"Kulturelle Vielfalt schützen und fördern"

12.05.2005
Der Vize-Präsident von ARTE, Gottfried Langenstein, hat die Bedeutung einer europäischen Verfassung für die kulturelle Identität Europas hervorgehoben. Die Verfassung gebe erstmals einen Werterahmen, in dem Europa gedacht werde, sagte Langenstein. Sie sei wichtig, damit die einzigartige kulturelle Vielfalt des Kontinents nicht unter einem rein ökonomischen Denken untergehe, sondern geschützt und gefördert werden könne.
Wuttke: Erst spricht Gerhard Schröder, dann wird im Bundestag debattiert und am Ende abgestimmt über die EU-Verfassung - sie haben es in den Nachrichten gehört. Worüber heute in Deutschland das Parlament entscheidet, darüber stimmen die Franzosen Ende des Monats ab. Und es scheint ein russisches Roulette zu sein. Werden sie der Europäischen Verfassung ihre Zustimmung geben oder nicht? Und was dann? Am Telefon ist jetzt Gottfried Langenstein, der Vize-Präsident von ARTE. Schönen guten Morgen.

Langenstein: Guten Morgen.

Wuttke: Eine Volksabstimmung in Frankreich, in Deutschland heute die Ratifizierung im Parlament. Was bedeutet dieser diametral entgegengesetzte Umgang für die Berichterstattung bei ARTE rund um die EU-Verfassung?

Langenstein: Wir haben natürlich in Frankreich eine wesentlich lebendigere Diskussion als in Deutschland. Das Referendum hat dazu geführt, dass man sich mit den Sorgen der Bevölkerung, was die EU-Konstitution angeht, viel ernsthafter beschäftigt, als in Deutschland und auch viel weitgehender. Und es gibt richtige publizistische Aktivitäten auf beiden Seiten, interessanterweise nicht nach politischen Parteien gegliedert, sondern es geht quer durch die politischen Parteien. Wir haben in Frankreich sowohl bei den Sozialisten wie auf der konservativen Seite Befürworter und Gegner, die sich sehr prononciert äußern und eine sehr starke Debatte angestoßen haben.

Wuttke: Das heißt in Frankreich, sagen Sie, beschäftigt man sich sehr detailliert mit der EU-Verfassung. Kennen die Franzosen das Werk besser als die Deutschen?

Langenstein: Es ging soweit, dass Chirac sich einer ganzen Gruppe von Jugendlichen in einer öffentlichen Debatte gestellt hat, die im Übrigen sehr gut informiert waren über die Verfassung und die dann detailliert die Politik befragt haben, was sie mit den einzelnen Verfassungsartikeln wollen. Das war schon eine interessante Runde. So etwas haben wir in der Form in Deutschland nicht gehabt und haben es auch nicht. Es gibt in Frankreich sicher auch unterschwellige, noch unter der Verfassungsdebatte auch eine weitere Sorge: Das ist die EU-Erweiterung. Also die jetzt beschlossene Erweiterung mit Bulgarien und Rumänien und die weitere Erweiterung mit der Türkei spielt bei der ganzen Diskussion um die Konstitution auch eine erhebliche Rolle.

Wuttke: Das heißt, es ist tatsächlich ein europäisches Thema oder ist es vor allem auch ein innenpolitisches Thema? Sie haben ja schon Jacques Chirac genannt.

Langenstein: Ich glaube, es mischen sich zwei Sachen. Also die Ängste, die in Frankreich spürbar sind, das ist einmal die Erfahrung mit dem Euro, dass man weniger Geld in der Tasche hat, die Erfahrung mit Arbeitslosigkeit, die Erfahrung mit Globalisierung. Da mischen sich zwei Dinge. Wäre der Euro 1995 in einem ökonomischen Hoch gekommen, hätten wir sicher alle andere Erfahrungen mit dem Euro gemacht. Der kam natürlich in einer globalen ökonomischen Krise und einem Börsenzusammenbruch. Und das hat natürlich Rückwirkungen - in Frankreich wie in Deutschland - gehabt, die die Leute in den Haushalten spüren und die ist jetzt besagt. Das zweite ist der Effekt der Globalisierung, billige Güter aus Ländern, die wesentlich geringere Arbeitskosten haben, als in Frankreich, davor haben die Franzosen natürlich Angst und das löst die Debatte aus. Man denkt aber, dass sei alles nur von Europa jetzt verursacht und das geht in diese Debatte mit ein.

