Kulturnation auf dem Prüfstand

Von Volkhard App |
Am Ende ihrer Tagung unter dem Motto "Zur Lage der Kulturnation - wo sind kulturpolitischer Aufbruch und gesellschaftlicher Gestaltungswille 20 Jahre nach der Wende?" im niedersächsischen Loccum zogen Vertreter aus Politik und Kultur eine positive Bilanz.
Sexshops, Imbissbuden und Kioske mit zweifelhaftem Angebot - so beschrieb Wolfgang Thierse vor 20 Jahren in Loccum den sichtbaren Wandel der Alltagskultur im Osten. Die großen Kunst- und Kultureinrichtungen schienen bedroht, der Zusammenbruch dieser Infrastruktur nicht bloß ein Schreckgespenst. Und dann traten auch noch abrechnungslustige Wessis auf, ostdeutsche Intellektuelle zeigten sich verunsichert. Dabei sollte die Kultur doch ein wichtiges Medium bei der Selbstvergewisserung und im Dialog zwischen Ost und West sein:

"Was wird uns nicht alles abverlangt: eine radikale Umstellung des Alltagslebens, ein Wechsel von politischen, ideologischen und kulturellen Mustern, von Leitbildern usw. Kultur könnte da ein Moment von Kontinuität im Wandel darstellen - wo sich ökonomisch, politisch und sozial im System soviel wandelt und wir innerlich, psychisch gar nicht hinterherkommen. Kultur also als ein Raum von Identitätswahrung und -findung."

Wolfgang Thierse damals. Der Orientierung dienten um 1990 / 91 mehrere Veranstaltungen an der Evangelischen Akademie. Soviel Anfang war nie, erinnert sich der damalige Tagungsleiter Olaf Schwencke. Protagonisten aus der DDR machten euphorisch, teils im Schillerkragen, vom Recht der freien Rede Gebrauch, Kommunalpolitiker diskutierten mögliche Organisationsformen nach dem Sturz des Zentralismus, vor allem spielte bald schon der Artikel 35 des Einigungsvertrages eine entscheidende Rolle: die kulturelle Substanz dürfe keinen Schaden nehmen.

Manfred Ackermann, seinerzeit im Bund der wichtige Referatsleiter, zieht nach 20 Jahren Bilanz:

"Ich denke, dass dieses Bewahrungsprogramm für Kultur in den neuen Ländern, wie sie genannt werden, überdurchschnittlich erfolgreich war - und zwar vor allem im Vergleich zu allen anderen Lebensbereichen und im Vergleich zum Westen. Ich sehe nur den Kulturbereich, der heute gleichberechtigt in Ost und West steht. Das ist grundsätzlich eine Erfolgsgeschichte, weil die kulturelle Dichte in den neuen Ländern trotz der ökonomischen Schwäche und demographischen Abwanderung überdurchschnittlich stark ist."

Überwältigende Anstrengungen und aufwendige Programme des Bundes haben diesen Erfolg möglich gemacht. Allerdings habe man damals zu einseitig ans Bewahren der tradierten Institutionen gedacht - und zu wenig an eine Neuentwicklung von Kunst und Kultur, so Ackermann. Die Zukunftsorientierung habe seinerzeit Schaden genommen. Viele der Gelder auch seien zuvörderst in die Gebäudesanierung geflossen. Zeit sei es nun, bei der öffentlichen Förderung stärker auf Spitzenleistungen in Kunst und Kultur zu achten. Schließlich habe Deutschland seit dem Bauhaus nichts mehr von Weltgeltung hervorgebracht.

Erstaunlich war, wie wenig Ost-West-Frustration auf dieser Tagung zur Sprache kam. Auch für Wolfgang Thierse ist die Entwicklung seit 1990 "in der Summe eher positiv". Zur Wendezeit habe er angesichts des Verfalls von Görlitz am liebsten heulen mögen, heute schaue er begeistert auf diese Stadt. In den Kulturausgaben seien einige der neuen Länder ohnehin vorbildlich.

