Kulturhauptstadt ohne Grenzen, aber mit Hindernissen
Fast ein Dutzend Minderheiten leben in der ungarischen Stadt Pecs auf engstem Raum, darunter auch viele Roma und Deutsche. "Stadt ohne Grenzen", heißt dementsprechend auch das Motto für das Kulturhauptstadtjahr. Doch der Alltag ist nicht immer so friedlich, wie es scheint.
Fünf Kirchen und fast ein dutzend Minderheiten - wer durch die verwinkelten Gassen der Altstadt von Pecs schlendert, vorbei an Jugendstil-Fassaden und Verwaltungsbauten aus der österreichisch-ungarischen Monarchie, dürfte sich schnell heimisch fühlen.
"Es ist eine Provinz, eine echte Provinz, aber eine multi-kulturelle Stadt. Es war früher eine deutsche Stadt. Sie nannten es Fünfkirchen. Hier lebten Römer, Serben, Kroaten, Zigeuner. Es ist nicht Balkan, aber wir sind in der Nähe des Balkan. Es ist eine bunte Stadt. Klein – aber bunt."
Robert Balogh geht in einem der unzähligen Straßencafes seiner Lieblingsbeschäftigung nach: Leute beobachten - und dabei in Gedanken seinen nächsten Roman spinnen. Er spielt in der k.u.k.-Zeit. Aber eigentlich geht es um Mitteleuropa - mit seinen vielen kulturellen Peripherien, die jetzt nach und nach wieder aus ihrem Dornröschenschlaf wach geküsst werden. Wie Pecs im Süden Ungarns, an der Grenze zu Kroatien. Schon wegen dieser beschaulichen Randlage kann sich der Schriftsteller mit deutschen Wurzeln für seine Arbeit kaum einen besseren Ort vorstellen:
"Hier ist eine andere Zeitrechnung. Hier kann man leise, still und langsam leben. Ganz schnell auch – aber hier hat man Zeit dazu … "
Berlin oder auch Budapest, der kulturelle Wasserkopf Ungarns, wären dem Kaffeehausliteraten viel zu anstrengend. Der Rhythmus der Kleinstadt ist Robert Balogh in Fleisch und Blut übergegangen. Im Frühling und Sommer lässt er sich gern die Sinne betören – vom mediterranen Duft der Mandelblüten. Oder vom kräftigen Rotwein aus den berühmten Lagen von Villany, der unweit von Pecs seit Jahrhunderten gekeltert wird.
"Wenn man an einem Sommernachmittag nach sieben Uhr durch die Stadt spaziert, ist es sehr schön. Die Gebäude haben einen goldigen Reiz. Man spürt etwas … "
… den Zauber und Abglanz vieler untergegangener Reiche: Römer, Osmanen, Österreicher. Sie alle kamen, gingen und hinterließen ihre Spuren: frühchristliche Grabkammern, türkische Moscheen, deutsche Weinreben. Einige – darunter auch die deutsche Minderheit der sogenannten Donauschwaben – blieben. Und versuchen bis heute, ihre Sprache und Kultur zu leben.
Die deutsche Großmutter von Robert Balogh kochte schwäbisch, ihre Bettwäsche war penibel sauber und gestärkt. Und natürlich lief die Oma nur in deutscher Tracht herum, erinnert sich der Schriftsteller:
"Es ist eine echte multi-kulturelle Stadt. Aber wir haben Schwächen, sehr viele Schwächen. Zum Beispiel unsere Politiker stammen vom Balkan. Alles geht hier sehr langsam. Wäre ich so ein schlechter Schriftsteller wie unsere Politiker, müsste ich verhungern."
Nicht mit deutschem Ehrgeiz und Eifer, sondern mit balkanischem Schlendrian und mit enormer Verspätung sind in Pecs die wichtigsten Projekte für das Kulturhauptstadtjahr 2010 angelaufen. Weder die neue Konzerthalle noch das geplante Künstler-Viertel auf dem Areal der berühmten Zsolnay-Porzellan-Fabrik werden rechtzeitig fertig. Die beschauliche Kleinstadt präsentiert sich ungemütlich, laut und staubig. Baustellen, wohin man schaut. Nur wenige freuen sich über diese Hektik.
