizzieren, erweisen sich als Transformationsinstrument für plastisch noch gar nicht greifbare erste Gedanken. Der Bildhauer Bogomir Ecker:
"Wenn sie heute in die Kunsthochschulen gehen, da werden sie sehen, dass 80 Prozent fotografieren und 20 Prozent zeichnen. Das heißt, die Fotografie konnte genau dieses Nachdenken – man hat ja gesagt: Zeichnung ist nachdenken, umfassen, sich langsam nähern – das, diese Funktion hat die Fotografie mittlerweile übernommen. Der Wissenschaftler macht ein Experiment dann nur gut, wenn er einen Abstand zum Experiment hat. Von daher ist die Fotografie günstig, weil sie eine Distanz schafft."
Sinnlich gestalteter Ausstellungsparcour
Aber nicht auf nüchterne Distanz, sondern auf die sinnlich reizvolle Gestaltung ihres Parcours setzen die Kuratoren. Und so wird der Betrachter immer wieder hineingezogen in die wundersame Innenwelt skulpturaler Bildmaschinen wie einer riesigen, fast schon begehbaren Balgenkamera oder eines ratternden Projektors mit der Endlos-Filmschleife.
Herbert Molderings: "Die dekonstruieren das Technische, erzeugen neue, vor allen Dingen spielerische Apparate und ermöglichen dem Besucher, sich über die Automatismen im Umgang mit Apparaten, die sich seit Kindesbeinen einschleichen, bewusst zu werden."
Damit ist dann endgültig der Anstoß gegeben, Skulpturen kunstgerecht anzuschauen: aus wechselnden Blickwinkeln, unter immer neuen Aspekten. Die Fotografie sorgt schließlich auch für die Wahrnehmung sozialer, gesellschaftlicher Dimensionen, etwa mit den Bildern von Männern, die im Auftrag des Künstlers Francis Alys Eisblöcke oder riesige Mülltonnen durch die Straßen von Mexico-City bewegen. Und am Ende kommt es gar nicht mehr darauf an, ob der Künstler nun Bildhauer ist – oder "nur“ ein Filmregisseur wie Jean Cocteau. Dessen "Orphée“, gespielt von Jean Marais, bahnt sich mit tastenden Handbewegungen durch einen Quecksilberspiegel seinen Weg in die Unterwelt.
Mit ähnlich gespannter Aufmerksamkeit war der Ausstellungsbesucher zuvor durch die rekonstruierte "Porte Gradiva“ von Marcel Duchamp gegangen, der in metallgerahmtes Milchglas eingeschnittenen Silhouette eines Liebespaares. Und das war beileibe nicht der einzige Moment, in dem sich sinnliche Erfahrung und intellektuelle Assoziationen so glücklich vereinten wie, nun ja: wie Skulptur und Fotografie.