Kunst der leisen Töne

Von Irene Binal · 28.09.2009
Die Bücher der Schriftstellerin Emmanuelle Pagano erscheinen auf den ersten Blick unauffällig - aber sie hinterlassen großen Nachhall. Heute wird ihr für den Roman "Die Haarschublade" der Europäische Literaturpreis für Frankreich verliehen.
"Ich schnappe ein Stück einer Geschichte auf, die mich manchmal direkt betrifft und manchmal nicht, und ich baue sie zusammen. Dieser Zusammenbau ist meistens vollkommen künstlich, auch bei allgemeinen Themen. Das heißt, die Fiktion ist eine Collage aus realen Stückchen."

Mit diesen Collagen hat Emmanuelle Pagano in Frankreich bereits auf sich aufmerksam gemacht – mit eindringlichen Texten, die den Alltag einfangen, ihn durchleuchten und sezieren und ihm bei aller Nüchternheit eine ästhetische Dimension verleihen. Texte, die sich auch nicht scheuen, heikle Themen aufzugreifen. In dem Roman "Der Tag war blau" hat sich die Protagonistin einer Geschlechtsumwandlung unterzogen, und in Paganos neuen Buch "Die Haarschublade" beleuchtet die Autorin die komplizierte Beziehung einer jungen Mutter zu ihrem schwer behinderten Kind.

"Ich versuche, ihn aufrecht in den Kinderwagen zu setzen, zurre das Gurtwerk fest, aber der Oberkörper und die Schultern und der Nacken, der Kopf kippen zur Seite. Ich klemme seine Füße auf die Fußstützen über den Rädern. Er murrt ein bisschen. Es geht mir auf die Nerven, zu sehen, wie seine Augen in die Luft stieren, seine Augen, die immer hinter Wolken versteckt bleiben, aber heute ist es nicht bewölkt, also sieh mich an, Pierre, lass es doch zu, hör her, halt dich gerade, sieh mich an, sieh mich doch an. Ich zwinge mich, nicht zu schreien."

Emmanuelle Pagano ist selbst Mutter, aber ihr Roman hat nichts mit ihrer eigenen Biografie zu tun. Die 40-Jährige hat drei gesunde Kinder, zwei Söhne und eine Tochter im Alter zwischen sechs und 18 Jahren. Mit ihnen und ihrem Mann wohnt sie in der französischen Region Ardèche und führt ein ganz normales Leben – aber gerade in der Normalität findet sie ihre Inspiration.

"In der Phase der Vorbereitung auf einen Roman mache ich den Haushalt, ich gehe zur Arbeit und so weiter. Das alles speist dann die Bücher, es ist keine Zeitvergeudung."

Die Augen sind es, die bei Emmanuelle Pagano als Erstes auffallen: große, sanfte Rehaugen, die das ganze Gesicht dominieren. Und groß ist auch ihr Lächeln, warmherzig und freundlich. Besuchern gegenüber gibt sich Pagano ganz ungezwungen, empfängt sie barfuß in einem sommerlich-bunten Batikkleidchen, bietet Tee, Kaffee, Orangensaft an. Erst im Gespräch wird sie dann ernst, konzentriert und nachdenklich, und man spürt etwas von der inneren Kraft, die in diesem zierlichen Persönchen steckt. Kraft braucht sie, nicht nur im familiären Alltag, sondern auch in ihrem Beruf als Lehrerin für bildende Kunst.

"Anfangs wollte ich Lehrerin werden, um Zeit zu haben für meine Leidenschaft, die Ästhetik des Kinos, und ich dachte, als Lehrerin hätte ich diese Zeit. Aber ich habe mich geirrt. Als ich den Beruf näher kennenlernte, entdeckte ich, dass es ein Beruf für Verrückte ist, ein Beruf, in dem man sehr viel zu tun hat. Da wurde mir klar, dass ich so nicht weitermachen kann. Ich hatte schon zwei Kinder und ich dachte, ich muss schreiben und entdecken, und so bin ich zum Roman gekommen, weil man dabei arbeiten kann, wie und wann man will."

So ist es nur logisch, dass Emmanuelle Pagano ihren Brotberuf gern ganz an den Nagel hängen will. Denn ihre eigentliche Leidenschaft sind die Bücher. Sie schreibt in jeder freien Minute, vor allem in den Schulferien, aber auch abends oder nachts. Und sie ist eine nicht minder begeisterte Leserin:

"Ich liebe das Lesen. Auch wenn ich mich manchmal zu Büchern zwinge, die mir zu beschwerlich sind, die ich aber lesen muss. Und das Schreiben ist zwar eine Arbeit, aber ich brauche das, es ist für mich absolut lebensnotwendig."
So arbeitet Emmanuelle Pagano in Gedanken immer bereits an ihrem nächsten Roman, beobachtet den Alltag um sich herum, sammelt Ideen und Sätze, die sie nachher zu etwas ganz Eigenem zusammenfügen kann. Zu jenen Büchern, die auf den ersten Blick einfach scheinen, aber noch lang nachwirken – gerade so wie Emmanuelle Pagano es sich wünscht:

"Manchmal sagen mir Leser: 'Ihr Buch hat später begonnen, in uns zu arbeiten, viel später.' Wenn man mir das sagt, weiß ich, dass es das ist, was ich möchte. Es ist wunderbar, etwas in den Köpfen der Menschen zu bewegen, sie noch viel später nachdenklich zu machen. Man kann in das Innere der Menschen vordringen. Das ist es, was ich wollte."