Wuttke: Zünglein an der Wage wird ja am 29. Mai in Frankreich sein, wie viele Menschen überhaupt über die EU-Verfassung abstimmen. Nun haben ja die Europa-Wahlen in den Jahren immer wieder böse gezeigt, dass das Interesse an Europa nicht sehr groß ist, dass man sich mit Europa wenig identifiziert. Wenn Sie jetzt sagen, die Franzosen reiben sich an der EU-Verfassung, hat das auch die Identifikation gefördert?

Langenstein: Das ist eine spannende Frage, hat es die Identifikation gefördert, zumindest einmal den Umgang damit intensiviert. Ich schätze, dass in Frankreich etwa ein Drittel der Bevölkerung fest auf Nein ist, ein Drittel der Bevölkerung oder etwas mehr fest auf Ja, und dass es ein relativ großes Potenzial an Leuten gibt, die noch nicht endgültig sicher sind, wie sie sich entscheiden wollen. Es war am Anfang so, dass die Ja-Befürworter ein Prä hatten, dann haben lange Zeit die Nein-Befürworter das Prä gehabt, bis zu 56 Prozent, das war ein sehr hoher Wert. Das ist wieder zurückgegangen und jetzt ist man irgendwo zwischen 49 und 50 Prozent bei beiden Seiten. Wie das endgültig ausgeht und zu welcher Identifikation das führt, lässt sich schwer abschätzen. Aber ich bin sicher, dass es für viele, wenn sie sich mit Ja für Europa entscheiden, auch dann eine sehr tiefe Entscheidung ist, weil die Debatte vorher da war.

Wuttke: Nun sagen ja aber auch Kritiker, die EU-Verfassung ist nur gut, um sozusagen den wirtschaftspolitischen Rahmen, ein Korsett dem ganzen zu geben. Aber zum Beispiel die Kultur, die käme darin herzlich wenig vor. Und dabei ist doch gerade die Kultur das, was einen europäischen Geist erzeugen könnte. Also, welchen Stellenwert hat die Kultur in dieser EU-Verfassung?

Langenstein: Ich glaube, man muss aufpassen. Es sieht zwar so aus, aber es ist, glaube ich, genau das Gegenteil, was wir mit der Verfassung kriegen. Wir haben bisher in der Tat in Europa durch alle Abkommen, Maastricht oder Nizza, immer nur ökonomische Regelungen gehabt oder weitgehend ökonomische Regelungen für Europa. Die Verfassung gibt erstmalig einen Werterahmen, in dem Europa gedacht wird. Und das ist sicher ein großer Fortschritt. Natürlich ist der Werterahmen umstritten gewesen. Es gab ja einige, die ausschließlich den christlichen Werterahmen wollten, andere haben gesagt, es muss ein offener Werterahmen sein. Wir sind jetzt sozusagen bei dem Erbe der Kultur, dem Erbe der Religionen und unserem Humanitätsgedanken als Zentrum der Verfassung angekommen. Aber das ist immerhin ein Werterahmen. Und was die Kultur selber angeht, ist die "diversité culturelle" - also die europäische kulturelle Vielfalt - als Wert in der Verfassung mit festgeschrieben, der auch geschützt werden kann und den die einzelnen Länder auch subsidiär, also in ihrer eigenen Hoheit, pflegen und unterstützen dürfen.

Wuttke: Ist das dann Ihrer Meinung nach das, was fehlt, um sich unter den Menschen, unter den Staaten, unter den Nationen verbundener zu fühlen?

Langenstein: Ja, wir müssen in der Tat irgendwelche emotionalen Chiffren auch wieder für Europa finden. Ich glaube, die haben wir langfristig vernachlässigt. Wir haben einfach nicht mehr darüber nachgedacht und das ging mit Europa weiter, wir haben unsere Währungsunion gemacht und wir haben eigentlich darüber versäumt, diese emotionale Bindung für Europa wieder zu schaffen. Wir haben eine wunderbare kulturelle Vielfalt auf diesem Kontinent. Wer durch die Welt reist und wieder zurückkehrt, weiß, was wir damit haben. Und die müssen wir auch irgendwo schützen, und die darf nicht in einem rein ökonomischen Denken untergehen. Dafür tut die Verfassung sicher etwas mit ihren Artikeln.

Wuttke: Wir könnte es visionär aussehen, was man einen europäischen Geist nennen könnte? Wie kann die Kultur tatsächlich verbinden?

