Kultursoziologe Andreas Reckwitz

Wie Gesellschaften sich verändern

29:49 Minuten
Porträt von Andreas Reckwitz.
Andreas Reckwitz ist Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. © Laif / Jonas Holthaus
Andreas Reckwitz im Gespräch mit Thorsten Jantschek  · 08.08.2020
Audio herunterladen
In der neuen Mittelklasse hat die Gesellschaft einen dominierenden urbanen Lebensstil etabliert, geprägt von Erfolg und hedonistischer Selbstverwirklichung. Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz beobachtet auch eine neue Moralisierung.
Kürzlich erreichte uns eine interessante Nachricht von einem Hörer, der sich angesichts der allgegenwärtigen kulturellen und sozialen Konflikte fragt, wie wir überhaupt gesellschaftliche Formierungen beschreiben sollen. Als unterschiedliche Kulturen, als eine Gesellschaft unterschiedlicher Klassen, oder müssen wir spezielle Milieus in den Blick nehmen?
"Hat der deutschstämmige Arzt" – so fragt sich unser Hörer Andreas Kreuzer – "nicht mehr mit dem türkischstämmigen Arzt gemein, als dieser mit einem türkischstämmigen Arbeiter? Oder was hat ein urbaner Punk mit einem bayerisch-ländlichen Jugendlichen im Schützenverein zu tun?" Und gibt es dann so etwas wie eine nationale Kultur?
Passanten mit einem Kinderwagen laufen am Café SowohlAlsAuch in Berlin Prenzlauer Berg vorbei.
Die neue Mittelschicht der Gegenwartsgesellschaft teilt einen Lebensstil und kosmopolitische Werte ebenso wie etwa eine hohe Bildung.© Picture Alliance / ZB / Jens Kalaene
Für den Berliner Kultursoziologen Andreas Reckwitz sind das grundlegende soziologische Fragen. Für ihn ist die Klasse der primäre Bezugspunkt. In der gegenwärtigen dominanten neuen Mittelklasse treffen sich ein urbaner Lebensstil mit bestimmten Werten, eine ökonomische Grundausstattung durch Einkommen oder kultureller Bildung und natürlich gesellschaftlicher Macht. Erst auf dieser Grundlage werden – sekundär – auch kulturelle oder nationale Einflüsse und Differenzen sozial wirksam.

Das Interview im Wortlaut:

Deutschlandfunk Kultur: Wie formiert sich denn unsere Gesellschaft, gerade jetzt im Blick auf die Frage, was denn ein deutscher und ein türkischstämmiger Arzt gemein haben oder ein urbaner Punk und ein ländlicher Jugendlicher im Hinblick auf gesellschaftliche Zugehörigkeiten?
Andreas Reckwitz: Das ist eine ganz zentrale Frage der Soziologie und auch der Kulturwissenschaften. Die Frage "Wie wird das Individuum kulturell geprägt und in welchen Dimensionen wird es kulturell geprägt?" Da ist es sicher wichtig, dass man verschiedene Dimensionen voneinander unterscheidet.
Man könnte sagen, das Individuum ist so eine Art Kreuzungspunkt verschiedener kultureller Dimensionen. Wir haben ja manchmal alltäglich die Vorstellung, als ob das Individuum autonom wäre, also die Tradition der klassischen Bewusstseinsphilosophie, das autonome Subjekt.
Aber tatsächlich ist es natürlich so: Das Individuum wird subjektiviert. Es wird zu einem Subjekt gemacht durch bestimmte – man könnte sagen – "kulturelle Einflüsse". Ich würde eigentlich schon sagen, wobei es sicherlich in der Soziologie unterschiedliche Positionen gibt, dass es zunächst mal die sozial-kulturelle Klasse ist, die das Subjekt in einer Gesellschaft zu dem macht, was es ist.
Der Begriff "Klasse" ist natürlich auch nicht so ganz ohne. Der hat ja auch eine Geschichte, die zum Beispiel auf Karl Marx zurückgeht, also, wo Klasse ja vor allen Dingen ökonomisch bestimmt wurde. Ich würde den Begriff "Klasse" aber breiter anlegen und sagen: Da gibt es, man könnte sagen, verschiedene Lebensformen in der Gesellschaft, die aber gleichzeitig auch mit verschiedenen Ressourcen ausgestattet sind und die auch eine unterschiedliche Machtposition haben.
Zum Beispiel die neue Mittelklasse in der Gegenwartsgesellschaft ist eine Formation, die einerseits eine bestimmte Lebensform, einen bestimmten Lebensstil teilt, zum Beispiel auch kosmopolitische Werte oder ein Ideal des guten Lebens usw. Gleichzeitig ist das auch eine Formation, die bestimmte Ressourcen hat, zum Beispiel hohe Bildung oder auch ein jedenfalls einigermaßen vernünftiges Einkommen und die gleichzeitig aber auch einen bestimmten hohen Einfluss in der Gesellschaft hat.
Ich denke, bei jedem Individuum zum Beispiel in der deutschen Gesellschaft sollte man sich erstmal fragen: Zu welcher Klasse gehört es? Dann, würde ich sagen, erst auf einer zweiten Ebene können dann noch mal andere Identitätsdimensionen eine Rolle spielen, wie zum Beispiel die Ethnizität, also die Frage, woher kommt man? Ist man migriert oder einheimisch?
Oder auch die Frage: Aus welcher Region kommt man? Das kann auch Einflüsse haben. Das wären die zweiten Dimensionen. Aber die erste Dimension ist erstmal die sozial-kulturelle Klasse, die Lebensform, die Ressourcen und auch der Einfluss, der damit in Zusammenhang steht.