"Wir Roma profitieren davon. Mehrere hundert von uns haben sie jetzt als Hilfsarbeiter angeheuert. Deswegen sind wir überhaupt nicht böse, wenn die Bauarbeiten sich verzögern. Umso länger haben wir Arbeit."
Istvan Kosztics ist Vorsitzender der Roma von Pecs. Wie alle anderen Minderheiten haben auch sie ihre eigene Vertretung – mit einem Kulturzentrum, mitten in der Altstadt. Nicht ohne Grund ist die Tür gut verriegelt:
"Wird ein Hund geschlagen, gehen landesweit die Tierschützer auf die Straße. Wenn ein Zigeuner erschossen wird, interessiert das keinen."
Mit dieser Anspielung auf die Roma-Morde, mit denen Ungarn in letzter Zeit für Schlagzeilen sorgte, entschuldigt der promovierte Jurist die Sicherheitsmaßnahmen. Selbst im angeblich besonders toleranten Schmelztiegel der Kulturen. Nicht zuletzt wegen ihrer einzigartigen Atmosphäre, ihrem äußerlich funktionierenden Multikulti-Potenzial hat Pecs den Titel "Europäische Kulturhauptstadt 2010" bekommen. Doch auch eine uralte und gewachsene Tradition des ethnischen Miteinanders schützt nicht vor 1000-jährigem Gedankenungut.
Wie fast überall in Ungarn marschieren sogar in Pecs immer öfter Rechtsradikale in Nazi-Uniformen auf. Neo-Faschisten der eigentlich verbotenen "Ungarischen Garde":
"Auch hier trauen sich immer mehr Uniformierte auf die Straße. Die Stadt trifft dabei eine Mitschuld – weil sie es toleriert, dass die Gardisten bei öffentlichen Feierlichkeiten in der ersten Reihe stehen … "
… ärgert sich Istvan Kosztics, während er durch eine Ausstellung des berühmtesten Roma-Malers Ungarns führt, die gerade im oberen Stock des Kulturzentrums zu sehen ist. Die Bilder erzählen in kräftigen Farben von einem Roma-Alltag, wie er bestenfalls noch im Märchen existiert: Lagerfeuer-Romantik, Musikanten, Pferde. Mit Ausstellungen wie diesen und vielen anderen Projekten würden sich die Roma gerne im Kulturhauptstadtjahr präsentieren. Aber die Organisatoren zeigen bisher kaum Interesse – bedauert der Roma-Sprecher:
"Die Stadt hat uns zwar gedrängt, eine Anti-Diskriminierungs-Erklärung zu unterzeichnen, weil sonst kein Geld für unser Kultur-Hauptstadtprojekt geflossen wäre. Aber obwohl wir unterschrieben haben, werden wir auf 2012 vertröstet. Dann erst sollen unsere Roma-Projekte realisiert werden. Wir würden uns auch sehr gerne in den beiden anderen Kulturhauptstädten Essen oder Istanbul vorstellen. Aber wenn Delegationen dorthin fahren, werden weder wir noch die anderen Minderheiten informiert. Wir spielen nur eine sekundäre Rolle."
Selbst im Kulturhauptstadtjahr sind die Minderheiten nur für Schaufenster-Politik gut. Wie so oft in Ungarn. Von der selbsterklärten Hauptstadt des Multi-Kulti hätte man sich eigentlich mehr erwartet.
