Kulturgeschichte des Erbens

Die Kehrseiten des Testaments

Das Wort Testament wird mit einem Kugelschreiber auf ein Blatt Papier geschrieben.
Des einen Glück ist des anderen Leid - die Kulturgeschichte des Erbens steckt voller Konflikte © dpa / picture alliance / Jens Büttner
Ulrike Vedder im Gespräch mit Nana Brink · 13.04.2016
Politiker von Union und SPD streiten derzeit über die Ausgestaltung der Erbschaftssteuer. Doch die Konflikte rund um das Erben sind auch ein beliebtes Thema in der Literatur: Es geht um die spannenden und aktuellen Fragen von Macht und Gerechtigkeit.
Die Reform der Erbschaftssteuer ist ein Streitpunkt zwischen Union und SPD. Der heute stattfindende Koalitionsausschuss wird auch über dieses Thema diskutieren. Dabei geht es vor allem um steuerliche Regelungen zur Unternehmensnachfolge.
Jenseits von politischen Fragen ist das Thema "Erben" seit Jahrhunderten ein beliebter Stoff für Schriftsteller. Im Deutschlandradio Kultur sprach die Berliner Literaturwissenschaftlerin Ulrike Vedder über die Kulturgeschichte des Erbens:
"Es gibt keine harmonische Erbschaftsgeschichte, die literaturfähig ist. Wenn 'Erben' in der Literatur vorkommt, dann immer in wunderbaren Konfliktszenen. Ich denke etwa an die Eröffnungsszene des Romans 'Flegeljahre' von Jean Paul, die mit einer Testamentseröffnung einsetzt."
Bei diesem Thema zeigten sich auch viele Zusammenhänge zu gesellschaftspolitischen Problemen, sagte Vedder:
"Es geht ja beim Erben immer wieder um die Frage von Macht und Willkür einerseits, andrerseits um die Frage von Gerechtigkeit. Beim Familienerbe geht es natürlich auch immer um Liebe, Zuwendung. Fürsorge, aber auch immer wieder um die Kehrseiten. Und deswegen sind viele literarische Texte über das Erbe zugleich auch gesellschaftskritische Texte."

Das Interview im Wortlaut:

Nana Brink: "Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen." Das sagt Faust in einem seiner berühmten Monologe. Ein Satz, der es in sich hat, der vom Erben als Ballast spricht, aber auch davon, dass man das Ererbte auch erwerben muss, also sich zu eigen machen muss. Ein interessanter Gedankengang.
Seit 2014 ist ja eine Diskussion wieder mal um das Erben im Gange, die zum Teil heftig ausgefochten wird. Das Bundesverfassungsgericht fordert ja eine Reform, die die Mängel bei der Begünstigung von Firmenerben beseitigen soll. Die Reform muss bis Juni dieses Jahres stehen und deshalb beschäftigt sich auch der Koalitionsgipfel von Union und SPD heute mit der Erbschaftssteuer.
Warum aber ist das Thema Erben, Erbschaftssteuer überhaupt so heikel, so emotionsgeladen oder, um mit Goethe zu sprechen, so viel Ballast? Die Literaturwissenschaftlerin Ulrike Vedder, Professorin am Institut für deutsche Literatur an der Humboldt-Universität in Berlin hat zu Erben in der Literatur, vor allem im 19. Jahrhundert geforscht. Schönen guten Morgen!
Ulrike Vedder: Guten Morgen!
Brink: Die Politiker streiten ja über die Erbschaftssteuer heute. Die modernen Konzepte von Erben, die sind ja so um 1800 entstanden und haben natürlich auch die Schriftsteller beschäftigt. Warum?
Vedder: Diese Konflikte, die sich gleichzeitig mit neuen Vorstellungen vom Erben, von Familie, vom Umgang mit den Toten einstellen, werden von den Literaten sehr gern genutzt natürlich auch, um ihre eigene Zeitgeschichte zu reflektieren. Wir haben ja um 1800, Stichwort Französische Revolution, den Gedanken, dass jetzt die junge Generation am Zuge sei. Robespierre hat polemisch gefragt: Wollen wir uns von den alten Vätern regieren lassen, die längst Staub und Asche sind? Nein, das wollen wir nicht.
Die amerikanische neue Verfassung schreibt fest, dass keine Generation das Recht habe, über die nächste, über die neue Generation zu bestimmen und so weiter. Da deuten sich schon Konflikte zwischen den Alten und den Jungen um den Umgang mit Vergangenheit und mit Zukunft an. Die Idee des Individuums wird neu verhandelt, und wir haben natürlich seit, grob gesprochen 1800, die bürgerliche Kleinfamilie. Und diese ganzen, wie soll ich sagen, Kehrseiten dessen, die Familienkatastrophen, die Familiengeheimnisse lassen sich sehr gut über Familienromane, Generationenromane mit ihren Erbschaftsgeschichten erzählen.