Kulturelle Milieus und Identität

Deutschlandfunk Kultur: Welche Rolle spielt denn das, was in der klassischen Soziologie zum Beispiel "Milieu" heißt?
Reckwitz: Diese Begriffe sind nicht trennscharf voneinander zu unterscheiden. Die überlappen sich auch. Ich würde sagen: Der Begriff Milieu ist enger. Und der Begriff der Klasse, so wie ich ihn verstehe, ist noch stärker und mehrdimensionaler. Milieu umfasst im Wesentlichen, dass man in einem bestimmten sozialen Kontext die gleichen kulturellen Praktiken und Werte teilt. Der Milieubegriff bezieht sich also vor allem auf diese im engeren Sinne kulturelle Dimension, das, was man gemeinsam hat an Werten, Praktiken, Normen, Lebensmaximen und das, wo man dann auch einen gewissen sozialen Austausch hat.
Der Milieubegriff ist aber nicht so stark, wenn es um die Ressourcen geht. Diese Frage, wie viel Einkommen ist da, wie viel Bildung ist da, würde der Klassenbegriff eigentlich nochmal stärker betonen. Und vor allen Dingen, auch das Milieu war eine Zeitlang in der Soziologie sehr populär.
Deutschlandfunk Kultur: Da wurde immer von dem berühmten Taxifahrer mit akademischem Hintergrund gesprochen, der dem Arzt, den er fährt, näher ist als vielleicht einem anderen Taxifahrer, der einen anderen sozialen Hintergrunde hat.
Reckwitz: Das würde ich auch sagen. Aber trotzdem: Der Milieubegriff suggeriert ein wenig so eine Buntheit von Milieus in der Gesellschaft. "Pluralisierung von Lebensstilen" war ein Begriff, der lange verwendet wurde, als ob die Milieus alle gleichberechtigt sind und alle so nebeneinanderstehen, jedes für sich. Aber das ist nicht so.
Es gibt bestimmte Lebensformen, die einfach auch einflussreicher sind in der Gesellschaft, die auch eher so was wie das Erstrebenswerte bezeichnen oder die stärker mit Macht verbunden sind, und andere, die mit weniger Macht verbunden sind. Ich denke, das muss man auch im Auge haben. Der Klassenbegriff würde auch stärker die Ungleichgewichte in der Gesellschaft bezeichnen.

Nationale Differenzen sind sekundär

Deutschlandfunk Kultur: Hat es vor diesem Hintergrund eigentlich noch Sinn, von so etwas wie einer "nationalen Kultur" zu sprechen?
Reckwitz: Das ist interessant. Ich würde zunächst wirklich sagen, dass diese Klassenunterscheidung, das heißt, die Unterscheidung zwischen Lebensformen, Ressourcen ist primär. Und dann kommen auch noch nationale Differenzen dazu. Es gibt sicherlich auch bestimmte Differenzen, was man jetzt deutsche Kultur im Unterschied zur französischen Kultur nennen könnte, was zum Beispiel mit dem jeweiligen Bildungssystem zusammenhängt oder auch mit bestimmten unterschiedlichen regionalen Kulturen. Da gibt es auch Differenzen, aber das scheint mir eher sekundär zu sein.
Um beim Beispiel zu bleiben: Der Akademiker in Berlin und die Akademikerin in Paris haben möglicherweise mehr gemeinsam als zum Beispiel die Akademikerin in Paris mit den Abgehängten in der Region in Südfrankreich. Die nationalen Differenzen sind mittlerweile eher sekundär. Und diese Differenzen nach Lebensstil und Klasse sind eigentlich eher primär.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben gesagt, dass das Subjekt den prägenden Einflüssen von Lebensformen, Stilen ausgesetzt ist. Was heißt denn das genau? Wie formiert sich Subjekthaftigkeit, wenn man jetzt nicht mehr annimmt, dass es zum Beispiel ein Bewusstsein gibt, das von der Gesellschaft zugerichtet wird oder der Gesellschaft zumindest gegenübersteht als Einzelner?