Doch die Organisatoren des Kulturhauptstadtjahres setzen andere Schwerpunkte. Das meiste Geld fließt in Bauprojekte. Wie die aufwendige Umgestaltung der Zsolnay-Porzellan-Fabrik in ein Künstlerviertel. Neben dem Bergbau war die Manufaktur lange einer der wichtigsten Arbeitgeber in Pecs. Mit der Verstaatlichung durch die Kommunisten begann der Untergang einer Welt-Marke und besonderen Geschäftsphilosophie:
"Als Herr Zsolnay sein Unternehmen 1853 gründete, wollte er keine normale Manufaktur, sondern eine Stadt in der Stadt, mit eigenem Schul- und Gesundheitssystem für die Arbeiter. Und einem Park. Bei Zsolnay herrschte ein besonderer Geist. Diese Atmosphäre spürt man bis heute. Vor allem in dem verwunschenen Park. Auch wenn die Gebäude ziemlich verfallen sind. Ich bin mir sicher, nach der Renovierung entsteht hier etwas ganz Außergewöhnliches … "
… schwärmt Katalin Peter, Managerin bei Zsolnay.
Geplant ist eine Mischung aus Parklandschaft und Kunst-Areal, mit Galerien, Ateliers, Räumen für Happenings, aber auch Kneipen und Restaurants in veredeltem Industrie-Design. Auf diese Weise sollen die maroden und stillgelegten Teile der Fabrik mit Leben und Kreativität gefüllt werden. Wie zur Blütezeit von Zsolnay. Die kunstvollen Porzellan-Erzeugnisse aus den Künstlerateliers der Fabrik prägen das Stadtbild von Pecs bis heute: Brunnen, Gartenskulpturen, Fassaden, Dächer. An vielen Gebäuden der Altstadt flimmern farbenfrohe Zsolnay-Kacheln.
Wie die meisten Projekte für das Kulturhauptstadtjahr ist auch das Kunst-Areal bisher Zukunftsmusik. Eine riesige Baustelle, die frühestens 2011 eröffnet wird, heißt es. Bis dahin dürfen Studenten der Pecser Kunstakademie eine aufgelassene Produktionshalle der Fabrik für ihre Aktionen nutzen. Die Akademie platzt aus allen Nähten. Eine schräge Tanzperformance als Präludium für das Kulturhauptstadtjahr lockt einige Szenegänger an.
Wie die meisten Anwesenden hat auch die Kunststudentin Judith die Vorführung etwas hilflos verfolgt. Aber das Ambiente passt und die Aussicht auf neue Ausstellungen und Ateliers findet sie fantastisch. Die ganze Stadt sei irgendwie beflügelt und inspiriert. Überall spürt die Bildhauerin ein gewisses Vibrieren. Ihr Begleiter Ferencs ist nicht so euphorisch:
"Ich bin sehr skeptisch, dass wir groß vom Kulturhauptstadtjahr profitieren werden. Mit weniger hochfliegenden Plänen hätten wir wahrscheinlich mehr erreicht, dann wäre wenigstens etwas fertig. Aber die Touristen kennen ja die ganze Vorgeschichte nicht. Ich würde mir wünschen, dass sie möglichst viele positive Eindrücke mitnehmen."
Selbst wenn vieles nicht rechtzeitig fertig wird: Pecs war schon immer eine Kultur-Hauptstadt im besten Sinne, erklärt die Landemuseums-Direktorin Julia Fabanyj. Die Kunsthistorikerin hält beim Szene-Event in der Zsolnay-Fabrik Ausschau nach Nachwuchskünstlern. Obwohl sie eigentlich keine Zeit hat. Mit minimalem Aufwand und wenig Personal soll sie im Kulturhauptstadtjahr drei Ausstellungen stemmen. Am wichtigsten ist ihr die über das Bauhaus. Wer weiß schon, dass viele namhafte Dessauer Akteure aus Pecs stammen?
"Marcel Breuer mit dem Rohrstuhl. Keiner denkt daran, dass der aus Pecs kommt. Moholy-Nagy kommt aus Südungarn, unweit von Pecs, Weininger, der am Bauhaustheater sehr viel gemacht hat, war ebenfalls hier. Ich denke, damit schafft man nicht nur eine Wiedergutmachung gegenüber der ungarischen Kunstgeschichte. Das stärkt die städtische Identität."
