Kulturgeschichte

Sprache fürs Gebet oder fürs Kaffeetrinken?

Von Gerald Beyrodt · 14.03.2014
Dass Hebräisch ganz selbstverständlich Umgangssprache wird, hätten sich Generationen von Juden nicht träumen lassen. Heute verbindet sie Israelis und Juden in der Diaspora. Doch in Israel gibt es auch Kritik daran, dass die Sprache der Tora im Alltag genutzt wird.
Toby (amerikanischer Akzent): "Das meiste Hebräisch, das ich benutzt habe, war: 'Modeh ani lefanecha'. Die Gebete, die man jeden Tag sagt."
Ella (russischer Akzent): "Die hebräische Sprache bedeutet sehr viel für mich. Es ist eine Sprache, die jüdische Geschichte, Kultur und Religion in sich hat."
Dror (leichter hebräischer Akzent):"Mit meinem Sohn spreche ich täglich Hebräisch, außerdem mit meiner Frau, meinen Eltern, meine Brüdern."
Gudrun: "Ich kann kein Hebräisch. Ich kann lesen. Ich verstehe so gut wie nichts. Bei uns ist es auch im Gottesdienst mit Absicht so, dass wir Teile auf Deutsch lesen, weil es da um das Verständnis geht."
Gerhard: "Das erste Mal, dass ich bewusst mit Hebräisch zu tun hatte, war beim Begräbnis meiner Großmutter, als bereits die Deportationen angefangen haben."
Dror: "Es ist natürlicher für mich, auf Hebräisch zu reden."
Hebräisch prägt das jüdische Leben. Die einen benutzen die semitische Sprache vor allem, wenn sie das Gebetbuch aufschlagen.
Anita: "Für mich ist Hebräisch in erster Linie auch so die Brücke in die Tradition und in die Vergangenheit. Wenn man viele Redewendungen oder auch aus den Gebeten Wortwendungen mitnimmt und wenn man sie bei anderen wieder hört und wenn man woanders hinreist und hört, dass sie in anderen Synagogen auch verwendet werden, dann entsteht so ein Gefühl von Zugehörigkeit."
Für die anderen bedeutet Hebräisch noch viel mehr.
"Ich spreche Hebräisch schon jeden Tag, würde ich sagen, mit Freunden. Das ist meine Muttersprache. Das ist die Sprache, glaube ich, womit ich am besten klarkomme, die Sprache, womit ich ganz mich wohl fühle",
sagt die Israelin Nirith Bialer von der Berliner Künstlergruppe HaBait. Dass Israelis eines Tages ganz selbstverständlich Hebräisch als ihre Muttersprache bezeichnen würden, hätten sich Generationen von Juden nicht träumen lassen.
Elieser Ben-Jehuda als wichtigster Vorkämpfer
Auch für die Zionisten war keineswegs klar, dass Juden in Israel eines Tages Hebräisch sprechen würden. Der bekannteste Zionist, der Journalist Theodor Herzl aus Wien, stellte sich vor, dass Deutsch die Sprache eines künftigen jüdischen Landes werden würde. Sich im Alltag in der Sprache der jüdischen Bibel zu unterhalten, kam ihm absurd vor.
"Wir können doch nicht Hebräisch miteinander reden", schrieb Theodor Herzl 1895 in seinem Buch "Der Judenstaat". Denn:
"Wer von uns weiß genug Hebräisch, um in dieser Sprache ein Bahnbillett zu verlangen? Wir werden auch drüben bleiben, was wir jetzt sind, so wie wir nie aufhören werden, unsere Vaterländer, aus denen wir verdrängt worden sind, mit Wehmut zu lieben."
Als wichtigster Vorkämpfer für das moderne Hebräisch gilt Elieser Ben-Jehuda. Er schuf viele neue hebräische Wörter und verfasste das bis heute wichtigste hebräische Wörterbuch. 1858 wurde er als Elieser Jizchak Perlmann bei Wilna im Russischen Reich geboren und starb 1922 in Jerusalem. Von jüdischen Schulen aus sollte die hebräische Sprache verbreitet werden, schrieb Ben-Jehuda in seiner Zeitschrift HaZwi, der Hirsch.