Wunderbare Konfliktszenen über das Thema Erben

Brink: Haben Sie da so einen bestimmten Roman im Kopf?
Vedder: Ich habe natürlich eine ganze Reihe von Romanen im Kopf.
Brink: Das dachte ich mir.
Vedder: Vielleicht fangen wir so an: Es gibt, denke ich, keine harmonische Erbschaftsgeschichte, die literaturfähig ist. Wenn Erben in der Literatur vorkommt, dann immer in, von heute aus gesprochen, wunderbaren Konfliktszenen. Ich denke an die Eröffnungsszene des Romans von Jean Paul, "Flegeljahre" von 1804, der mit einer Erbschaft einsetzt, mit einer Testamentseröffnung einsetzt. Und die Angehörigen reiben sich schon die Hände, weil es viel zu verteilen gibt. Und die erste Nummer des Testaments lautet, wer das erste Haus erben möchte, ist derjenige, der innerhalb von 30 Minuten um mich weint.
Und dann beginnt eine wunderbare Schilderung dessen, wie nun alle versuchen, Tränen aus sich herauszudrücken, weil natürlich für Trauer in der Situation überhaupt kein Platz ist.
Und das ist ein schönes Beispiel, denke ich, wo man schon diese Macht, diese väterliche Macht und Willkür auf der einen Seite und das Absurde, sehr Ironische, sehr Kritische auch, wie in der Literatur damit umgegangen wird, sehen kann.

Thomas Bernhards Roman "Auslöschung"

