Gesellschaftsbrüche

Die Kunst der Versöhnung

Szene aus dem Erfolgsmusical "Hamilton".
Eine Geschichte, die Menschen aus unterschiedlichen politischen Lagern gut finden können: das Erfolgsmusical "Hamilton". © picture alliance / TNS / Joan Marcus photo
Ein Einwurf von Simon Strauß · 04.09.2023
In Zeiten gesellschaftlicher Spaltung eröffnet sich für die Kunst eine neue Aufgabe, findet der Journalist Simon Strauß: Kunst könne das Lagerdenken überwinden, Menschen zusammenführen und versöhnen.
Was ist die Aufgabe der Kunst? Auf die Frage sind seit Menschengedenken viele Antworten gegeben worden. Von den alten Griechen und ihrer Vorstellung einer seelenreinigenden Wirkung bis zu Bertolt Brechts Diktum einer politisch erziehenden Kunst. Immer schon wurde um die Frage gerungen, wie autonom das künstlerische Schaffen vonstattengehen darf, welche Eigenständigkeit wir dem ästhetischen Raum zugestehen. Eine wichtige Debatte, bei der es eigentlich nur eine mutige Antwort gibt: den größtmöglichen.

Die alten Vorstellungen helfen nicht weiter

Wenn wir uns für diese Minuten aber einmal auf die andere Seite stellen und prosaisch nach dem Zweck der Kunst in unseren Tagen fragen, dann fällt schnell auf: Die alten Vorstellungen helfen nicht weiter. Eine Kunst, die die Mächtigen kritisiert? In Zeiten der Elitenverachtung und Institutionenbeschimpfung nicht gerade zielführend. Eine Kunst, die Missstände aufdeckt und gegen Unrecht protestiert? Gut gemeint, aber im Vergleich zu gut geklickten Scoops und einflussreichen Meinungsmachern im Internet peinlich wirkungslos. Eine Kunst, die einfach gut unterhält? Das klingt verdächtig nach Weltflucht und Elfenbeinturm.
Wie wäre es mit einer neuen Aufgabe? Einer neuen Bestimmung für die Kunst? In Zeiten, in denen der Zusammenhalt in westlichen Gesellschaften einbricht, in denen Spaltung und Trennung flächendeckend wird, eröffnet sich für die Kunst ein neues Wirkungsfeld. Während lange Zeit der Protest und die bissige Gesellschaftskritik als ihr wichtigstes Gütesiegel galt, wird heute eine andere Qualität von ihr entscheidend: die Fähigkeit zur Versöhnung. Wenn wir schon über einen Zweck von Kunst sprechen, dann liegt er - zumindest in unserer aktuellen Gegenwart - nicht im Aufwiegeln, sondern im Befrieden. Im Zusammenführen. Im Entschärfen von Gegensätzen.

Republikaner und Demokraten sind sich einig

Am Beispiel des amerikanischen Erfolgsmusicals „Hamilton“ lässt sich plastisch zeigen, worum es geht. Gehen könnte. Das Geniale an diesem – natürlich auch aus vielen anderen Gründen – kunstfertigen Werkes war die Chance, es aus unterschiedlichen politischen Lagern heraus gut zu finden.
Einerseits befriedigte es das patriotisch gesinnte Publikum, das die Gründungsgeschichte der Vereinigten Staaten auf emotionale Weise vorgeführt bekam. Andererseits antwortete es auf die Bedürfnisse identitätspolitisch bewegter Zuschauer, die in einem rein schwarzen Ensemble ein politisch progressives Zeichen erkannten. „Hamilton“ war etwas, worüber sich Republikaner und Demokraten einig werden konnten: ein Glücksfall für die chronisch gespaltene amerikanische Zivilgesellschaft.
Solche wertvollen Brückenmomente kann heute neben dem Sport nur die Kunst schaffen. Das, was der Politik in unseren Breitengraden nicht mehr zu gelingen scheint, nämlich die hasserfüllten Positionsträger und identitätsbewussten Individualbürger als empfindsame Universalmenschen zusammenzuführen, das kann einem Indie-Film oder einem Kammermusikabend noch gelingen. Darin liegt eine viel zu selten betonte Kraft der Kunst. Die allerdings nur dann zum Tragen kommt, wenn sie es nicht einfach einer Seite recht macht.

Einfühlendes Mitleid mit den besiegten Feinden

Kunst kann über den Dingen stehen. Man kann die Freude über sie mit Menschen teilen, mit denen man sonst nichts, schon gar nicht die politische Einstellung, teilt. Das allererste Theaterstück der Menschheitsgeschichte kann in dieser Hinsicht übrigens als beispielhaft gelten: Aischylos „Perser“ aus dem Jahr 472 v. Chr. handelt vom einfühlenden Mitleid mit den besiegten Feinden. Ein Paradebeispiel dafür, wie Kunst das verheerende Lagerdenken überwindet.

Simon Strauß, geboren 1988 in Berlin, studierte Altertumswissenschaften und Geschichte in Basel, Poitiers und Cambridge. Er ist Mitorganisator des „Jungen Salons“ in Berlin. Seit Oktober 2016 ist er Redakteur im Feuilleton der FAZ. 2017 veröffentlichte er sein erzählerisches Debüt „Sieben Nächte“. Seit 2018 gehört er zum Vorstand des Vereins Arbeit an Europa e. V., im Januar 2023 erschien sein neues Buch „zu zweit“.

Ein Mann im Anzug: der Journalist Simon Strauß
© Julia Zimmermann
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