Das Subjekt wird geformt

Reckwitz: Man könnte erstmal davon ausgehen: Wenn der Mensch auf die Welt kommt, ist er erstmal ein leeres Blatt. Da ist nichts. Es wird dann kulturell beschrieben von der Gesellschaft – über bestimmte Praktiken, über bestimmte Diskurse, erstmal über die Sozialisation, später über andere Einflüsse.
Das heißt, das Individuum wird subjektiviert. Es ist nicht von vornherein Subjekt. Es wird zu einem Subjekt gemacht. Und als jemand, der zu einem Subjekt gemacht wird, kann es dann zum Beispiel auch am Ende zu einem Wesen werden, das dann auch Entscheidungen trifft, das dann Reflexionen durchführt, das moralische Erwägungen zum Beispiel abwägt. Alles das, was wir dem autonomen Subjekt gerne zuschreiben, ist aber eigentlich erst etwas, was man kann, wenn man diesen Subjektivierungsprozess in der Gesellschaft durchgemacht hat.
Jetzt könnte man sich natürlich fragen: Wo bleibt da das Individuum? Wo bleibt die Besonderheit des Einzelnen? Hat das überhaupt noch einen Raum? Wenn ich jetzt sage, "ich wurde subjektiviert, Sie wurden subjektiviert", dann müssten wir vielleicht auch identisch sein. Das sind wir aber offensichtlich nicht, jedenfalls im Alltäglichen nehmen wir auch eher die Differenzen wahr.
Aber da muss man natürlich sehen, dass jedes Individuum natürlich auch anderen "Subjektivierungsinstanzen" ausgesetzt ist. Ich habe vielleicht ein anderes Herkunftsmilieu als Sie. Dann bin ich vielleicht eine andere Generation als Sie. Und dann kommen auch verschiedene regionale Differenzen dazu. Das ist das, was der große Soziologe Georg Simmel um 1900 schon feststellte, dass das Individuum gewissermaßen eine Kreuzung sozialer Kreise ist. Und jedes Individuum in der modernen Gesellschaft ist ein anderer Kreuzungspunkt.
In mir kreuzen sich dann doch auf einzigartige Weise andere soziale Einflüsse als bei Ihnen oder bei jemandem Dritten. Insofern wird die Gesellschaft subjektiviert, aber jeder wird natürlich schon ein bisschen anders subjektiviert.

Wandel der Menschentypen

Deutschlandfunk Kultur: Subjektiviert heißt dann aber auch, dass es so etwas übergreifend Beschreibbares gibt innerhalb von – Sie nennen es, glaube ich – "Subjektformen".
Reckwitz: Genau. Das ist natürlich jetzt auch nochmal der soziologische Blick. An sich ist jedes Individuum ein bisschen anders subjektiviert – Stichwort "Kreuzung sozialer Kreise". Aber wenn man jetzt an einen bestimmten sozialen Kreis denkt, wie eben diese großen Lebensformen oder Milieus und Klassen, dann kann man auch soziologisch und historisch allgemeine Aussagen machen und zum Beispiel tatsächlich die Frage stellen: Gibt es so etwas wie eine dominante spätmoderne Subjektform, die sich zum Beispiel von der Subjektform in der bürgerlichen Moderne um 1800 unterscheidet?
Etwas flapsig gesagt: Das ist nicht mehr der gleiche Mensch. Biologisch vielleicht schon, aber die Menschentypen oder die Sozial-Charaktere, könnte man auch sagen, oder die Subjektformen haben sich historisch eben gewandelt. Wir haben noch innerhalb der Moderne einen Wandel leitender Subjektformen, so dass sich dann auch die Kompetenzen, die Fähigkeiten, die Deutungsmuster, die Weltsichten des typischen Subjekts um 1800 von denen im Jahr 2020 unterscheiden.

Individuum und Identität

Deutschlandfunk Kultur: Darauf werden wir gleich nochmal zurückkommen, wie sich jetzt wirklich im historischen Abriss diese einzelnen Subjektformen entwickelt haben und was die prägenden Begriffe für diese Formen sind. Aber bevor das losgeht mit dem historischen Rückblick, würde ich doch nochmal (weil das im Moment so ein stark umkämpfter Begriff ist) nach der "Identität" fragen.
Sie haben eben gesagt, "Individualisierungsprozesse finden statt." Subjekte sind Kreuzungspunkte für verschiedene Einflüsse, ob das jetzt Milieus oder Lebensformen sind. Aber Identität wird im Moment gerade extrem betont. Man könnte sagen, Identität ist sehr ein Affektverhaftet-Sein in genau einer Lebensform.
Reckwitz: Identität ist natürlich ein weiterer, im Grunde sehr komplizierter soziologischer Begrif. Was das überhaupt heißt, Identität? Was Identität zunächst bezeichnet, ist das Selbstverstehen von Individuen. Also, wie sie sich selber verstehen, wie sie sich selber interpretieren, wie sie sich einordnen als XY.
Das hat auch immer so eine selbstreflexive Dimension. Man interpretiert sich auf eine bestimmte Art und Weise als ein Individuum oder als Teil einer Gruppe. Wir unterscheiden auch soziologisch personale Identität von kollektiver Identität. Also, Individuen verstehen sich selbst als Individuum. Das ist die personale Identität. Und dann kann es sein, dass sie sich auch als Teil einer bestimmten Gruppe wahrnehmen. Das wäre die kollektive Identität.
Jetzt haben wir vorhin über die Lebensformen und die Klassen gesprochen. Hier müsste man eben genau hinschauen. Wir hatten vorhin kurz über die neue Mittelklasse gesprochen. Jetzt ist die Frage: Wenn jemand jetzt der neuen Mittelklasse angehört, also der Arzt aus Paris oder die Anwältin aus München, haben die dann auch eine Identität als neue Mittelklasse? Es kann gut sein, dass man zur neuen Mittelklasse gehört, aber gar keine Identität als Teil der neuen Mittelklasse hat. Also, da muss kein Klassenbewusstsein sein, um einer Klasse anzugehören.
Das scheint mir erstmal so ein allgemeines Phänomen zu sein in der spätmodernen Gesellschaft. Es gibt zwar Klassen, aber mit dem Klassenbewusstsein, das heißt, mit dieser kollektiven Identität als Teil einer Klasse, das ist nicht so weit verbreitet. Das gibt es vielleicht hin und wieder, aber das ist nicht mehr so stark wie zum Beispiel im 19. Jahrhundert. Stattdessen spielen dann teilweise andere Identitätsmarker eine Rolle.
Deutschlandfunk Kultur: Wenn sozusagen Fremd- und Selbstwahrnehmung, also Klassenbewusstsein und Zuschreibung einer Klassenzugehörigkeit auseinandergehen können, hat das dann vielleicht damit zu tun, dass man jetzt nicht irgendwie die Ideen, die in einer Klasse vorhanden sind, sich anschaut. Also sozusagen: "Wenn ich bürgerlich bin, habe ich eine bestimmte Art von Moral im Kopf. Die muss ich haben, um mich zugehörig zu fühlen." Sondern ich muss vielleicht auch nur bestimmte Alltagspraktiken vollziehen und immer wieder vollziehen und werde dadurch Teil einer Klasse.
Kann man das so sagen: Die Subjektformen, die sich herausbilden, sind eigentlich weniger ideengetrieben, als vielmehr durch Praktiken, durch Wiederholungen, durch Sozialisation geprägt?