Die Kuratorin schätzt Pecs aber nicht nur als geistige Wiege von Bauhaus-Künstlern und als Geburtstadt des Op-Art-Erfinders Viktor Vasarely. Wenn nicht alles durch Baustellen aufgewühlt ist, biete die Stadt ein sehr harmonisches und eigenwilliges Bild:
"Man wandert hier von der spätrömischen Zeit bis hin zu den Türken, es gibt immer sehr markante Punkte. Und die Umgebung ist wunderschön. In dem Mecek-Gebirge. Die ganzen Weinberge und Thermalbäder. Und vor allem das Klima. Gerade für Norddeutsche ist das Klima einmalig. Das hier Feigen zweimal im Jahr wachsen oder Granatäpfel. Das ist doch einmalig!"
Zur Identität von Pecs gehört für die Kunsthistorikerin aber unbedingt und vor allem:
"Das niemals von oben gelenkte ethnische Zusammensein. Serben. Kroaten. Schwaben sind hier unheimlich viel! Und man hat das auch im Stadtbild, also man hört das. Und zu dieser fast archaischen Schwabensprache kommt jetzt das Studententum. Die reden dann Deutsch, weil hier, was weiß ich, 4000 ausländische Studenten studieren. Und das trifft sich dann auch wieder. Das ist auch die Stadtakustik."
Bischofstadt, Industriestadt, Kultur-Haupstadt - und: Universitätsstadt. Medizin Studieren in Pecs ist auf jeden Fall anders, bestätigen Sofia und Julian, die hier ihr Physikum machen, weil sie in Deutschland keinen Studienplatz bekommen haben. Zwei von rund 500 Deutschen an der Universität Pecs.
"Zum Teil ist es mit der ungarischen Verständigung ein bisschen schwierig … und man ist halt so in seiner deutschen Enklave hier, man spricht immer Deutsch an der Uni, da kommt man halt nicht so rein … und sonst muss man halt auch schon genug lernen … und dann nebenbei noch 'ne Sprache, die ziemlich weit weg ist von Französisch, Englisch, Spanisch. Da fehlt dann doch ein bisschen die Motivation."
Statt Ungarisch zu lernen, entdecken die beiden lieber die Besonderheiten der Pecser Küche. Was angeblich auch recht mühsam ist. Viele Restaurants in Pecs versuchen inzwischen, international zu Kochen. Was meistens daneben geht:
"Also ich hab einmal Ungarisch gegessen, da hat uns unsere Ungarisch-Lehrerein eingeladen, zu Haus. Und da hat sie für uns gekocht, ein Paprikahühnchen - das war richtig gut. Von der Uni aus gibt's 'ne organisierte Weinprobe und da gibt's dann auch Spanferkel, Kartoffelsalat und die eingelegten Paprika dazu. Und da bekommen wir dann auch einen Eindruck vom ungarischen Essen. Aber sonst hält sich das stark in Grenzen."
An diesem Abend nicht. Die beiden haben Besuch von Freunden aus Deutschland - und natürlich gehört dazu auch ein kulinarischer Ausflug in die regionale Küche: Kalbsgulasch mit Quarkknödeln, Wels-Paprikasch, Sauerkrauteintopf, Wildsuppe mit Estragon, Lammkeule. Fast wäre der Restaurantbesuch aber gescheitert - an der Hinweistafel: Schwäbische Küche. Aber Donauschwäbisch ist halt nicht Schwäbisch, sondern eine Art "Fusion-Küche". Ein Multi-Kulti-Eintopf wie Pecs. Das die Gäste trotz langer Anreise für einen Kurztripp empfehlen:
"Bin begeistert von der Stadt. Man merkt so'n bisschen diesen Multi-Kulti-Flair und das find ich ganz schön und ich glaub, dass die Stadt super viel Potenzial hat …"
"Moderner als ich`s mir vorgestellt hätte …"
"Morbid, aber 'ne interessante Baukultur und hier tut sich natürlich im Moment auch sehr viel …"
"Also wir sind Architekten und man würde sich wünschen, wenn in Deutschland so viel gebaut werden würde. Jetzt nicht nur vom eigenen Standpunkt aus. Sondern weil es einfach auch schön ist, wenn so viel bewegt wird …"
"Es ist eine Provinz, eine echte Provinz, aber eine multi-kulturelle Stadt. Es war früher eine deutsche Stadt. Sie nannten es Fünfkirchen. Hier lebten Römer, Serben, Kroaten, Zigeuner. Es ist nicht Balkan, aber wir sind in der Nähe des Balkan. Es ist eine bunte Stadt. Klein – aber bunt."
