Kulturschaffende als Kämpfer für die soziale Gerechtigkeit

Von Cora Stephan |
Schriftsteller sind Erfinder, die sich gern am "wirklichen" Leben bedienen, vor allem dann, wenn es dort dramatisch zugeht. Also bietet auch die derzeitige Wirtschaftskrise viel Material für Episches, Dramatisches, Erhebendes und Erschütterndes: Da ist die alte Frau Kramer, deren persönlicher Bankberater ihr gesamtes restliches Vermögen in Zertifikate umgerubelt hat, die plötzlich keinen Cent mehr wert sind. Wer schildert ihren Kampf für Gerechtigkeit?
Da ist der hart arbeitende, junge Familienvater, nennen wir ihn James, der den Lebensstil seiner verwöhnten Frau, nennen wir sie Jane, mit Hypotheken auf das Haus im Grünen finanziert. Wer schildert das schleichende Grauen, als der Arbeitsplatz in Gefahr gerät? Und wer empfindet nicht mit dem Helden, der erst seinem Arbeitgeber, dann der Bank, schließlich dem Kapitalismus, dann dem Staat, und erst zum Schluss der eigenen Verblendung die Schuld am Drama gibt? Atemlos fragt sich die Leserschaft: Bleibt Jane bei ihm und sucht sich endlich eine Stelle als Supermarktkassiererin?

Das ist Stoff – für Sozialkitsch im schlechtesten, für einen Gegenwartsroman im besseren Fall. Und die Leser dürfen in solche Geschichten hineininterpretieren, was sie aus ihnen herauslesen, sie als Lehrstück nehmen, als Spiegel eigener Erfahrungen, ja, als handfeste Systemkritik. Doch der Schriftsteller darf das nicht. Wer das individuelle Schicksal der Protagonisten ans Allgemeine (oder an ein politisches Programm) verrät, verrät die Literatur. Politprosa ist keine.

Weshalb es meistens schiefgeht, wenn sich deutsche Schriftsteller über ihre Kernkompetenz hinaus als Deuter und Mahner, als Krisenexperten, Psychologen und Kapitalismustheoretiker versuchen – obzwar es der Nimbus will, dass sie aufgrund ihres feinfühligen Verständnisses der menschlichen Natur dafür besonders geeignet wären. Sie sind es selten.

Ein gutes Beispiel für die dürftige Prosa, in die ein Schriftsteller verfällt, wenn man ihm einen Deutungsauftrag erteilt, bot jüngst Ingo Schulze. Sein Essay in der "FAZ" strotzt nur so vor platten Parolen – und unterbreitet eine Realitätswahrnehmung, die gerade noch in Wahlkampfbroschüren passt, wo im Übrigen auf literarische Qualität selten Wert gelegt wird und auf Wahrheit noch viel weniger.

Dass mit der Wende die Zukunft verlorengegangen sei, dass die Gegenwart schlecht sei und der Kapitalismus an allem schuld: an globaler Armut, wachsendem Elend und nicht zuletzt an der Klimaerwärmung – sicher, das darf man alles denken, sagen, schreiben. Auch wenn man widersprechen möchte: Im Rausch des Sieges über den Sozialismus habe man 1989 die Freiheit gefeiert, aber die soziale Gerechtigkeit vergessen? Nanu. Ganz im Gegenteil: Im Namen der sozialen Gerechtigkeit wurde die gewonnene Freiheit schmählich missachtet. Und eine der ersten Amtshandlungen im Namen der sozialen Gerechtigkeit bestand darin, die Löhne Ost an die im Westen anzugleichen – weil die Westgewerkschaften jedwede Konkurrenz ausschalten wollten. In Wahrheit war das weder sozial noch gerecht.

Und noch ein Einwand. Es sei demagogisch, also falsch, den Staat den schlechteren Unternehmer zu nennen? Aber lieber Herr Schulze, war es nicht der sozial empfindende Mr. Greenspan, der als Präsident der US-Zentralbank durch niedrige Zinsen dafür sorgte, dass sich jeder sein Häuschen im Grünen leisten konnte? Und verdanken wir nicht dieser liebenswürdigen Aufforderung zum Schuldenmachen einen Großteil des darauffolgenden Schlamassels?

Im wirklichen Leben ist der Versuch, soziale Gerechtigkeit "herzustellen", nicht selten der Weg ins Dilemma. Nur einen Roman stören solche Widersprüche nicht, im Gegenteil: er lebt vom Dilemma, von den Widersprüchen des Lebens nämlich, angesichts deren Menschen ihre Entscheidungen treffen. Und deshalb verdient die Wirtschaftskrise einen ordentlichen Roman und nicht diese und die vielen anderen dünnen Sprüche unserer Dichter und Denker.

Dr. Cora Stephan: Die Frankfurter Publizistin und Buchautorin Cora Stephan, Jahrgang 1951, ist promovierte Politikwissenschaftlerin. Von 1976 bis 1984 war sie Lehrbeauftragte an der Johann Wolfgang von Goethe Universität und Kulturredakteurin beim Hessischen Rundfunk. Von 1985 bis 1987 arbeitete sie im Bonner Büro des "Spiegel". Zuletzt veröffentlichte sie "Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte", "Die neue Etikette" und "Das Handwerk des Krieges".