Die wirtschaftliche und soziale Realität kann in den Ländern mit den erblühten Kunst- und Kulturlandschaften allerdings kaum Schritt halten. Und so stellten sich auf der Tagung Zweifel ein, ob die aufwendigen Einrichtungen, die Theater und Ausstellungshäuser, bei krisenhafter Wirtschaft auf Dauer erhalten werden können. Große Theater in bald halbleeren ostdeutschen Städten? Nach der Aufbruch- doch noch eine Abbruchstimmung?

Schwere Zeiten aber kündigen sich überall an. Den Städten im Ruhrgebiet gehe es schlechter als vielen Städten im Osten, sagt Oliver Scheytt, Geschäftsführer von "Ruhr 2010" und Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft, und fordert die Abschaffung des Solidarbeitrags in seiner bisherigen Form:

"Die westdeutschen Städte zahlen alle dafür, dass die Infrastruktur in Ostdeutschland vorangebracht wird, auch die kulturelle. Die Tatsache aber ist, dass die Stadt Essen beispielsweise hohe Kredite aufnehmen muss, um diese Solidarbeiträge zu erbringen. Sie ist hoch verschuldet und muss deshalb vielleicht sogar Kultureinrichtungen teilweise schließen. Insofern muss man auch mal die Frage stellen, ob diese Solidarbeiträge nicht auf ganz Deutschland ausgedehnt werden."

Gefragt sei jetzt ein Substanzerhaltungsprogramm des Bundes in Kooperation mit den Ländern, und zwar für die Kultur in ganz Deutschland. Ihr kommt eine wachsende Bedeutung zu – auch in Wolfgang Thierses Vision von der stärker ins Bewusstsein zu rufenden Kulturnation Deutschland. Die Menschen hätten ein Bedürfnis nach Identität, nach den Gemeinsamkeiten. Gerade Kunst und Kultur könnten Emotionen ansprechen, sinnliche Erfahrungen vermitteln und Symbole setzen.

Aber, so fragte man im Saal, läuft die propagierte Idee von der starken Kulturnation nicht doch wieder auf eine Art Leitkultur und auf Abschottung hinaus und auf einen Kunstkanon gehobener Schichten - zugunsten der Repräsentationssehnsucht älterer Generationen? Viel Widerspruch also. Hat Thierse damit gerechnet?

"Das überrascht mich nicht, weil ich diesen Geist ja auch kenne und respektiere und in bestimmter Weise teile. Ich glaube nur, dass wir 20 Jahre nach der Wiedervereinigung das realisieren können: Wir sind eine Staatsnation und sollten vernünftigerweise auch eine Kulturnation sein. Und da ist man nicht ohne gemeinsames kulturelles Gedächtnis. Ich plädiere für einen Begriff von Kulturnation oder deutscher Nationalkultur, der sich auf die positiven Traditionen in der deutschen Geschichte besinnt, nämlich die außerordentliche Integrationskraft unserer Kultur für die Einflüsse aus Nord, Süd, West und Ost. Und dieses Verständnis von Kultur ist sehr modern und sehr europäisch."

Gerade eine junge Wissenschaftlergeneration kann mit solch hehren Vokabeln wie Kulturnation wenig anfangen und sieht eher die globalen Einflüsse, zum Beispiel in der populären Musik.

Dass die Zukunft - mit oder ohne Kanon - nur in weltweitem Zusammenhang gedacht werden kann, war – nicht unüblich für solche Veranstaltungen – der Schlusspunkt im dichten, manchmal gedrängten Programm. Von deutschen Befindlichkeiten strebte man so "ins Offene", dachte global, forderte "Fernkompetenz": Sensibilität für andere Kulturen und fremde Sichtweisen.

Eine Tagung, die vor allem kraft ihrer Stimmungsbilder informativ war. Mit einer überraschend positiven Bilanz nach 20 Jahren - und dem Blick in eine finanziell düstere Zukunft, mit kulturnationalen Anflügen - und multikulturellen Visionen.


Links zum Thema:

Evangelische Akademie Loccum: Tagung "Zur Lage der Kulturnation"