Robert Balogh geht in einem der unzähligen Straßencafes seiner Lieblingsbeschäftigung nach: Leute beobachten - und dabei in Gedanken seinen nächsten Roman spinnen. Er spielt in der k.u.k.-Zeit. Aber eigentlich geht es um Mitteleuropa - mit seinen vielen kulturellen Peripherien, die jetzt nach und nach wieder aus ihrem Dornröschenschlaf wach geküsst werden. Wie Pecs im Süden Ungarns, an der Grenze zu Kroatien. Schon wegen dieser beschaulichen Randlage kann sich der Schriftsteller mit deutschen Wurzeln für seine Arbeit kaum einen besseren Ort vorstellen:
"Hier ist eine andere Zeitrechnung. Hier kann man leise, still und langsam leben. Ganz schnell auch – aber hier hat man Zeit dazu … "
Berlin oder auch Budapest, der kulturelle Wasserkopf Ungarns, wären dem Kaffeehausliteraten viel zu anstrengend. Der Rhythmus der Kleinstadt ist Robert Balogh in Fleisch und Blut übergegangen. Im Frühling und Sommer lässt er sich gern die Sinne betören – vom mediterranen Duft der Mandelblüten. Oder vom kräftigen Rotwein aus den berühmten Lagen von Villany, der unweit von Pecs seit Jahrhunderten gekeltert wird.
"Wenn man an einem Sommernachmittag nach sieben Uhr durch die Stadt spaziert, ist es sehr schön. Die Gebäude haben einen goldigen Reiz. Man spürt etwas … "
… den Zauber und Abglanz vieler untergegangener Reiche: Römer, Osmanen, Österreicher. Sie alle kamen, gingen und hinterließen ihre Spuren: frühchristliche Grabkammern, türkische Moscheen, deutsche Weinreben. Einige – darunter auch die deutsche Minderheit der sogenannten Donauschwaben – blieben. Und versuchen bis heute, ihre Sprache und Kultur zu leben.
Die deutsche Großmutter von Robert Balogh kochte schwäbisch, ihre Bettwäsche war penibel sauber und gestärkt. Und natürlich lief die Oma nur in deutscher Tracht herum, erinnert sich der Schriftsteller:
"Es ist eine echte multi-kulturelle Stadt. Aber wir haben Schwächen, sehr viele Schwächen. Zum Beispiel unsere Politiker stammen vom Balkan. Alles geht hier sehr langsam. Wäre ich so ein schlechter Schriftsteller wie unsere Politiker, müsste ich verhungern."
Nicht mit deutschem Ehrgeiz und Eifer, sondern mit balkanischem Schlendrian und mit enormer Verspätung sind in Pecs die wichtigsten Projekte für das Kulturhauptstadtjahr 2010 angelaufen. Weder die neue Konzerthalle noch das geplante Künstler-Viertel auf dem Areal der berühmten Zsolnay-Porzellan-Fabrik werden rechtzeitig fertig. Die beschauliche Kleinstadt präsentiert sich ungemütlich, laut und staubig. Baustellen, wohin man schaut. Nur wenige freuen sich über diese Hektik.
