Kulturelles Gedächtnis in China
Aus europäischer Sicht müsste China mit seinem "kulturellen Gedächtnis" ein ähnliches Problem haben wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. In China brach die so genannte Kulturrevolution mit den Traditionen. Heute bemüht sich das Land allmählich darum, die Erinnerung an die Vergangenheit wieder zu beleben. Doch die schnelle ökonomische Entwicklung verstellt vielfach den Blick für die Traditionen und die Geschichte.
"Kulturelles Gedächtnis" - in China ist das ein Fall fürs Fernsehen. Doku-Soaps und Living History, das sind die beliebtesten Kultur-Quellen der Chinesen.
Michael Lackner: "Das was 99 Prozent der Menschen in China mitkriegen, sind die staatsnahen Fernsehsender, und das sind wirklich die Mehrheit der Chinesen, eine historische Soap-Opera. Sie müssen sich vorstellen, wenn in der ARD zur Prime Time 99 Folgen über Bismarck liefen, also etwa auf dieser Ebene müssen Sie sich das vorstellen. Das ist nicht uninteressant, das war auf dem ersten chinesischen Programm und ist 59 Folgen lang gelaufen und hat eine Millionen-, wenn nicht sogar Milliardenpublikum erreicht. Das ist das Spannende daran."
Der Sinologe Michael Lackner von der Universität Erlangen hat anhand des chinesischen Fernsehprogramms untersucht, wie dem durchschnittlichen Bürger die eigene Geschichte und Kulturgeschichte nahe gebracht werden. Eigentlich ganz ähnlich, wie es das deutsche Fernsehen seit einigen Jahren und mit immer größerer Begeisterung tut: inszeniert als emotional mitreißendes Historiendrama.
"Vielleicht noch ein wenig kitschiger, ein Stückchen noch mal inszenierter. Weniger dokumentarische, also es ist im Grunde kein Doku-Drama, sondern verkitschte, inszenierte Geschichte, die eben sehrt viele Menschen erreicht. Ich rede jetzt hier nicht über Wertfragen. Wir haben nicht 99 Sendungen über Bismarck, die würden wir nicht ertragen. Wir ertragen zwei Folgen Nibelungen, fünf Folgen über Hitler, weil der relativ viel hergibt noch vielleicht, aber nicht so was. und das ist ein in ganz Ostasien verbreitetes Phänomen, diese Liebe zu Geschichtsdramen und zur Darstellung von Geschichte über mehr oder minder begabte Schauspieler und Regisseure. Das ist anders als in Europa."
"Geschichte als Seifenoper" - anders als Deutschland, das nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst eine Phase der kritischen, streckenweise vielleicht allzu schwerfälligen Erinnerungsarbeit leistete, bevor sich die mediengerechten Formen der Trivialisierung durchsetzten, hat China in raschem Tempo diese erste Phase übersprungen. Ein Land, das wirtschaftlich und städtebaulich derart aus allen Nähten platzt, hat im Augenblick wenig Zeit für die Aufarbeitung von kulturellen Brüchen. Zumal die Geschichte trotz der materiellen und intellektuellen Verwüstungen durch die Kulturrevolution in China nach wie vor als ein Kontinuum begriffen wird, wie Lackner erläuterte.
Das im Fernsehen geprägte, massenkompatible Geschichts-Entertainment steht unter staatlicher Kontrolle. Da hat sich wenig geändert, trotz Reformen und vorsichtiger Öffnung in den letzten beiden Jahrzehnten.
Jüngeren, kritischen Künstlern ist der Staat in kulturellen Dingen daher immer noch höchst suspekt:
Jin Xing: "Die Politik hat die kulturelle Erinnerung, die Kunst schon immer als ein Mittel zur Propaganda benutzt. Die Regierungen hatten Angst vor einer freien Kunst. Aber das ändert sich, die Situation entspannt sich. Es gibt die Kunstbiennale in Kanton oder die Biennale in Shanghai. Und ich habe ja gerade auch mein 'International Shanghai Dance Festival' eröffnen dürfen. Früher wäre es unmöglich gewesen, dass eine Privatperson so etwas organisiert. "
Jin Xing ist eine Ausnahmeerscheinung unter Chinas Künstlern. Die Tänzerin wuchs als Mann auf und ist die erste "offizielle" Transsexuelle des Landes. Die international gefeierte Choreografin ist das kulturelle Aushängeschild Chinas. In der Business- und Fashion-Metropole Shanghai, wo sie lebt, ist sie eine Art Popstar.