Was heißt schon "normal"?

Reckwitz: Auf jeden Fall. Aber das war, das ist eigentlich immer schon so, dass eigentlich die Subjektformen, wenn man sich fragt, wie entstehen sie, wie werden sie in die Welt gesetzt, dass das durch alltägliche Praktiken geschieht, dass dann Eltern ihren Kindern subtil klarmachen, was sich gehört und was sich nicht gehört.
Da sind keine abstrakten Ideen, sondern das ist so ein Habitus, könnte man auch mit Pierre Bourdieu sagen, der vermittelt wird, der häufig eher stillschweigend so ist. Und es ist überhaupt nicht zwingend, dass man selber ein Bewusstsein des Ganzen hat.
Hinzu kommt, dass gerade innerhalb von Klassen oder Milieus, die in der Gesellschaft einflussreich sind, also sehr dominant, die häufig die Vorstellung haben: "So, wie sie selbst leben, das ist das Normale." Das hat Roland Barthes mal über das Bürgertum geschrieben vor Jahrzehnten schon. Das Bürgertum hat eine partikulare Lebensform, meint aber, es sei universal – im Sinne von: Wir alle sollten ja bürgerlich sein.
Auch gerade in der Mittelklasse heute, in der neuen Mittelklasse, war es jedenfalls lange so verbreitet, dass man sagt: "Es gehört sich einfach so, dass man den Müll trennt oder dass man gesundheitsbewusst ist. Ein normaler Mensch macht das eben." Also, man hat dann gar nicht unbedingt das Bewusstsein, dass man hier noch einer sehr spezifischen Gruppe innerhalb der Gesellschaft angehört.
Deutschlandfunk Kultur: Lassen Sie uns jetzt mal wirklich an die Geschichte erinnern. Mit der Aufklärung hat sich eine Subjektform herausgebildet, die Sie klassischerweise, wie alle anderen auch, "bürgerlich" nennen. Was sind denn die spezifischen Merkmale, die das neue bürgerliche Subjekt ausmachen?

Bürgerlichkeit und bürgerliches Subjekt

Reckwitz: Man kann ohnehin fragen: Warum interessiere ich mich als Soziologe dafür und gehe jetzt nochmal 200 Jahre zurück in das Bürgertum? Die Grundidee ist schon, dass sich zwar innerhalb der Geschichte der Moderne die Subjektformen verändern, aber dass gleichzeitig auch das Erbe der alten Subjektformen immer noch vorhanden ist.
Das heißt, wenn wir jetzt über Bürgertum und Bürgerlichkeit sprechen, ist das natürlich einmal etwas, was etwas Historisches hat, also etwas, was im 18., 19. Jahrhundert dominant war und das es danach in der Form eigentlich nicht mehr gibt. Aber gleichzeitig: So bestimmte Versatzstücke des Bürgerlichen gibt es heute auch weiterhin. Das ist eigentlich das Interessante dabei, dass wir innerhalb der Geschichte der Moderne so eine Art Hybridisierung haben. Also, Versatzstücke auch von alten Subjektformen werden auch in der Gegenwart wieder angeeignet. Und dann gibt es immer wieder auch interessante Kombinationen.
Aber zu der Frage nach Bürgerlichkeit und Bürgertum: Ich denke, was also das bürgerliche Subjekt in seiner Struktur ausmacht, ist eigentlich eine Kombination aus Selbstverantwortung und Selbstdisziplinierung. Das ist es eigentlich, was das Bürgertum sich von Anfang an auf die Fahnen schrieb, auch in seinen Alltag, also in den Bereich der Arbeit, des Familienlebens, auch der Bildung eingebaut hat.
Also, einmal: Man ist selbst verantwortlich. Man will eben eigene Entscheidungen treffen zum Beispiel im Familienleben oder im Arbeitsbereich. Es geht immer darum, dass Entscheidungen getroffen werden, das hohe Ideal der Verantwortung und der Selbstverantwortung für seine eigenen Handlungen. Und gleichzeitig geht es aber auch um Moral und Disziplinierung.
Man hat eigentlich im Bürgertum von Anfang an ein hohes Bewusstsein der eigenen Moralität. Immanuel Kant war mit seiner "Kritik der praktischen Vernunft" eigentlich ein Philosoph des Bürgertums oder der Bürgerlichkeit. Gerade da wollte sich das Bürgertum auch abgrenzen vom Adel, der bis dahin dominanten Gruppe. Dem Adel wurde Morallosigkeit zugeschrieben.
Man selber als Bürgertum hat sich aber eben zugeschrieben, dass man moralisch ist, dass man sich auch selber diszipliniert zum Beispiel. Max Weber hat das auch großgeschrieben mit der bürgerlichen Askese. Also, dieses Doppel aus Selbstdisziplinierung und Selbstverantwortung ist eigentlich das, was Bürgerlichkeit in ihrer Grundstruktur ausgemacht hat.