"Die hebräische Sprache wird von der Synagoge zum Lehrhaus und vom Lehrhaus zur Schule gehen, und von der Schule wird sie in die Häuser kommen (...) und zur lebendigen Sprache werden."
Für Elieser Ben-Jehuda war klar: Nur in einem Land, in dem Juden die Mehrheit der Bevölkerung bildeten, konnte das Hebräische gedeihen.
"Es ist sinnlos zu schreien: 'Lasst uns die hebräische Sprache schätzen, sonst vergehen wir!' Die hebräische Sprache kann nur leben, wenn wir die Nation wiederbeleben und zu ihrem Vaterland zurückkehren. Letztlich ist dies der einzige Weg, unsere fortwährende Erlösung zu erreichen; mit weniger als einer solchen Lösung sind wir verloren, für immer verloren."
Solchen Sätzen ist anzumerken, wie fasziniert Ben-Jehuda vom Erstarken der europäischen Nationalstaaten war. Kurzerhand erklärt er das antike Israel auch zur Nation.
"Die Nation kann nur auf ihrem eigenen Boden leben; nur auf diesem Boden kann sie wiederaufleben, und so wunderbare Frucht tragen wie zu vormaligen Zeiten."
Im Jahr 1881 kam Elieser Ben-Jehuda nach Palästina – ein Schritt, den kaum einer der jüdischen Aufklärer sonst wagte. Juden in der Gegend, die heute Israel heißt und damals zum Osmanischen Reich gehörte, sprachen alle möglichen Sprachen: Arabisch, Judenspanisch, Jiddisch, Russisch. Die Verständigung von Juden unterschiedlicher Herkunft war schwierig. Ben-Jehuda war deshalb der Meinung, Juden könnten nur ein Volk werden, wenn sie auch eine gemeinsame Sprache sprächen.
Als Lehrer in der jüdischen Schule "Tora weAvoda", Tora und Arbeit, hatte Ben-Jehuda Gelegenheit, solche Ansichten in die Tat umzusetzen. Er hielt seinen Unterricht auf Hebräisch ab und konnte so Kinder unterschiedlicher Herkunft unterrichten. Gleichzeitig erbrachte er den Beweis, dass sich das Hebräische tatsächlich wiederbeleben ließ. So konnte Ben-Jehuda viele andere Lehrer beeindrucken, und sein Beispiel machte Schule. In der Einleitung zu seinem Wörterbuch heißt es:
"Wenn eine Sprache, die nicht mehr gesprochen wird und von der nichts übrig geblieben ist außer dem, was sich von unserer Sprache erhalten hat, wieder aufleben kann und Umgangssprache eines Einzelnen für alle Bedürfnisse seines Lebens werden kann, so besteht kein Zweifel daran, dass sie Umgangssprache einer Gemeinschaft werden kann."
Ultraorthodoxe lehnen Hebräisch als Alltagssprache ab
Dass Hebräisch Umgangssprache werden kann, wollte Ben-Jehuda an seinem Sohn beweisen. Das Kind sollte vollständig mit der hebräischen Sprache aufwachsen. Andere Sprachen hielt er von dem Jungen fern. Miriam Rosengarten, Verfasserin eines wichtigen Hebräischlehrwerks und Lehrerin an der Jüdischen Volkshochschule Berlin:
"Er hat einen Sohn, Itamar, und der Sohn war schon ein Jahr alt, und er hat noch nicht gesprochen, weil die Frau nicht Hebräisch konnte und nicht wusste, wie sie mit dem Kind spricht. Und eines Tages kam er nach Hause, und hat zu seinem Entsetzen gehört, dass die Mutter ein Wiegenlied auf Russisch spricht. Und er war verärgert und hat angefangen, das Haus zu demolieren. Er hat Sachen geworfen und so. Bis das Kind so erschrocken war, dass das Kind plötzlich geschrien hat: 'Abba' auf Iwrit."