Jin Xing bedauert, dass viele ihrer Landsleute die "Kultur" kaum von Wirtschaft und Lifestyle trennen. Kunst muss etwas einbringen, und manche hätten sich darüber lustig gemacht, dass sie ihr eigenes Geld in so etwas Sinnloses wie ein Tanz-Festival steckt, statt es an die Börse zu tragen.
"Ich traue der Öffentlichkeit in gewisser Weise zu, dass sie sich mehr und mehr für Kunst interessiert. Aber wir haben andererseits eine extreme wirtschaftliche Entwicklung in China. Ich bin oft ganz wütend und sage der Presse: Natürlich brauchen wir Mode und Entertainment. Aber das darf nicht alles überdecken. Ihr dürft nicht alles zusammen mischen. Sonst vergessen wir das, was die eigentliche Identität einer Kultur ausmacht: die Kunst und die künstlerische Kreativität."
Paradoxerweise sehen manche Chinesen aber gerade in der Kommerzialisierung eine Chance für staatsferne kulturelle Selbstvergewisserung. Ein Künstler, der viel Geld mit seiner Kunst verdient, ist unabhängig und frei, meint der Ästhetikprofessor Zhu Qingsheng aus Peking:
"China entwickelt sich zur Marktwirtschaft. Man mag das Geld sehr gerne. Das Geld ist eine Möglichkeit, die Macht - Powers - zu zerstören - und eine eigene Freiheit zu haben."
Freiheit, sich mit den Traditionen zu beschäftigen und mit den Brüchen der Kulturrevolution - oder es ganz bewusst sein zu lassen. Die Tänzerin Jin Xing hat sich für eine ganz persönliche Form der Erinnerung entscheiden: Soeben hat sie ihre Autobiografie vorgelegt - im Alter von 39 Jahren. Darin beschreibt sie ihre Verwandlung vom kleinen bühnenbegeisterten Jungen in eine Frau durch Operation - lange Zeit war so etwas in China undenkbar. An Jin Xings Leben, an ihrer Karriere als Künstlerin lässt sich der Wandel der kulturellen Vorstellungen in ihrer Generation exemplarisch ablesen.
Michael Lackner: "Das was 99 Prozent der Menschen in China mitkriegen, sind die staatsnahen Fernsehsender, und das sind wirklich die Mehrheit der Chinesen, eine historische Soap-Opera. Sie müssen sich vorstellen, wenn in der ARD zur Prime Time 99 Folgen über Bismarck liefen, also etwa auf dieser Ebene müssen Sie sich das vorstellen. Das ist nicht uninteressant, das war auf dem ersten chinesischen Programm und ist 59 Folgen lang gelaufen und hat eine Millionen-, wenn nicht sogar Milliardenpublikum erreicht. Das ist das Spannende daran."
Der Sinologe Michael Lackner von der Universität Erlangen hat anhand des chinesischen Fernsehprogramms untersucht, wie dem durchschnittlichen Bürger die eigene Geschichte und Kulturgeschichte nahe gebracht werden. Eigentlich ganz ähnlich, wie es das deutsche Fernsehen seit einigen Jahren und mit immer größerer Begeisterung tut: inszeniert als emotional mitreißendes Historiendrama.
"Vielleicht noch ein wenig kitschiger, ein Stückchen noch mal inszenierter. Weniger dokumentarische, also es ist im Grunde kein Doku-Drama, sondern verkitschte, inszenierte Geschichte, die eben sehrt viele Menschen erreicht. Ich rede jetzt hier nicht über Wertfragen. Wir haben nicht 99 Sendungen über Bismarck, die würden wir nicht ertragen. Wir ertragen zwei Folgen Nibelungen, fünf Folgen über Hitler, weil der relativ viel hergibt noch vielleicht, aber nicht so was. und das ist ein in ganz Ostasien verbreitetes Phänomen, diese Liebe zu Geschichtsdramen und zur Darstellung von Geschichte über mehr oder minder begabte Schauspieler und Regisseure. Das ist anders als in Europa."