Widersprüche sorgen für Dynamik

Deutschlandfunk Kultur: Und es gab einen großen Bezug zur Rationalität.
Reckwitz: Genau. Das ist auch so eine Chiffre, die dem Ganzen dann zugrunde liegt, also beidem. Das hat beides auch zusammen verklammert, die Selbstdisziplin und die Selbstverantwortung, nämlich der Rationalitätsglaube.
Deutschlandfunk Kultur: Daraus entsteht natürlich dann auch eine Lebensform, in der es auch innere Widersprüche gibt. Sie haben ja gesagt, "immer wieder verändern sich diese ganzen Subjektformationen". Also, in dem Moment, wo ich souverän, auch vor allem ökonomisch souverän agiere und gleichzeitig moralisch sein will, tut sich ab einem gewissen Punkt auch eine Spannung auf, die darin besteht, zu sagen: "Wenn ich ökonomisch rational bin, muss ich auch Risiken eingehen. Wenn ich Risiken eingehe, kann ich nicht durchgehend moralisch sein."
Reckwitz: Das ist natürlich genau der wichtige Punkt, also, dass man jetzt nicht diese Vorstellung hat, "aha, da gab es dieses bürgerliche Subjekt und das war in sich eine widerspruchsfreie Formation". Sondern wenn man eben genauer hinschaut, in allen diesen Subjektkulturen gibt es immanente Widersprüche, die dem Ganzen eben auch eine Dynamik geben.
Im Bereich der Bürgerlichkeit: Selbstverantwortung und Selbstdisziplinierung sind nicht das Gleiche. Die können auch in bestimmten Situationen das Subjekt in ganz unterschiedliche Richtungen treiben, zum Beispiel eben tatsächlich der Unternehmer, der seiner subjektiven Entscheidungen und Risiken eigentlich über alles stellt und dann am Ende vielleicht auch bestimmten Maßstäben bürgerlicher Moral gar nicht mehr so einfach folgen kann.
Oder wir haben das auch im Bildungsbereich, wo man auch sagen kann, die Intellektuellen zum Beispiel, wenn man sich dann immer weiter bildet, dann entspricht der Gebildete am Ende gar nicht mehr unbedingt den bürgerlichen Moralvorstellungen, sondern hat sich eigentlich schon daraus emanzipiert, zum Beispiel in den künstlerischen Milieus wie in der Romantik, die aus dem Bürgertum heraus entstanden.

Kulturelle Gegenbewegungen

Deutschlandfunk Kultur: … und die genau im Bürgerlichen angesetzt haben, aber dann plötzlich gemerkt haben, dass die Texte, mit denen sie zum Beispiel umgehen, um nur ein Beispiel zu nennen, ganz anders gelesen werden können, als jetzt auf die Fragen der Moral hin oder wie soll ich mich verhalten, also, im Grunde genommen realistisch. Dann plötzlich haben die Texte einen Eigenwert erhalten. Plötzlich wird das künstlerische Subjekt stark betont. Und was passiert genau an diesem Trennungspunkten oder Friktionen?
Reckwitz: Das eine ist, was passiert, dass zum Beispiel Gegenkulturen sich ausbilden. Da finde ich auch sehr interessant, dass man diesen Blick – weg von den dominanten Lebensformen, hin zu den Gegenkulturen. Und die erste große, kulturelle Gegenbewegung in der Moderne war eben die Romantik um 1800. Das ist auch ein großes Thema der Literaturwissenschaft, der Kunstwissenschaft. Ich würde das eben als Soziologe sehen.
Es geht da nicht nur um Kunst und Literatur, sondern es geht im Grunde um eine andere Art und Weise, Subjekt zu sein, um eine andere Art und Weise zu leben, also, um alternative Lebensart, um eine ästhetische Lebensform, die im Grunde auch so etwas wie die Verwirklichung des Selbst oder auch die Kreativität des Selbst über alles stellt. Die auch die Frage nach der Authentizität in den Mittelpunkt stellt, die dann zum Beispiel auch so was wie Natur entdeckt, die Vergangenheit entdeckt, die pittoresken Orte entdeckt. Und natürlich vor allen Dingen auch eine emphatische Vorstellung von Individualität hat, viel radikaler, als es das Bürgertum eigentlich sich erlauben konnte.
Deutschlandfunk Kultur: Das wird wiederum aufgenommen nochmal am Anfang des 20. Jahrhunderts in den ganzen künstlerischen Avantgarden und da nochmal gesteigert. Da geht es nicht mehr um Innerlichkeit, sondern um Äußerlichkeiten. Letztendlich betritt der Bohemian, der gegen die Gesellschaft steht, die Bühne.
Aber dann passiert etwas in der Moderne. Dann entsteht fast zeitgleich zu dieser Bewegung eine Angestelltenkultur. Siegfried Kracauer hat das für die 20er-Jahre beschrieben sehr schön. Was hat sich denn da verändert innerhalb der Subjektformen? Was ist da dominant geworden, was im Bürgertum sozusagen abgeschliffen worden ist? Was wurde mitgenommen?

