„Der Begriff des Entsorgens suggeriert, dass es möglich wäre, Dinge irgendwo hinzupacken und dann sind sie weg – dann müssen wir uns nicht mehr um sie kümmern.“
Kulturgeschichte des Abfalls
Bleiben von uns am Ende nur unsere Müllberge? Der Kulturwissenschaftler Falko Schmieder beobachtet eine "doppelte Entgrenzung" des Mülls in Raum und Zeit. © picture alliance / Zumapress / Mahmoud Issa
Nach uns die Müllflut
26:50 Minuten
Abfälle entsorgt man, doch ist das Ent-Sorgen überhaupt noch möglich, in Zeiten allgegenwärtigen Mikroplastiks? Unser verdrängter Müll sucht uns heim, sagt der Kulturwissenschaftler Falko Schmieder. Zu lösen sei das nur politisch, nicht individuell.
Was bleibt von uns, wenn wir nicht mehr sind? Eine nüchterne Antwort darauf lautet: Vermutlich die Müllberge, die wir weltweit auftürmen, wie die Pyramiden des 21. Jahrhunderts. Zugegeben: Ein düsteres Bild – aber wohl durchaus realistisch, denn seit der Moderne ist die Menschheits- auch eine Abfallgeschichte, sagt der Kulturwissenschaftler Falko Schmieder.
Müll ist ein modernes Problem
Wie eng Moderne und Müll miteinander verknüpft sind, zeige sich unter anderem daran, wie jung der Begriff „Müll“ noch ist, so Schmieder. „Man denkt, dass Müll zur Geschichte der Kultur unmittelbar dazugehört, aber als eigenständiges Stichwort taucht er in den Wörterbüchern überhaupt erst Ende des 19. Jahrhunderts auf. Daran kann man sehen, dass die Geschichte des Mülls historisch variabel ist und dass er in einem signifikanten Sinne überhaupt erst um diese Zeit der Industrialisierung herum zum Problem wird.“
Die Zeit, in der das Wort „Müll“ erstmals auftaucht, ist auch die Zeit, in der einige Geologen heute den Beginn des sogenannten Anthropozäns verorten. Das ist jene erdgeschichtlichen Epoche, die durch die Einwirkung des Menschen bestimmt ist. Die Geologen verweisen dabei auf Produktionsrückstände, also „Müllkategorien“, etwa auf Ablagerungen von CO2 in der Erdkruste.
Anhand des Mülls lässt sich also auch eine zentrale Erkenntnis der Kulturwissenschaften illustrieren: Die klare Trennung von Natur und Kultur geht nicht mehr auf. „Weil wir die Natur schon so tiefgreifend verändert haben, dass es eigentlich immer Kulturlandschaften sind, wir es immer mit einer vermittelten, gesellschaftlich bearbeiteten Natur zu tun haben“, sagt Schmieder.
Kulturell bedingt sei auch das, was wir überhaupt als Müll begreifen, betont der Kulturwissenschaftler: „Müll ist keine natürliche Eigenschaft von Dingen, sondern hat mit gesellschaftlichen Wertzuschreibungen, Bedürfnisstrukturen, Klassenzugehörigkeiten zu tun. Das, was man als Müll betrachtet, unterliegt also der Geschichte. Und das kann man heute auch daran sehen, dass das, was die einen in den Mülleimer werfen, von anderen wiederum als Lebensmittel oder Rohstoff betrachtet wird.“
Räumliche und zeitliche Entgrenzung
Auch global gesehen ist das Verhältnis zu Abfällen höchst unterschiedlich, je nachdem, was man sich leisten kann: Unter der „Entsorgung“ ihres Mülls verstehen reiche Länder bis heute oft, ihn in ärmere Länder des globalen Südens zu exportieren. Das sei auch ein „Erbe kolonialer Ausbeutungsverhältnisse“, wie Schmieder betont. Inzwischen beginnen einige der Empfänger-Länder sich dagegen zu wehren. Doch das ist nur ein Grund, warum das „Entsorgen“ unseres Mülls nicht länger funktioniere.
Das sei aber spätestens unter den Bedingungen heutiger Abfallproduktion illusorisch. "Weil sich die Abfallmassen so vermehrt haben, dass es eigentlich keinen Ort mehr gibt, wo man sie einfach entsorgen kann – die kommen zurück.“ Es gebe immer mehr Abfallsorten, die nicht mehr schnell genug abgebaut oder absorbiert werden, wie etwa das inzwischen allgegenwärtige Mikroplastik, das sich inzwischen auch im menschlichen Organismus finden lässt: „Der Müll kehrt quasi ins Innere der Gesellschaft – und sogar der einzelnen Körper – zurück, die versucht hat, diesen Müll auszulagern.“
Schmieder sieht darin eine „doppelte Entgrenzung“. Er sagt: „Räumlich rücken uns die Dinge wieder auf den Leib; und zeitlich greifen sie soweit auf die Zukunft über, dass die Überlebensbedingungen zukünftiger Generationen eingeschränkt und gefährdet werden.“
Lässt sich das Müllproblem im Kapitalismus lösen?
Individuelle Ansätze zur Müllvermeidung seien zwar lobenswert, sagt Schmieder, lösen lasse sich dieses Problem aber nur politisch. Es brauche gesetzliche Regeln, um schon in der Produktion möglichst wenig Müll entstehen zu lassen oder Produkte so zu gestalten, dass sie recycle- oder zerlegbar seien.
Dass sich Müllvermeidung im großen Stil im Rahmen eines kapitalistischen Wirtschaftssystems umsetzen lässt, bezweifelt Schmieder: „Diese Art von systemischer Wachstumsfixierung führt unter Bedingungen eines begrenzten Planeten notwendig dazu, dass sich die Müllproblematik verschärfen wird.“
Zum Weiterlesen:
David-Christopher Assmann, Falko Schmieder, Jörg Schuster (Hg.): „Verwalten – Verwerten – Vernichten. Kulturpoetische Formationen des Abfalls seit 1930“
Kadmos Verlag, Berlin 2022
228 Seiten, 29,80 Euro.