"Kunst aus dem Holocaust" in Berlin

Wasserfarben-Freunde und andere Wunder

Die Künstlerin Nelly Toll steht vor ihren Bildern in der Ausstellung "Kunst aus dem Holocaust - 100 Werke aus der Gedenkstätte Yad Vashem" im Deutschen Historischen Museum in Berlin.
Die Künstlerin Nelly Toll steht vor ihren Bildern in der Ausstellung "Kunst aus dem Holocaust - 100 Werke aus der Gedenkstätte Yad Vashem" im Deutschen Historischen Museum in Berlin. © dpa / picture alliance / Britta Pedersen
Von Christiane Habermalz · 25.01.2016
Menschen malten in den Ghettos und Konzentrationslagern, um das Unsägliche zu dokumentieren und um in Fantasiewelten zu flüchten – aber auch, um zu überleben. 100 Bilder aus der Kunstsammlung der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem werden in Berlin gezeigt.
Bereits das erste Bild in der Ausstellung ist von bedrückender Aktualität. Ein Mann mit Wanderstab und Bündel sitzt, das Gesicht in den Händen vergraben, in einem Raum vor einem Globus, der keinen Ort für ihn bereit hält, an den er fliehen kann.
Gemalt hat es der deutsch-jüdische Maler Felix Nussbaum 1939 in Brüssel. Da hatte der Künstler bereits mehrere Jahre der Flucht durch Europa hinter sich, noch fünf weitere Jahre würde er mit seiner Frau, gehetzt und schutzlos, im Untergrund leben, bis er 1944 schließlich verraten und in Auschwitz ermordet wurde.
Nussbaum, der noch Anfang der 30er Jahre als Künstler der Neuen Sachlichkeit Erfolge in Berlin feierte, ist der bekannteste Künstler in der Ausstellung. Von vielen weiteren blieb nichts als der Name und die Kunstwerke, die sie unter extremen Bedingungen in Ghettos, Konzentrationslagern oder im Untergrund schufen.
Avner Shalev, Vorsitzender der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem:
"Ich denke, die Tatsache, dass Menschen auch unter diesen Umständen eine Möglichkeit finden, ihre Menschlichkeit und Humanität zu bewahren und auszudrücken - jenseits der Brutalität, dem Bösen, dem Tod um sie herum, das ist der Kern dessen, was wir in dieser Ausstellung zeigen."
"Kunst aus dem Holocaust" heißt die Ausstellung im Deutschen Historischen Museum. Gezeigt werden 100 Bilder aus der 10.000 Werke umfassenden Kunstsammlung von Yad Vashem. Es ist das erste Mal, dass die Gedenkstätte eine derart umfangreiche Präsentation außerhalb Israels präsentiert. Die fast ausschließlich grafischen Werke sind zwischen 1939 und 1945 entstanden.
Schon ihre Existenz ist ein Wunder. Die Beschaffung von Papier und Farbe war lebensgefährlich, ebenso, die Bilder zu verstecken oder hinauszuschmuggeln. Manche Künstler malten auf alten Kartoffelsäcken, andere mischten die Farben aus Schlamm und Kohlenstaub. Sie malten, um Zeugnis abzulegen, das Unsägliche zu dokumentieren – aber auch um zu überleben. Malen als Akt des Widerstands.
"Die Künstler waren sich bewusst darüber, dass sie für die Nachwelt malten. Sie wussten, dass sie wahrscheinlich nicht überleben würden, dass sie physisch vernichtet werden würden. Aber sie hofften, dass wenigstens etwas von ihnen überleben würde. Sie hofften, eine Spur ihrer Existenz zu hinterlassen – und ihres geistigen Kampfes."
... erzählt Eliad Moreh-Rosenberg, Direktorin der Kunstabteilung von Yad Vashem. Gemeinsam mit Walter Smerling, dem Vorsitzenden der Stiftung für Kunst und Kultur, hat sie die Ausstellung kuratiert. Die Kunstwerke bilden nicht nur die Realität des Alltags in Ghettos und Lagern ab, sie zeigen auch die Flucht in Transzendenz und geistige Fantasiewelten – oder porträtieren Menschen in einer Todesmaschinerie, die den Opfern jede Menschlichkeit abspricht.
"Frei sein und atmen und schrein"
Beispiel: Selma Merbaum-Eisinger, sie war 18 Jahre alt, als sie im Lager Michailowka in Transnistrien an Typhus starb. In der Ausstellung hängt ein Gedicht von ihr, entstanden im Lager:
"Ich möchte Leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
Und möchte kämpfen und lieben und hassen
Und möchte den Himmel mit Händen fassen
Und möchte frei sein und atmen und schrein.
Ich will nicht sterben. Nein!
Nein."
Das Gedicht hängt neben einer Zeichnung eines Mithäftlings Arnold Daghani, in der er den Moment festhält, in dem der Leichnam der jungen Dichterin von der Pritsche gehoben wird.
Oder die kleine Nelly Toll. Zwei Jahre lang lebte sie als Achtjährige mit ihrer Mutter versteckt in einem winzigen abgeschlossenen Raum in Lemberg, in Ostgalizien. Jeden Tag saß sie an einem kleinen Tisch und malte. Mädchen in bunten Kleidern, die spielten, in einem grünen Garten. Kinder, die zur Schule gingen.
Nelly Toll: "Man sieht nichts von Krieg, nirgends. Nicht von Terror und Angst. Das sind bloß Kinder, und ich habe mir wohl vorgestellt, dass ich eines Tages auch einmal zur Schule gehen würde. Ich habe sie meine Wasserfarben-Freunde genannt. Ich habe sogar mit ihnen geredet."
60 Hefte hat sie vollgemalt, sieben davon werden in Yad Vashem aufbewahrt. Nelly Toll ist die letzte noch lebende Künstlerin und Ehrengast der Ausstellung. Heute lebt sie in den USA – und ist Professorin für Literatur und Kunst.
Programmtipp: In der Sendung Fazit ab 23.05 Uhr sprechen wir mit dem Kunsthistoriker Jürgen Kaumkötter, Autor des Buchs "Der Tod hat nicht das letzte Wort. Kunst in der Katastrophe 1933-1945" (Galiani Verlag). Christine Watty fragt ihn: Kann man Bilder aus dem Holocaust überhaupt kunsthistorisch bewerten bzw. das Leid des Künstlers von seiner Leistung als Künstler trennen?
Informationen des Deutschen Historischen Museums zur Ausstellung "Kunst aus dem Holocaust"
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