"Wir Roma profitieren davon. Mehrere hundert von uns haben sie jetzt als Hilfsarbeiter angeheuert. Deswegen sind wir überhaupt nicht böse, wenn die Bauarbeiten sich verzögern. Umso länger haben wir Arbeit."
Istvan Kosztics ist Vorsitzender der Roma von Pecs. Wie alle anderen Minderheiten haben auch sie ihre eigene Vertretung – mit einem Kulturzentrum, mitten in der Altstadt. Nicht ohne Grund ist die Tür gut verriegelt:
"Wird ein Hund geschlagen, gehen landesweit die Tierschützer auf die Straße. Wenn ein Zigeuner erschossen wird, interessiert das keinen."
Mit dieser Anspielung auf die Roma-Morde, mit denen Ungarn in letzter Zeit für Schlagzeilen sorgte, entschuldigt der promovierte Jurist die Sicherheitsmaßnahmen. Selbst im angeblich besonders toleranten Schmelztiegel der Kulturen. Nicht zuletzt wegen ihrer einzigartigen Atmosphäre, ihrem äußerlich funktionierenden Multikulti-Potenzial hat Pecs den Titel "Europäische Kulturhauptstadt 2010" bekommen. Doch auch eine uralte und gewachsene Tradition des ethnischen Miteinanders schützt nicht vor 1000-jährigem Gedankenungut.
Wie fast überall in Ungarn marschieren sogar in Pecs immer öfter Rechtsradikale in Nazi-Uniformen auf. Neo-Faschisten der eigentlich verbotenen "Ungarischen Garde":
"Auch hier trauen sich immer mehr Uniformierte auf die Straße. Die Stadt trifft dabei eine Mitschuld – weil sie es toleriert, dass die Gardisten bei öffentlichen Feierlichkeiten in der ersten Reihe stehen … "
… ärgert sich Istvan Kosztics, während er durch eine Ausstellung des berühmtesten Roma-Malers Ungarns führt, die gerade im oberen Stock des Kulturzentrums zu sehen ist. Die Bilder erzählen in kräftigen Farben von einem Roma-Alltag, wie er bestenfalls noch im Märchen existiert: Lagerfeuer-Romantik, Musikanten, Pferde. Mit Ausstellungen wie diesen und vielen anderen Projekten würden sich die Roma gerne im Kulturhauptstadtjahr präsentieren. Aber die Organisatoren zeigen bisher kaum Interesse – bedauert der Roma-Sprecher:
"Die Stadt hat uns zwar gedrängt, eine Anti-Diskriminierungs-Erklärung zu unterzeichnen, weil sonst kein Geld für unser Kultur-Hauptstadtprojekt geflossen wäre. Aber obwohl wir unterschrieben haben, werden wir auf 2012 vertröstet. Dann erst sollen unsere Roma-Projekte realisiert werden. Wir würden uns auch sehr gerne in den beiden anderen Kulturhauptstädten Essen oder Istanbul vorstellen. Aber wenn Delegationen dorthin fahren, werden weder wir noch die anderen Minderheiten informiert. Wir spielen nur eine sekundäre Rolle."
Selbst im Kulturhauptstadtjahr sind die Minderheiten nur für Schaufenster-Politik gut. Wie so oft in Ungarn. Von der selbsterklärten Hauptstadt des Multi-Kulti hätte man sich eigentlich mehr erwartet.
Doch die Organisatoren des Kulturhauptstadtjahres setzen andere Schwerpunkte. Das meiste Geld fließt in Bauprojekte. Wie die aufwendige Umgestaltung der Zsolnay-Porzellan-Fabrik in ein Künstlerviertel. Neben dem Bergbau war die Manufaktur lange einer der wichtigsten Arbeitgeber in Pecs. Mit der Verstaatlichung durch die Kommunisten begann der Untergang einer Welt-Marke und besonderen Geschäftsphilosophie:
"Als Herr Zsolnay sein Unternehmen 1853 gründete, wollte er keine normale Manufaktur, sondern eine Stadt in der Stadt, mit eigenem Schul- und Gesundheitssystem für die Arbeiter. Und einem Park. Bei Zsolnay herrschte ein besonderer Geist. Diese Atmosphäre spürt man bis heute. Vor allem in dem verwunschenen Park. Auch wenn die Gebäude ziemlich verfallen sind. Ich bin mir sicher, nach der Renovierung entsteht hier etwas ganz Außergewöhnliches … "
… schwärmt Katalin Peter, Managerin bei Zsolnay.
