Kulturgeschichte des Frierens
Man möchte meinen, die Meisterin der schwedischen Erzählkunst, Kerstin Ekman, hätte mit ihrem umfangreichen erzählerischen Werk längst alle Facetten der beeindruckenden und bedrückenden Weite nordschwedischer Landschaft sowie deren Bewohner entfaltet. Doch mit ihrem Roman "Zeit aus Glas" scheint ihr nun auch eine Kulturgeschichte des Frierens gelungen zu sein, die den zugefrorenen See zum zentralen Sinnbild einer verschlossenen Familiensaga werden lässt und deren Spuren erneut ins nördliche Jämtland führen.
Im Zentrum des Geschehens steht die 1946 zur Adoption freigegebene Ingefrid Mingus (genannt Inga), die aufgrund einer Erbschaft in ein kompliziertes familiäres Geflecht gerät, in dem das Leben ihrer leiblichen Mutter und Großmutter fest verwurzelt war, ihr selbst aber kein Platz zugestanden wurde. Wie in einem dicht gewebten Teppich werden die Genealogien miteinander verknüpft, um in der Webart die Bewegungen eines ganzen Jahrhunderts nachzuzeichnen. Mit Zeit aus Glas beschließt die schwedische Autorin zudem ihre Trilogie, deren Romane Am schwarzen Wasser (1999) und Die letzten Flöße (2002) das nun vorliegende Finale spannungsreich vorbereitet haben. Die drei Bücher bilden ein erzählerisches Triptychon, dessen Scharniere vor Kälte knarren und dessen Flügel durch die Kraft der Worte auseinander gehalten werden. Zum Teil sind es stumme Bewegungen einer Sprachlandschaft, die im Inneren der Protagonisten verborgen sind und nicht mehr an die Oberfläche gelangen können. Denn erzählt wird auch von der jämtischen Sprache, die vor nicht allzu langer Zeit noch wie Gesang über der kleinen Gemeinde Svartvattnet - dem "schwarzen Wasser" - lag. Nun wird Jämtland als eine geplünderte Landschaft beklagt, wo die Diebe nicht nur das Fjäll und den Wald geraubt haben, sondern auch die Worte. Selma Lagerlöfs "wilder Wald" ist zur Legende geworden, da moderne, effektive Forstunternehmen den Wald zum Papiermassenrohstoff verarbeitet haben. "Einer wie ich hat nicht einmal Worte, in die er seine Trauer senken kann", beklagt Jyöne Anund, der Onkel der Protagonistin, am Ende seines Lebens. Ohne den jämtischen Gesang scheint auch die Landschaft erkaltet und ohne Magie.
Da Ekmans Protagonistin Pfarrerin ist, wird im Roman die Bedeutung von Ritualen und das Bewahren von Erinnerungen im Zusammenhang mit dem Entdecken der eigenen, bislang unbekannten Herkunft besonders spannungsvoll aufgeladen. Außer ihrer Stieftante Kristin Klementsen ist kaum jemand bereit, sie bei der Suche nach dem Vergangenen, das "verschlossen und verriegelt wie ein Schrank" vor ihr steht, zu unterstützen.
Aufgewachsen in einem Schweden der "glänzenden Linoleumböden", Ekmans Bild für die Epoche des schwedischen Wohlfahrtsstaats, wird Inga bei ihrer Spurensuche mit einem armen Schweden konfrontiert, wo das wöchentliche Glück im "skraplott" (Rubbellos) - "skraplotter" lautet auch der schwedische Originaltitel - erhofft und darum wöchentlich vergeblich frei gekratzt wird.
Schließlich symbolisiert in Ekmans Triptychon die Küchenbank in einer erkalteten Wohnküche jenen letzten vertrauten Ort, wo sich dem Auge noch einmal die schneebedeckte Landschaft darbietet und von der sich die Eisfläche des zugefrorenen Sees "klar wie Glas" sichtbar abhebt, unter der das Vergangene unheilvoll brodelt.
Kerstin Ekman Zeit aus Glas
Roman. Piper Verlag 2005
Aus dem Schwedischen v. Hedwig M. Binder
451 Seiten, 22,90 Euro
Da Ekmans Protagonistin Pfarrerin ist, wird im Roman die Bedeutung von Ritualen und das Bewahren von Erinnerungen im Zusammenhang mit dem Entdecken der eigenen, bislang unbekannten Herkunft besonders spannungsvoll aufgeladen. Außer ihrer Stieftante Kristin Klementsen ist kaum jemand bereit, sie bei der Suche nach dem Vergangenen, das "verschlossen und verriegelt wie ein Schrank" vor ihr steht, zu unterstützen.
Aufgewachsen in einem Schweden der "glänzenden Linoleumböden", Ekmans Bild für die Epoche des schwedischen Wohlfahrtsstaats, wird Inga bei ihrer Spurensuche mit einem armen Schweden konfrontiert, wo das wöchentliche Glück im "skraplott" (Rubbellos) - "skraplotter" lautet auch der schwedische Originaltitel - erhofft und darum wöchentlich vergeblich frei gekratzt wird.
Schließlich symbolisiert in Ekmans Triptychon die Küchenbank in einer erkalteten Wohnküche jenen letzten vertrauten Ort, wo sich dem Auge noch einmal die schneebedeckte Landschaft darbietet und von der sich die Eisfläche des zugefrorenen Sees "klar wie Glas" sichtbar abhebt, unter der das Vergangene unheilvoll brodelt.
Kerstin Ekman Zeit aus Glas
Roman. Piper Verlag 2005
Aus dem Schwedischen v. Hedwig M. Binder
451 Seiten, 22,90 Euro