Kulturkampf um die Einheitsschule

Von Heribert Seifert |
Im Kulturkampf zwischen den Befürwortern einer Einheitsschule und den Verteidigern des gegliederten Bildungssystems ist die Versuchung groß, den sperrigen Widerstand der Wirklichkeit gegen liebgewonnene Wunschvorstellungen so lange umzudefinieren, bis die Realität mit der Illusion kompatibel ist. Jüngstes Beispiel dafür ist der Krawall, den die nordrhein-westfälische Schulministerin mit ihrer Auswertung des diesjährigen Zentralabiturs ausgelöst hat.
Stein des Anstoßes wurde der direkte Vergleich der Leistungen von Gymnasiasten und Gesamtschülern, der bei einer solchen landesweiten Abschlussprüfung möglich ist. Diese beiden Schulformen bieten zwar bis zur Klasse 10 jeweils unterschiedliche Bildungsgänge an, müssen ihre Schüler in den drei beziehungsweise künftig zwei Jahren der Oberstufe aber nach denselben Vorgaben unterrichten und deren Leistungen nach den Kriterien der einheitlichen Abiturprüfungsordnung beurteilen.

Der öffentliche Vergleich der nach landesweit kontrollierten Standards erzielten Ergebnisse weist erhebliche Unterschiede zwischen den beiden Schulformen auf: Dass der Notendurchschnitt am Gymnasium um etwa eine Drittelnote höher ist als an der Gesamtschule, erregt dabei noch kein Aufsehen. Bedeutsamer ist aber die Tatsache, dass nach der sorgsamen Datensammlung des Düsseldorfer Ministeriums die Gymnasiasten sich in der Prüfung gegenüber ihren Vorleistungen in der Oberstufe fast durchgängig leicht verbessern, während die Gesamtschüler sich ebenso durchgängig verschlechtern. In Mathematik und Physik stürzen sie im Vergleich zu ihren Vornoten um fast eine ganze Prüfungsnote ab. Mit anderen Worten: Solange die Leistungen der Gesamtschüler nur von ihren vertrauten Lehrern an den eigenen Schulen beurteilt werden, so lange werden sie zu hoch eingeschätzt, was erst bei den zentralen Abschlussprüfungen deutlich wird. Da andererseits aber die im eigenen Schulhause erbrachten und – wie man jetzt klar sieht – zu gut bewerteten Leistungen zu 80 Prozent in die Gesamtnote eingehen, erreichen die Gesamtschüler am Ende immer noch ein Notenniveau, das ihren tatsächlichen Leistungen kaum entspricht. Andersherum formuliert: Verfügen ein Gymnasiast und ein Gesamtschüler über annähernd dasselbe Wissen, so erhält der Gesamtschüler am Ende die bessere Note und sichert sich Vorteile bei der Bewerbung um einen Studienplatz.

Für Kenner der Verhältnisse ist das nichts Neues: Das Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung hatte schon vor Jahren in einer großangelegten Längsschnitt-Untersuchung herausgefunden, dass am Ende der Klasse 10, also an der Eingangschwelle zur Oberstufe, Gesamtschüler im Fach Mathematik einen Leistungsrückstand von mehr als zwei Schuljahren gegenüber Gymnasiasten mit denselben sozialstrukturellen und leistungsbezogenen Ausgangsmerkmalen haben. Um aber überhaupt die Messzahlen für die Errichtung eigener Oberstufen zu erreichen, schleusen Gesamtschulen Schüler trotz solcher Defizite in den zum Abitur führenden Bildungsgang ein, was jetzt, unter den Bedingungen des Zentralabiturs, zu massenhaftem Scheitern führen kann. Denn an der Gesamtschule ist nicht nur die Durchfallquote viermal so hoch wie am Gymnasium. Ausgerechnet diese Einheitsschule, die doch immer wieder gegen das angeblich hochselektive Gymnasium in Stellung gebracht wird, sortiert annähernd 40 Prozent ihrer Schüler vor dem Abitur aus. Und das, obwohl an den Gesamtschul-Oberstufen Klassengrößen zugelassen werden, die am Gymnasium nur in Ausnahmefällen möglich sind: Während sich hier in Leistungskursen zwanzig und mehr Schüler im Klassenzimmer drängen, findet man dort Lerngruppen mit weniger als zehn Teilnehmern. Der Landesrechnungshof hat dies gerügt, bisher folgenlos.

Wie man leider oft genug erfahren hat, ist kritischer Realismus nicht die Sache schulpolitischer Ideologen. Anstatt sich mit den in Düsseldorf veröffentlichten Ergebnissen des Zentralabiturs kritisch auseinanderzusetzen, greift die aggressive Gesamtschullobby lieber zur rhetorischen Keule und mobilisiert Ressentiments: Die Ministerin habe mit ihrem Zahlenwerk die Lehrer und Schüler der Gesamtschulen "diffamiert" und "diskreditiert". Ohnehin schon Unterprivilegierte würden erneut herabgesetzt, heißt es. Vor allem ziehe man den Integrationserfolg in Zweifel, den die Gesamtschulen mit ihren vielen Schülern aus Einwanderermilieus leisteten.

Das Ziel ist klar: Jede öffentliche Erörterung der Leistungsmöglichkeiten und Leistungsgrenzen bestimmter Schulformen soll unterbunden werden. Ausgerechnet die selbsternannten Anwälte der angeblich unterprivilegierten Gesamtschüler verhindern mit den volltönenden Schwurformeln moralisierender Gesellschaftspolitik das Nachdenken über Auswege aus der Krise dieser Schulform. Sie schaden damit denen, denen sie zu helfen vorgeben. Denn der Nachweis von Schulleistungen nutzt nur dann im wirklichen Leben außerhalb des Schulhauses, wenn man überall darauf vertrauen kann, dass die Ergebnisse sachlich gerechtfertigt und nicht sozialpolitisch retuschiert sind.

Heribert Seifert, geboren 1948 in Dorsten/Westfalen, ist Lehrer und freier Publizist.