Kulturgeschichte

Die Biografie von Tomate, Erbse und Co.

Von Pieke Biermann · 23.12.2013
Die Geschichte der meisten Gemüsesorten ist ein wahres Abenteuer. Tomaten zum Beispiel waren anfangs als Teufelszeug verpönt. Die französische Literaturkritikerin Evelyne Bloch-Dano zeichnet die Spuren von Gemüse in Feldern wie Literatur, Malerei und Politik nach.
Hier und heute kann ein Mann Furore machen, wenn er prahlt: "Fleisch ist mein Gemüse." Das klingt nach "echtem Kerl" und Fähigkeit zur Selbstironie, zwei Eigenschaften, die dem – angeblich feminismusgeschädigten – Mann von hier und heute so schmerzlich abgehen. Kein Wunder, dass die Ausfälle gegen einen wöchentlichen "Veggie Day" gallebitter ausfielen. Gemüse ist bloß der "arme Verwandte", wenn nicht gleich "Weiberkram". Dabei ist Gemüse die Hauptnahrung von Mensch und Tier, gibt es fleischlose Tage in den meisten Kantinen und Familien seit eh und je und galt schon für den kerligsten Cro-Magnon: "Gemüse ist mein Fleisch", bevor er das erste Tier vor Keil oder Pfeil bekam.
"Tu felix Francia!" möchte man stöhnen. Nicht dass Essen nicht auch in Frankreich Politik wäre und machte. Derart fade Geschlechter-querelles verdampfen dort allerdings über einem viel menschenfreundlicheren Thema: Geschmack. Und wie viel Politik in dem steckt, demonstriert zum Beispiel die "Volksuniversität des Geschmacks", 2006 vom links-libertären Philosophen Michel Onfray in Argentan (Normandie) gegründet und gerade eben ein paar Orte weiter gezogen. Aus politischen Gründen.
Die Artischocke überlebte als angebliches Aphrodisiakum
Evelyne Bloch-Dano, Literaturkritikerin und Biographin von Flora Tristan, Prousts Mutter und Zolas Gattin, hat dort Vorlesungen gehalten. Auch das waren kleine Biographien, in diesem Fall jeweils eines Gemüses von seiner Entdeckung bis heute, nachgezeichnet anhand seiner Spuren in Literatur, Malerei, Geographie und Politik, Soziologie, Gastrosophie. Hinterher wurde von einem bekannten chef de cuisine gekocht. Daraus entstand 2008 das Buch, das jetzt endlich auch auf Deutsch erschienen ist: Eine Gemüsekulturgeschichte, elegant erzählt, filigran illustriert und mit Rezepten garniert.
Die meisten Gemüse haben wahre Abenteuer hinter sich, nicht nur wenn sie aus Übersee kamen und zuerst als Teufelszeug verpönt waren wie die Tomate. Die Artischocke überlebte unter anderem als angebliches Aphrodisiakum. Der Topinambur, die Pastinake, der Kürbis sind seit neuestem durch Starköche geadelt. Der kleinen Erbse schmeckt man die Vererbungslehre nicht an, die Mendel ihr abgewann. Am Chili in all seinen Arten scheiden sich die Geschmacksnerven notorisch so wie, etwas anders, an "Urvater Kohl", kultiviert seit 7000 Jahren.
Jedes der zehn Gemüse hat seine eigene Rezeptionsgeschichte, eine kollektive und eine individuelle. Die erste erzählt von seinem sozialen Status; die zweite reflektiert dasselbe wie Prousts Madeleines: den Geschmack, den man als Kind gespürt hat. Hier und heute, wo kaum noch ein Kind weiß, dass Tomaten ursprünglich keine roten Wasserbällchen aus Treibhäusern sind, wo viele Gemüse durch Zucht versüßt, verfärbt und ihrer Wirkstoffe beraubt wurden, wo man auf besser stapel- und transportierbare quadratische Kartoffeln macht. "Die Sehnsucht im Herzen der Artischocke" macht buchstäblich Appetit: Auf die (Wieder-)Entdeckung des Geschmacks, also auf die Sinne und Gefühle, die zum guten Leben gehören.

Evelyne Bloch-Dano: "Die Sehnsucht im Herzen der Artischocke – Eine Gemüsekulturgeschichte"
Aus dem Französischen von Bettina Bach
Nagel & Kimche, Zürich 2013
160 Seiten, 16,90 Euro

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