Brink: Aber das sagt dann ja auch sehr viel aus über wie so eine Gesellschaft funktioniert, wie sie mit dem Erbe dann umgeht.
Vedder: Es geht ja beim Erben immer wieder um die Frage von Macht einerseits, eben solcher Willkür, und von Gerechtigkeit auf der anderen Seite, natürlich im Familienerbe auch immer um Liebe, Zuwendung, Fürsorge. Aber, wie gesagt, auch immer um die Kehrseiten. Und deswegen sind viele literarische Texte über das Erbe zugleich auch gesellschaftskritische Texte.
Wenn wir über heutige oder jüngere Erbschaftsfälle sprechen, wenn wir an die Erbschaftstexte von Thomas Bernhard beispielsweise denken, seinen letzten großen Roman "Auslöschung", der heißt schon "Auslöschung", weil es darum geht, - Sie haben es vorhin Ballast genannt oder die Erb-Last - das drückende Erbe loszuwerden. Das ist ja bei Thomas Bernhard einerseits immer ein Familienerbe, das aber zugleich durch die nationalsozialistische Vergangenheit Österreichs sozusagen zusätzlich angereichert ist. Das heißt, im 20. Jahrhundert haben wir eigentlich immer bei Erbschaftsfragen auch mitzudenken die Erblasten des Krieges, die Übertragung von Schuld. Denn es geht ja beileibe nicht einfach nur ums Geld, wie es ja nie nur ums Geld geht.
Brink: Das hat sich dann aber eigentlich bis heute weiter fortgesponnen. Wenn Sie jetzt den Bogen schließen, also wir können auch noch Goethe nehmen, über Paul bis zu Bernhard – aöso eigentlich sind wir nicht viel weiter gekommen in der Auseinandersetzung mit dem Erben?
Vedder: Das Erben hat sich verändert. Diese historisch-gesellschaftliche Anreicherung ist sehr viel stärker geworden. Wir haben heute den Anspruch, uns auch als Erben zu verstehen, die Erbschaft der Vergangenheit auch anzunehmen. Und eben nicht wie Robespierre zu sagen: Was geht uns die Vergangenheit an, sobald die Toten unter der Erde sind?
Wir versuchen heute einen anderen Umgang, einen von Gedächtnis und Erinnerung geprägten Umgang mit unseren eigenen Toten natürlich, aber eben auch mit solchen Erbschaften und Erblasten zu gewährleisten. Und zugleich gibt es aktuell so viel zu vererben, dass wir die Sorge ja haben, die Vermögensunterschiede werden zementiert. Also diese Frage von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, aber eben auch die Frage, wer wollen wir sein, wenn wir uns als Erben verstehen, die steht im Raum, und die interessiert auch die Literatur.
Gerade in der deutschsprachigen Literatur sind Familiengeschichten immer eben konnotiert durch diese auch politischen Erblasten. Vielleicht noch ein kurzes Beispiel: Der Erfolgsroman von Arno Geiger "Es geht uns gut", wo eben die Enkelgeneration jetzt von den Großeltern erbt. Und die ganze Schwierigkeit kristallisiert sich in dem Haus, das der Enkel erbt, und der Dachboden ist voll mit Taubendreck, und das wird auch so beschrieben, Schicht um Schicht, wie Zins und Zinseszins – also diese ganze Last der Vergangenheit manifestiert sich dort auf diesem Dachboden, der ja sowieso ein literarisch hochinteressanter Ort ist.

Renaissance der Familien- und Generationenromane

Brink: Wenn wir schon im Heute sind, was fällt Ihnen da noch ein? Wenn wir jetzt wirklich diesen literarischen Bogen auch spannen – ist das auch genauso ein Thema in der Literatur, wie es im 19. Jahrhundert war?
Vedder: Wir haben ja eine Renaissance, wenn man so will, der Familien- und Generationenromane seit einigen Jahren, grob gesprochen seit 15, 20 Jahren. Und die Verknüpfung der Generationen, die dort erzählt wird, hat immer mit dieser Frage zu tun. Was sich verschoben hat, ist die starke patrilineare Orientierung. Im 19. Jahrhundert sind es eigentlich immer Vater-Sohn-Geschichten, fatale Vater-Sohn-Geschichten, und die Gerechtigkeitsfragen werden häufig über Brüderpaare ausgehandelt. Schöne Erzählung von Theodor Storm, "Die Söhne des Senators". Nur der älteste soll erben, der jüngere bekommt nichts.
Das hat sich heute verschoben, natürlich in Hinsicht auf die Geschlechter, dass es auch Erbinnen gibt. Es gibt tolle Texte, beispielsweise von Marlene Streeruwitz, wo es darum geht, dass die Erbin sich lossagen will von ihrer Erbschaft des Großvaters und diesen Großvater nicht los wird. Der ist schon lange tot, und sie wird ihn nicht los.
Und dieses Verhaftetsein im Erbe oder diese Sorge, ein Toter könnte mit langer Hand noch aus dem Grab seine Macht weiterhin ausüben, und die Schwierigkeit, diese Erblasten auch wieder loszuwerden und ins Positive zu wenden, das beschäftigt uns auch heute. Der andere heutige Aspekt ist, dass vielleicht wesentlich stärker dieser Tausch sozusagen von Zuneigung und Pflege der Elterngeneration gegen das künftige Erbe stärker verabredet wird oder eben auch schon zu Lebzeiten eigentlich vollzogen wird.
Brink: Vielen Dank! Die Literaturwissenschaftlerin Ulrike Vedder mit ihrer kleinen, nein großen Kulturgeschichte des Erbens. Vielen Dank, Frau Vedder, für Ihre Zeit!
Vedder: Gern, tschüs!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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