Geplant ist eine Mischung aus Parklandschaft und Kunst-Areal, mit Galerien, Ateliers, Räumen für Happenings, aber auch Kneipen und Restaurants in veredeltem Industrie-Design. Auf diese Weise sollen die maroden und stillgelegten Teile der Fabrik mit Leben und Kreativität gefüllt werden. Wie zur Blütezeit von Zsolnay. Die kunstvollen Porzellan-Erzeugnisse aus den Künstlerateliers der Fabrik prägen das Stadtbild von Pecs bis heute: Brunnen, Gartenskulpturen, Fassaden, Dächer. An vielen Gebäuden der Altstadt flimmern farbenfrohe Zsolnay-Kacheln.
Wie die meisten Projekte für das Kulturhauptstadtjahr ist auch das Kunst-Areal bisher Zukunftsmusik. Eine riesige Baustelle, die frühestens 2011 eröffnet wird, heißt es. Bis dahin dürfen Studenten der Pecser Kunstakademie eine aufgelassene Produktionshalle der Fabrik für ihre Aktionen nutzen. Die Akademie platzt aus allen Nähten. Eine schräge Tanzperformance als Präludium für das Kulturhauptstadtjahr lockt einige Szenegänger an.
Wie die meisten Anwesenden hat auch die Kunststudentin Judith die Vorführung etwas hilflos verfolgt. Aber das Ambiente passt und die Aussicht auf neue Ausstellungen und Ateliers findet sie fantastisch. Die ganze Stadt sei irgendwie beflügelt und inspiriert. Überall spürt die Bildhauerin ein gewisses Vibrieren. Ihr Begleiter Ferencs ist nicht so euphorisch:
"Ich bin sehr skeptisch, dass wir groß vom Kulturhauptstadtjahr profitieren werden. Mit weniger hochfliegenden Plänen hätten wir wahrscheinlich mehr erreicht, dann wäre wenigstens etwas fertig. Aber die Touristen kennen ja die ganze Vorgeschichte nicht. Ich würde mir wünschen, dass sie möglichst viele positive Eindrücke mitnehmen."
Selbst wenn vieles nicht rechtzeitig fertig wird: Pecs war schon immer eine Kultur-Hauptstadt im besten Sinne, erklärt die Landemuseums-Direktorin Julia Fabanyj. Die Kunsthistorikerin hält beim Szene-Event in der Zsolnay-Fabrik Ausschau nach Nachwuchskünstlern. Obwohl sie eigentlich keine Zeit hat. Mit minimalem Aufwand und wenig Personal soll sie im Kulturhauptstadtjahr drei Ausstellungen stemmen. Am wichtigsten ist ihr die über das Bauhaus. Wer weiß schon, dass viele namhafte Dessauer Akteure aus Pecs stammen?
"Marcel Breuer mit dem Rohrstuhl. Keiner denkt daran, dass der aus Pecs kommt. Moholy-Nagy kommt aus Südungarn, unweit von Pecs, Weininger, der am Bauhaustheater sehr viel gemacht hat, war ebenfalls hier. Ich denke, damit schafft man nicht nur eine Wiedergutmachung gegenüber der ungarischen Kunstgeschichte. Das stärkt die städtische Identität."
