Kunst aus Physik

Von Sven-Claude Bettinger |
Seit langem begeistert sich Edith Dekyndt für Naturwissenschaften. Experimente verwandelt sie allerdings in poetische, ästhetische Kunstwerke. Das Museum für zeitgenössische Kunst im Grand-Hornu zeigt jetzt eine Retrospektive der Belgierin.
Die neueste Arbeit von Edith Dekyndt umklammert und durchdringt die ganze Ausstellung. Im Eingangsbereich erläutert ein Text "Radiesthesic Hall". Ein Radiesthesist oder Geobiologe hat die Schwingungen in den Räumen des Museums gemessen, die von der Erde und den anwesenden Menschen verursacht werden. Spezielle Glühbirnen reagieren darauf, je nach Schwingung tönen sie das Licht gemäß der sogenannten Farbenskala von Bovis, von bordeauxrot über gelb und grün bis dunkelviolett.

Damit beginnt für den Besucher ein subtiles Ratespiel. Am Ende der Ausstellung steht er vor einem Foto. Es zeigt den Bauch des Geobiologen in bordeauxrotem Sweatshirt, die Arme angewinkelt, die Hände umklammern simple Messgeräte: Ein Holzgriff, aus dem ein gebogenes Metallstäbchen ragt. Das Foto ist geradezu brutal scharf. Diese Arbeit wird Diskussionen auslösen, vermutet Edith Dekyndt:

"Seit ungefähr 15 Tagen rede ich mit Leuten über diese Arbeit. Sie löst unglaubliche Reaktionen aus. Die Leute erzählen mir Geschichten von einem Gesundbeter, den sie kennen, von Schamanen oder Teufelsaustreibern, denen sie begegnet sind. Das ist spannend – zumal die Leute, die sich bisher am meisten für diese Arbeit interessiert haben, Wissenschaftler sind. Hier gibt es einen Schattenbereich. Den möchten sie erforschen. Diese Arbeit reizt sie sehr."

Zwischen Wissenschaft und Kunst balanciert Edith Dekyndt seit jeher. Manchmal gleichen ihre Werke Experimenten. Etwa "Martial O", wo aufrecht stehende Magnetsplitter wie ein wildes Insekt um einen Krater aus Metallstaub sausen, dessen Ränder von Kraft und Bewegung verformt werden. Oder das Video "Static Sound".

Eine warme Wolldecke wird im Dunkeln geschüttelt. Sie entlädt Elektrizität, die nicht sichtbar, aber sehr wohl hörbar ist. Dabei bilden die dumpfen Klänge einen faszinierenden Kontrast zu den ungemein ästhetischen Bildern. In Wellen gleiten sie über den Bildschirm, die körnige Rasterung in allen Schattierungen von Grau ergibt eine regelrechte Symphonie. Eine banale physikalische Erkenntnis ergibt höchsten ästhetischen Genuss:

"In einem bestimmten Moment habe ich eine Idee. Dann stelle ich mir die Frage, wie ich sie umsetzen könnte. Das soll so einfach wie möglich geschehen. Und äußerst offen. Eine Arbeit soll nicht eine einzige Bedeutung haben, sondern mehrere. Ich versuche, genügend Freiraum für die Fantasie zu lassen. Der Betrachter soll seine eigene Interpretation finden können."

Einen ersten Höhepunkt bildet die gigantische Videoprojektion "End". Sie ist im Auftrag des Museums entstanden, und in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der Technischen Hochschule Mons:

"Hier bekam ich die Gelegenheit, die Zeit und den Raum, um mit Akustikern zusammen zu arbeiten. Das hat mir Spaß gemacht. Die Wissenschaftler kamen mit Ideen, auf die ich nie gekommen wäre. Eigentlich haben sie das Werk hervorgebracht."

Die Akustiker haben die Resonanzen von angestoßenen Kristallgläsern gemessen, die Frequenzen ermittelt und mit einem Verstärker zu den Gläsern zurückgeschickt. Die Kristall-Moleküle haben sich gedehnt und sind letztlich zerbrochen. Das wurde mit 5000 Aufnahmen pro Sekunde gefilmt. Die Videoprojektion zeigt in 25 Bildern pro Sekunde ein Ballett von Strukturen, die mit Licht und Schatten in feinsten Grau-Tönen zerfließen. Dann und wann unterbricht ein kurzer Lichtblitz mit den Farben des Spektrums diese Träumerei – bei der der Ton fehlt.

Eine umgekehrte Verfremdung liefert dann die Verknüpfung von "Voyager II", "Major Tom" und "Die Wellen von Love". Die Klänge, von Regen und Gewitter, Wind und Wogen, Herzschlag oder Schritten, hatte die Raumsonde "Voyager II" 1977 mitgenommen. Sie begleiten einen Ballon, der je nach Temperatur, Bewegungen, Licht und Frequenzen im Raum schwebt, und ein Video, auf dem sich ein langes Tuch in einem Vulkankrater schlängelt. Nur: Die drei Rhythmen passen nicht zueinander. Denn die Künstlerin möchte nicht wie im Film mit Musik untermalen, zum Beispiel eine traurige Szene.

Hier und da erinnern Werke in "klassischen" Techniken daran, dass Edith Dekyndt zuerst Künstlerin ist. Etwa Blätter, die mit Bleistiftstrichen beschichtet und anschließend zerknittert oder gefaltet worden sind. Sanft schimmern die Strukturen, fangen Licht ein, werfen Schatten. "Vorstudien" lauten die Titel, obwohl es um viel mehr geht:

"Auf diese Art konzentriere ich mich. Ich gerate regelrecht in Trance. Denn an jeder Zeichnung arbeite ich ungefähr zehn Tage lang und sehr rhythmisch. Die Wiederholung der Gesten bewirkt Konzentration. Ich zeichne wie besessen."

Intellektuell ist der Kosmos von Edith Dekyndt, aber eben auch sehr poetisch. Die Konzepte hinter den Arbeiten regen zum Denken an, die ästhetische Bilderwelt beschert Emotionen und Genuss. Dieser Dialektik verdankt die Belgierin ihren Erfolg.