Abschied von der alten Leitfigur

Reckwitz: Genau. Ich denke, das ist wirklich ein interessanter Punkt. Erstmal: Diese bürgerliche Subjektkultur konnte sich doch recht lange halten, auch wenn man sich die Texte anschaut das ganze 19. Jahrhundert hindurch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Da gab es schon erste Krisen, im "Fin de Siècle". Die bürgerliche Kultur geriet immer mehr in die Defensive, erschien immer mehr altmodisch, überholt. Und was trat jetzt an ihre Stelle?
Da muss man schon sagen, dass da am Anfang des 20. Jahrhunderts mehrere Tendenzen zusammenkamen. Der Erste Weltkrieg war natürlich auch so ein ereignishafter Bruch des Ganzen, aber unter der Oberfläche gab es da noch viel tiefergreifende Transformationen, zum Beispiel so etwas wie die Entstehung der Fabrik und des Büros, Massenveranstaltungen.
Gerade in der Wirtschaft und in der Arbeit gibt es also immer mehr diese Notwendigkeit der Zusammenarbeit, der Kooperation, der Koordination großer Menschenmengen. Also, das Soziale wird entdeckt. Also, nicht mehr dieses selbst verantwortliche Subjekt des Bürgertums erscheint jetzt als Leitfigur.
Deutschlandfunk Kultur: Nicht mehr der Kaufmann, sondern der Bürokrat.
Reckwitz: Genau, der Angestellte, wie es dann auch bei Siegfried Kracauer hieß. Also, es gibt dann eine Tendenz zu einem starken Begriff des Sozialen. Auch die Psychologie oder die neu entstehende Soziologie entdecken die Gruppe, und zwar nicht als etwas Negatives, sondern der Einzelne ist eben ein Gruppenwesen, ist Teil einer "Peer Society", einer Gesellschaft von Peers, die alle einander ähnlich sind, etwa in der Nachbarschaft oder auch am Arbeitsplatz.
Dieser starke Druck des Sozialen spielt eine ganz große Rolle seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts und damit eben auch, man könnte sagen: Der bürgerliche Individualismus erscheint ein wenig passé. Auch zum Beispiel, das ist ein zweiter ganz wichtiger Grund, die Entstehung der Massenmedien. Das geht genau in eine ähnliche Richtung, der Rundfunk, dann auch das Fernsehen, der Film ist auch ein ganz großes Thema in den 20er, 30er Jahren – bei Walter Benjamin zum Beispiel.
Also nicht mehr die alte bürgerliche Buchkultur, die wird eigentlich verdrängt durch massenkulturelle Massenmedien, die sich auch an die Massen wenden und gleichzeitig eben auch die Kultur sehr stark am Bild, an der Bildlichkeit ausrichten, also, nicht mehr an Text, sondern am Bild. Das führt auch zu einer generellen Außenorientierung. Wir sind außenorientiert im Sinne von, wir schauen immer, wie die anderen sich verhalten. Stichwort: soziale Gruppe, aber auch außenorientiert, dass sie sich an den Bildern anderer orientieren. Da gibt’s auf einmal Filmstars und man will so sein wie die Filmstars, und zwar vom Äußeren her.
Man könnte sagen, das bürgerliche Subjekt war in vieler Hinsicht relativ innenorientiert oder auf sich selbst, auf seine Innenwelt orientiert, auch in der Empfindsamkeit. Und jetzt, eigentlich mit der Entstehung von organisierter Moderne oder industrieller Moderne richtet sich das Subjekt immer mehr nach außen. Sein Blick richtet sich nach außen, könnte man sagen.