Die Kuratorin schätzt Pecs aber nicht nur als geistige Wiege von Bauhaus-Künstlern und als Geburtstadt des Op-Art-Erfinders Viktor Vasarely. Wenn nicht alles durch Baustellen aufgewühlt ist, biete die Stadt ein sehr harmonisches und eigenwilliges Bild:
"Man wandert hier von der spätrömischen Zeit bis hin zu den Türken, es gibt immer sehr markante Punkte. Und die Umgebung ist wunderschön. In dem Mecek-Gebirge. Die ganzen Weinberge und Thermalbäder. Und vor allem das Klima. Gerade für Norddeutsche ist das Klima einmalig. Das hier Feigen zweimal im Jahr wachsen oder Granatäpfel. Das ist doch einmalig!"
Zur Identität von Pecs gehört für die Kunsthistorikerin aber unbedingt und vor allem:
"Das niemals von oben gelenkte ethnische Zusammensein. Serben. Kroaten. Schwaben sind hier unheimlich viel! Und man hat das auch im Stadtbild, also man hört das. Und zu dieser fast archaischen Schwabensprache kommt jetzt das Studententum. Die reden dann Deutsch, weil hier, was weiß ich, 4000 ausländische Studenten studieren. Und das trifft sich dann auch wieder. Das ist auch die Stadtakustik."
Bischofstadt, Industriestadt, Kultur-Haupstadt - und: Universitätsstadt. Medizin Studieren in Pecs ist auf jeden Fall anders, bestätigen Sofia und Julian, die hier ihr Physikum machen, weil sie in Deutschland keinen Studienplatz bekommen haben. Zwei von rund 500 Deutschen an der Universität Pecs.
"Zum Teil ist es mit der ungarischen Verständigung ein bisschen schwierig … und man ist halt so in seiner deutschen Enklave hier, man spricht immer Deutsch an der Uni, da kommt man halt nicht so rein … und sonst muss man halt auch schon genug lernen … und dann nebenbei noch 'ne Sprache, die ziemlich weit weg ist von Französisch, Englisch, Spanisch. Da fehlt dann doch ein bisschen die Motivation."
Statt Ungarisch zu lernen, entdecken die beiden lieber die Besonderheiten der Pecser Küche. Was angeblich auch recht mühsam ist. Viele Restaurants in Pecs versuchen inzwischen, international zu Kochen. Was meistens daneben geht:
"Also ich hab einmal Ungarisch gegessen, da hat uns unsere Ungarisch-Lehrerein eingeladen, zu Haus. Und da hat sie für uns gekocht, ein Paprikahühnchen - das war richtig gut. Von der Uni aus gibt's 'ne organisierte Weinprobe und da gibt's dann auch Spanferkel, Kartoffelsalat und die eingelegten Paprika dazu. Und da bekommen wir dann auch einen Eindruck vom ungarischen Essen. Aber sonst hält sich das stark in Grenzen."
An diesem Abend nicht. Die beiden haben Besuch von Freunden aus Deutschland - und natürlich gehört dazu auch ein kulinarischer Ausflug in die regionale Küche: Kalbsgulasch mit Quarkknödeln, Wels-Paprikasch, Sauerkrauteintopf, Wildsuppe mit Estragon, Lammkeule. Fast wäre der Restaurantbesuch aber gescheitert - an der Hinweistafel: Schwäbische Küche. Aber Donauschwäbisch ist halt nicht Schwäbisch, sondern eine Art "Fusion-Küche". Ein Multi-Kulti-Eintopf wie Pecs. Das die Gäste trotz langer Anreise für einen Kurztripp empfehlen:
"Bin begeistert von der Stadt. Man merkt so'n bisschen diesen Multi-Kulti-Flair und das find ich ganz schön und ich glaub, dass die Stadt super viel Potenzial hat …"
"Moderner als ich`s mir vorgestellt hätte …"
"Morbid, aber 'ne interessante Baukultur und hier tut sich natürlich im Moment auch sehr viel …"
"Also wir sind Architekten und man würde sich wünschen, wenn in Deutschland so viel gebaut werden würde. Jetzt nicht nur vom eigenen Standpunkt aus. Sondern weil es einfach auch schön ist, wenn so viel bewegt wird …"