"Geschichte als Seifenoper" - anders als Deutschland, das nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst eine Phase der kritischen, streckenweise vielleicht allzu schwerfälligen Erinnerungsarbeit leistete, bevor sich die mediengerechten Formen der Trivialisierung durchsetzten, hat China in raschem Tempo diese erste Phase übersprungen. Ein Land, das wirtschaftlich und städtebaulich derart aus allen Nähten platzt, hat im Augenblick wenig Zeit für die Aufarbeitung von kulturellen Brüchen. Zumal die Geschichte trotz der materiellen und intellektuellen Verwüstungen durch die Kulturrevolution in China nach wie vor als ein Kontinuum begriffen wird, wie Lackner erläuterte.
Das im Fernsehen geprägte, massenkompatible Geschichts-Entertainment steht unter staatlicher Kontrolle. Da hat sich wenig geändert, trotz Reformen und vorsichtiger Öffnung in den letzten beiden Jahrzehnten.
Jüngeren, kritischen Künstlern ist der Staat in kulturellen Dingen daher immer noch höchst suspekt:
Jin Xing: "Die Politik hat die kulturelle Erinnerung, die Kunst schon immer als ein Mittel zur Propaganda benutzt. Die Regierungen hatten Angst vor einer freien Kunst. Aber das ändert sich, die Situation entspannt sich. Es gibt die Kunstbiennale in Kanton oder die Biennale in Shanghai. Und ich habe ja gerade auch mein 'International Shanghai Dance Festival' eröffnen dürfen. Früher wäre es unmöglich gewesen, dass eine Privatperson so etwas organisiert. "
Jin Xing ist eine Ausnahmeerscheinung unter Chinas Künstlern. Die Tänzerin wuchs als Mann auf und ist die erste "offizielle" Transsexuelle des Landes. Die international gefeierte Choreografin ist das kulturelle Aushängeschild Chinas. In der Business- und Fashion-Metropole Shanghai, wo sie lebt, ist sie eine Art Popstar.
Jin Xing bedauert, dass viele ihrer Landsleute die "Kultur" kaum von Wirtschaft und Lifestyle trennen. Kunst muss etwas einbringen, und manche hätten sich darüber lustig gemacht, dass sie ihr eigenes Geld in so etwas Sinnloses wie ein Tanz-Festival steckt, statt es an die Börse zu tragen.
"Ich traue der Öffentlichkeit in gewisser Weise zu, dass sie sich mehr und mehr für Kunst interessiert. Aber wir haben andererseits eine extreme wirtschaftliche Entwicklung in China. Ich bin oft ganz wütend und sage der Presse: Natürlich brauchen wir Mode und Entertainment. Aber das darf nicht alles überdecken. Ihr dürft nicht alles zusammen mischen. Sonst vergessen wir das, was die eigentliche Identität einer Kultur ausmacht: die Kunst und die künstlerische Kreativität."
Paradoxerweise sehen manche Chinesen aber gerade in der Kommerzialisierung eine Chance für staatsferne kulturelle Selbstvergewisserung. Ein Künstler, der viel Geld mit seiner Kunst verdient, ist unabhängig und frei, meint der Ästhetikprofessor Zhu Qingsheng aus Peking:
"China entwickelt sich zur Marktwirtschaft. Man mag das Geld sehr gerne. Das Geld ist eine Möglichkeit, die Macht - Powers - zu zerstören - und eine eigene Freiheit zu haben."
Freiheit, sich mit den Traditionen zu beschäftigen und mit den Brüchen der Kulturrevolution - oder es ganz bewusst sein zu lassen. Die Tänzerin Jin Xing hat sich für eine ganz persönliche Form der Erinnerung entscheiden: Soeben hat sie ihre Autobiografie vorgelegt - im Alter von 39 Jahren. Darin beschreibt sie ihre Verwandlung vom kleinen bühnenbegeisterten Jungen in eine Frau durch Operation - lange Zeit war so etwas in China undenkbar. An Jin Xings Leben, an ihrer Karriere als Künstlerin lässt sich der Wandel der kulturellen Vorstellungen in ihrer Generation exemplarisch ablesen.