Wiederentdeckung des Individuellen

Deutschlandfunk Kultur: Wenn die Gruppenzugehörigkeit so stark ist, und ich bin selbst in diesem Milieu aufgewachsen, ich weiß, was das bedeutet, in so einer Angestelltenkultur, wo alle letztendlich ähnlich eingerichtet waren, versucht haben, ähnlich zu kommunizieren, ihre Affekte möglichst unter dem Deckel zu halten und viele Dinge, die da noch eine Rolle spielten. Wo bleibt da sozusagen der Raum für das, was man heute Individualität nennen könnte? Obwohl das Ästhetische da mitgeführt wurde.
Reckwitz: Das Ästhetische wurde so auf der Ebene Oberflächen, das Ästhetisieren von Oberflächen, zum Beispiel Warenwelt, Konsumwelt in Großstädten oder eben die Bilderwelt im Kino. Aber man kann tatsächlich sagen, innerhalb dieser industriellen Moderne gibt es ein Individualitätsproblem. Die bürgerliche Moderne konnte sich durchaus in gewissem Umfang Reservate für Individualität leisten, hat das auch getan. Man könnte sagen, auch dieser Extremfall dieser Moderne ist der Totalitarismus. In dem Fall, wo gewissermaßen Individuuen völlig gleichgeschaltet sind und es überhaupt keine Individualität mehr gibt.
Tatsächlich könnte man sagen: Gerade in der industriellen Moderne, das hat zum Beispiel auch David Riesman in seinem Buch "The Lonely Crowd" in den 1940er Jahren sehr gut dargestellt, gerät im Grunde die Individualität unter Verdacht. Also, wenn man individuell ist, dann ist man abweichend. Dann gerät man leicht an den Rand der Gesellschaft, auch in den Bereich des psychisch nicht mehr so ganz Normalen.
Deswegen gab es, das ist ja auch der Grund, dass dieser große kulturelle Aufbruch der 1960er Jahre, also auch mit der sogenannten 68er Studentenbewegung in vieler Hinsicht auch ein Protest gegen diesen Konformismus der industriellen Moderne war, also gegen die Unterdrückung von Individualität innerhalb der industriellen Moderne.
Da hat man sich in vieler Hinsicht wieder auf die Romantik zurückverwiesen gesehen, weil, die Romantik hatte so ein starkes Individualitätskonzept, und die Counter Culture der 60er Jahre so eine Art Neo-Romantik ist. Diese Elemente der Entfaltung des Selbst, die Kreativität des Selbst, was lange eher verschüttet erschien, wird jetzt eigentlich wieder geborgen und gegen die industrielle Moderne in Front gebracht.
Deutschlandfunk Kultur: Das wird dann ins Zentrum gestellt und hat eine Scharnierfunktion für unsere Gegenwart. Wir nennen das heute die postmoderne Subjektform oder das spätmoderne Subjekt, in der dann sowohl die Ästhetik und die Selbstentfaltung, Selbstwachstum, wo also die Alternativkultur nochmal stark belebt ist, das Erlebnishafte auch des Arbeitens dann plötzlich, verbunden wird mit dem, was eigentlich in der bürgerlichen Welt das unternehmerische Selbst genannt wurde. Das wird hier zusammengebracht und wird zu einer sehr eindrücklichen und mittlerweile, wie Sie sagen, dominanten Subjektform gemacht.

Das spätmoderne Subjekt

Reckwitz: Genau. Das ist eine interessante Entwicklung. Denn jetzt sind wir gewissermaßen in der dritten Phase angekommen in der Geschichte der Moderne. Die erste Phase war eben die bürgerliche Moderne, die bürgerlichen Subjekte, die zweite Phase war die industrielle Moderne und jetzt die dritte Phase, seit den 1980er Jahren, die einen sagen "postmodern", die anderen sagen "spätmodern", das ist auch noch mal eine Frage, wie man das Ganze nennt. Aber wir haben jetzt eben in westlichen Gesellschaften eine dominante Lebensform. Wir sprachen am Anfang unseres Gesprächs von der "neuen Mittelklasse", die in vieler Hinsicht Bürgerlichkeit und Romantik zusammenbringen.
Das ist selber nochmal eine sehr spannungsreiche Synthese. Das spätmoderne Subjekt ist wieder in vieler Hinsicht sehr viel stärker auch zur Selbstverantwortung gezwungen, als das Subjekt der industriellen Moderne. Es gibt nicht mehr einen schützenden Wohlfahrtsstaat.
Der Einzelne ist eigentlich auch gefordert, sein Leben selbst zu einem Projekt zu machen, also auch zu einem Unternehmer in eigener Sache zu werden, zu einem Selbst-Unternehmer. Das ist die eine Seite. Da ist schon auch stark ein bürgerliches Element enthalten in der spätmodernen Kultur, auch zum Beispiel die große Bedeutung von Bildung. Dass Bildung wieder als kulturelles Kapital ganz wichtig geworden, das ist ja eigentlich auch wieder etwas, was auf das Bürgertum zurückverweist. Das war auch sehr bildungsorientiert.
Insofern, wenn man sich die neue Mittelklasse der Großstädte heute anschaut, das kann man schon mit bloßem Blick sehen, dass da auch in vieler Hinsicht Wiederaufnahmen des Bürgerlichen zu beobachten sind. Das ist aber nur die eine Seite.
Andererseits hat das spätmoderne Subjekt auch in vieler Hinsicht aus der Gegenkultur, aus dem Antibürgerlichen auch einiges übernommen. Aus der Romantik beispielsweise eben genau diese starke Orientierung an der Selbstverwirklichung, der Selbstentfaltung, dass man eben individuell sein will.
Aber gleichzeitig ist man natürlich doch Teil dieser neuen Mittelklasse, jedenfalls diese hohe Emphase der Individualität, dass man zum Beispiel darauf achtet, dass die Kinder dann eben auch ihre Besonderheit entfalten können, dass man das sogar fördert. Individualität steht jetzt nicht mehr unter Verdacht, sondern wird jetzt gewissermaßen sogar zu einem "asset", einem Vermögenswert, innerhalb der Lebensform.