Abba bedeutet Vater. Die alte Sprache ablegen und sich eine neue Sprache zulegen – von dieser Erfahrung können viele Israelis auch heute noch berichten. Denn fast jeder weiß noch, wann die Familie nach Israel kam, wann Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern anfingen, Hebräisch zu sprechen. Man merkt Israel an, dass einst Menschen aus Ost und West, Nord und Süd ins Land kamen.
Lior: "Mein Opa ist in Bagdad geboren, meine Oma ist in Alexandria geboren, Ägypten."
Dvora: "Ich hab' Hebräisch mit 14 gelernt, aber es ist trotzdem wie meine zweite Muttersprache geworden. Es ging eigentlich ganz schnell."
Dror: "Bei mir gibt es einen Teil von der Familie, der seit neun oder zehn Generationen in Israel gewohnt hat, aber außerdem Polen."
Nirith: "Meine Eltern sprechen auch Jiddisch. Man hört eigentlich Jiddisch viel weniger heutzutage. Als ich Kind war, habe ich das öfter gehört, aber das war deren Geheimsprache damals."
Jahrzehntelang verfuhr die israelische Gesellschaft mit ihren Zuwanderern wie Ben- Jehuda mit seinem Sohn: Sie sollten möglichst Hebräisch sprechen. "Rak iwrit", nur Hebräisch, lautete der Slogan. Heute beherrscht kaum jemand noch die Sprache seiner Großeltern oder Urgroßeltern. Und viele bedauern das. So zum Beispiel Lior Sinay, der aus Tel Aviv stammt und jetzt in Berlin lebt:
"Dadurch haben die Israelis vielleicht ein bisschen von der Diaspora-Kultur verloren. Sie können die Sprache nicht mehr, die alte Sprache. Etwas ist sozusagen gelöscht, es ist weg."
Bis heute lehnen viele Ultraorthodoxe das Hebräische als Alltagssprache ab und sprechen stattdessen Jiddisch. Der Grund: Hebräisch sei eine heilige Sprache, die man nicht beim Kaffetrinken benutzen dürfe.
Neue Worte für das moderne Leben
Der Durchschnitts-Israeli gebraucht hingegen jeden Tag Wörter, die einst Ben-Jehuda erdachte, vor allem für Gegenstände des modernen Lebens. Wörter wie Eiscreme, Zeitung oder Uhr kommen in der Bibel nicht vor. "Uhr", schaon, formte Ben-Jehuda aus dem hebräischen Wort für "Stunde": schaa. "Zeitung", iton, formte er aus dem Wort für "Zeit": et. Die Idee, Zeitung von Zeit abzuleiten, stammt jedoch aus dem Deutschen.
Außerdem griff Ben-Jehuda auch Wörter aus der hebräischen Bibel auf und stellte sie in moderne Zusammenhänge. Das Wort "latuss", mit einem Flugzeug fliegen, kommt schon in der Bibel und in der Mischna vor - einem rabbinischen Kommentar, der bis zum dritten Jahrhundert nach der Zeitrechnung entstand. Diese Werke verwenden das Wort "latuss" nicht für den gemeinen Vogelflug, sondern für schnelle Flüge. Das Buch Hiob weiß zu sagen, dass der Adler auf diese Weise zur Beute fliegt, wenn er Hunger hat. Und die Mischna verwendet "latuss" für die Engel, die im Himmel fliegen - sie düsen geradezu. Für Ben-Jehuda ein Vorbild für Flugzeuge.
Miriam Rosengarten: "Das ist schnelles Fliegen. Und so dachte er, das Wort können wir für 'fliegen' nehmen, nicht für Vögel, aber für Flugzeuge. Und von dem Wort latuss kommt matoss, ein Flugzeug."
Die Worte latuss, fliegen, und "matoss", Flugzeug, sind bis heute in der hebräischen Sprache sehr üblich. Ganz ähnlich entstand das Wort für elektrischen Strom, chaschmal. Das Wort bezeichnet in der Bibel den Funken eines Feuers. Zu Ben-Jehudas wichtigsten Hinterlassenschaften gehört sein Wörterbuch.
Miriam Rosengarten: "Er hat ein Milon geschrieben, ein Wörterbuch, mit 16 Bänden. Nicht nur mit seinen neuen Worten, sondern auch mit seinen Ideen, wie man dieses Wort der Tora benutzen kann. Und diese Ben-Jehuda-Wörterbuch gilt heute als das Wörterbuch für die hebräische Sprache."
Die "Akademie für hebräische Sprache" setzt bis heute Ben-Jehudas Arbeit fort. Denn immer wieder kommen neue Gegenstände in den Alltag, die neuer Wörter bedürfen. Computer heißt auf Hebräisch machschew, Denker. Marketing heißt schiwuk und stammt von dem Wort für Markt ab: schuk. Israelische Kinder nehmen diese Wörter mit der Muttermilch auf, lernen Hebräisch, als hätte es nie andere Möglichkeiten gegeben. Ben-Jehudas Vision von Hebräisch als lebendiger Sprache ist heute eine Selbstverständlichkeit.
Ido: "Viele Leute lesen nur in Hebräisch ein Buch. Das ist nicht etwas, das so klar war vor 50 oder 40 Jahren, und es gilt auch für meine Oma und gilt auch für meine Eltern und gilt auch für mich. Meine Großeltern konnte kein Hebräisch oder haben nicht zu Hause Hebräisch gesprochen, meine Eltern schon und ich schon, und unser ganzes Leben ist nur in Hebräisch. Es hat in allen Schichten in Israel funktioniert, überall in Israel. Die Verbindungen von allen sind nur in Hebräisch."
Hebräisch als Fundament
Wer sich heute in jüdischen Gemeinden umhört, merkt: Ein bisschen Hebräisch beherrscht fast jeder Jude. Die meisten können mindestens die Buchstaben lesen und wissen, was die Gebete zu bedeuten haben.
Gudrun: "Ich komme nicht aus einem religiösen Zuhause. Von daher ist das für mich total schwierig, das auf die Reihe zu kriegen, wenn ich das und das sehe, dass das diesen und jenen Laut ergibt."
Gerhard: "Wenn ich in Israel bin, versuche ich, im Alltag nur Hebräisch zu sprechen."
Noa: "Da haben mich einfach die Schriftzeichen fasziniert. Ich habe die Übersetzung gelesen zu den Segenssprüchen, irgendwie gab es da so 'ne ganz große Kluft zwischen diesen Schriftzeichen, die mich angesprochen haben, und dem Text, mit dem ich eigentlich nichts anfangen konnte."
Toby: "Sie haben versucht, uns auch Unterhaltungshebräisch beizubringen. Das war sehr schwierig, weil wir keine Gelegenheit hatten, es wirklich zu benutzen. Es war Spaß, aber ich habe es eigentlich nie als Kind als Unterhaltungssprache benutzt."
Auch wenn Hebräisch keine Verständigungssprache für alle Juden ist, ist es doch ein Fundament. So gibt es starke Bande zwischen Diasporajuden und Israelis: wegen der Sprache, wegen der gemeinsamen Geschichte, wegen der Feste, die Juden in Israel genauso feiern wie in der Diaspora .
Lior: "Ich habe das Gefühl, dass wir etwas gemeinsam haben. Wir haben einen gemeinsamen Wortschatz und diese Begriffe, und ist es ist viel einfacher."
Ido: "Wenn ich zur Jüdischen Gemeinde gehe, dann sehe ich, wie viel Ähnlichkeit es gibt, dass sie wirklich viel wissen, sogar, wenn sie nicht in Israel waren. Das finde ich gut, dass wir denselben Hintergrund haben. Okay, es ist Samstag, also sagen wir: 'Schabbat Schalom.' Es gibt mehr Sachen, die wir gemeinsam verstehen."
Nirtih: "Also, wir haben schon was ähnliches in unsere Wurzeln. Es ist was Tieferes."
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