Neue Moralisierung

Deutschlandfunk Kultur: Und diese neubürgerliche Mittelklasse und ihre Subjektform hat eins von der bürgerlichen Phase oder von der bürgerlichen Subjektform nicht übernommen, nicht 1:1 zumindest, nämlich die Moral. Die wird eher umgewandelt, ich würde aus meiner Perspektive sagen: Zu einer "Ethik des guten Lebens". Es spielen ganz andere, von Aristoteles eher herkommende als von Kant herkommende Muster eine Rolle.
Nun sind wir aber in einer Gegenwart, in der die Moral dominant zu werden scheint. Sehen Sie so eine Art Veränderung oder eine Erweiterung dieser neuen Mittelklasse, die eigentlich eher den Künstlertyp als Leitbild hat, zumindest den erfolgreichen Künstlertypus? Sehen Sie da eine Veränderung gegenwärtig?
Denn man muss nur mal "Fridays for Future" und die Klimadebatte, "Black Lives Matter" und die Antirassismusdebatte anschauen. Da sind so starke moralische Gewichtungen, Magnete im Moment im Spiel, dass man sagen kann: Moment, kommt da nicht die alte bürgerliche Moral wieder?
Reckwitz: Das ist wirklich sein sehr interessanter Punkt. Denn es ist natürlich so: So eine Subjektkultur verändert sich selbst ständig. Die bleibt nicht über Jahrzehnte hinweg völlig identisch. Tatsächlich würde ich sagen, dass jetzt zunächst mal diese spätmoderne Subjektkultur also an ihrem Anfang sehr stark bestimmte Elemente aus Bürgerlichkeit und Romantik miteinander kombiniert hat. Aber mittlerweile hat sie sich auch schon wieder verändert in den letzten Jahren. Jetzt muss man sehen, in welche Richtung das geht.
Mir scheint es auch so, dass diese Frage nach der Moral auf einmal wieder eine wichtigere Rolle spielt als zum Beispiel vor zwanzig Jahren. Sie hatten "Fridays for Future" genannt, überhaupt diese ganze Frage nach dem Klimawandel und nach dem ökologischen Bewusstsein: Also, in den 1980er Jahren hat man immer sehr stark von Ästhetisierung geredet. Die gibt es auch weiterhin. Aber mittlerweile muss man schon wieder von Moralisierung reden.
Auch da könnte man jetzt aber sagen, dass eben die spätmoderne Subjektkultur in der Hinsicht dann auch wieder auf eine Tradition von Bürgerlichkeit zurückgreift. Wir hatten vorhin gesagt, dass im Bürgertum von Anfang an ein starker Begriff von Moral und auch von Selbstdisziplinierung, auch von Askese zum Beispiel vorhanden war, der dann im Laufe der Zeit aber eher in den Hintergrund gerückt ist und auch eher wenig aufnahmefähig erschien.
Das scheint sich in den letzten Jahren eigentlich wieder zu verändern. Man könnte sagen, es findet wieder so ein Rückgriff fast in manchen Elementen des asketischen Subjekts des Bürgertums, zum Beispiel, wenn es um die Ernährung geht oder, wenn es darum geht, dass man weniger fliegt, dass man also, sich leitend von moralischen Prinzipien, eigentlich auch bewusst einschränkt in seiner Lebensform.
Das ist wiederum nur ein Teil. Denn gleichzeitig schränken sich die Subjekte nicht ein. In anderer Hinsicht wollen sie einfach weiterhin an einem guten Leben partizipieren. Und das ist auch wieder so eine neue Spannung innerhalb der spätmodernen Kultur, dass sie einerseits ästhetisiert und andererseits aber auch moralisiert. Da könnte man durchaus innerhalb des Bürgertums des 19. Jahrhunderts zurückgehen. Auch diese Spannung hatte man früher auch schon gekannt.

Erleben wir einen Wandel der Subjektkultur?

Deutschlandfunk Kultur: Aber bewegt sich das, was wir – zumindest in den Jahren von 1990, vielleicht auch bis 2015 – extrem wahrgenommen haben, nämlich so ein urbaner Hedonismus, der ästhetisch geprägt war? Sie haben das in Ihrem Buch "Die Gesellschaft der Singularitäten" wahrlich ausbuchstabiert, in welchen Feldern sich das überall zeigt, diese Art von Weltaneignung und auch Selbstaneignung. Wird das abgeschliffen durch eine moralische Perspektive?
Reckwitz: Das muss man erstmal abwarten. Man könnte auch fragen: Diese spätmoderne Kultur wird irgendwann an ein Ende kommen. Dann wird es wieder eine neue große Subjektkultur geben. Das wird irgendwann der Fall sein. Es hat auch in der Vergangenheit immer wieder diese Brüche gegeben.
Ob wir jetzt schon am Anfang einer solchen neuen großen Veränderung stehen, das weiß man nicht. Das kann natürlich sein. Es kann auch sein, dass das jetzt eher so eine Mutation dieser spätmodernen Subjektkultur ist, die sich nochmal etwas verkompliziert.
Dieser urbane Hedonismus, der hat durchaus institutionelle Stützen, zum Beispiel in der Wirtschaft. Die spätmoderne Ökonomie, also der kulturelle Kapitalismus, lebt von diesem Alltags-Hedonismus. Ohne den könnte er nicht existieren. Da wird man schon in diese Richtung getrieben. Auch digitale Kultur ist eine mit ihren Selbstdarstellungsmöglichkeiten, die das stützt. Wir haben mächtige institutionelle Stützen dieses spätmodernen Hedonismus. Da muss man sehen, inwiefern die sich vielleicht auch verändern.

Andreas Reckwitz: "Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne"
Suhrkamp Verlag 2020, 700 Seiten, 34 Euro

Mehr zum Thema