Langenstein: Jetzt muss ich natürlich ein Stück stolz auf dieses sein, was wir einmal als kulturelles Erbe haben aber auch das, was wir zusammen generieren. Für die Tatsache, dass wir da in einem Raum mit vielen Sprachen leben, mit vielen unterschiedlichen Künstlerfarben leben, mit einer wirklich sehr weit hoch stehenden Bildung und mit Opernhäusern, die es in dieser Dichte weltweit nirgendwo gibt, mit Schauspielhäusern, die es in dieser Dichte nirgendwo weltweit gibt, mit Galerien und Museen, die es in dieser Dichte nirgendwo weltweit gibt, dass wir darauf stolz sein können und damit etwas anfangen. Wir müssen natürlich auch Projekte finden, wo wir Europäer auch ökonomisch aufgrund unserer Ingeniosität und unseres Erfindungsgeistes weltweit dann führend bleiben. Der Airbus ist ein solches Beispiel. Und wir müssen versuchen, weitere Dinge auch in der Form gemeinschaftlich zu tun.

Wuttke: Klingt aber auch ein bisschen so, als bräuchte die Kultur gar keine Verfassung?

Langenstein: Doch die braucht die - unbedingt. Weil sie ein Problem haben, sie werden die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Kulturinstitutionen nie in gleichem Maße haben, wie beispielsweise die Amerikaner mit ihren Hollywood-Studios. Wir haben einen durch Sprachen sehr weit auf gespaltenen Markt. Produzenten aus diesen Märkten werden nie mit einem Hollywood-Produzenten wettbewerbsfähig sein, wenn man nicht auch ein Stück weit diese Kultur des europäischen Films und der anderen europäischen kulturellen Einrichtungen schützt.

Wuttke: Welche Erfahrungen haben Sie denn bei ARTE gemacht, was die Kulturpolitik, speziell die Medienpolitik anbelangt?

Langenstein: Gut, wir erleben natürlich alle die Versuche der USA, die Frage des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in die GATT-Verhandlungen einzubringen und zu sagen, Kulturunterstützung in Europa ist Wettbewerbsverzerrung. Das erleben wir alle. Da müssen wir ein Stück aufpassen, weil die Amerikaner selber sehr fündig sind. Die haben ihren eigenen Markt geschützt. Die sagen, ein Ausländer darf sich maximal mit 20 Prozent an ihren medialen Einrichtungen beteiligen und an ihren Studios, alles andere muss amerikanisch bleiben. Wir Europäer haben solche Schutzwälle nicht. Bei uns kann jeder jede kulturelle Einrichtung und auch jeden Fernsehsender kaufen und deswegen müssen wir andere Funktionen und andere Formen haben, wie wir unseren Kulturrahmen und unsere Medien schützen.

Wuttke: Wie?

Langenstein: In dem wir beispielsweise öffentliche Unterstützung weiterhin für Museen, für Theater, für Fernsehanstalten verteidigen und uns dieses nicht nehmen lassen und als Europäer auch behalten und auch unsere kulturelle Diversität auch weiter fördern dürfen.

Wuttke: Wird denn ARTE inzwischen eigentlich als ein über-, ein supranationales Programm wahrgenommen oder eben immer noch als eine deutsch-französische Kooperation? Ist ARTE ein weites Feld, ein langer Weg?

Langenstein: Es ist beides. Es ist sicher im Kern aus der deutsch-französischen Kooperation entstanden und auch aus der Idee von Mitterand und Helmut Kohl - interessanterweise einem Sozialisten und einem Konservativen - die beide aber Familienangehörige in Badin verloren hatte, sich eine gemeinsame Stimme zu geben, Deutschland und Frankreich, um sozusagen diesen Konflikt zwischen den beiden Ländern nicht mehr entstehen zu lassen. Aber es hat heute eine ganz weite europäische Funktion. Wir arbeiten mit vielen anderen europäischen Rundfunkanstalten zusammen, mit Polen, mit Finnen, mit Spaniern, mit Italienern. Und wir machen gemeinschaftliche Projekte, auch für den Sender. Und es sind heute schon fast ein Drittel der Programme, die wir bei ARTE senden, nicht deutschen oder französischen Ursprungs, sondern europäischen.

Wuttke: Was, wenn die Franzosen die EU-Verfassung ablehnen?

Langenstein: Dann wird es eine Erschütterung geben und dann müssen wir überlegen, wie wir trotzdem mit Europa weitermachen. Und ich glaube, man darf dann die Flinte nicht ins Korn werfen. Erstens hat man die anderen Verträge, auf denen heute Europa beruht, weiterhin. Also, es gibt weiterhin eine Rechtsgrundlage. Europa verschwindet deswegen nicht. Aber man wird dann versuchen müssen, in Europa eine Debatte zu führen, die dann mittelfristig doch wieder zu einer Verfassung führen kann. Wir brauchen eine Verfassung und eine Verfassung, die nicht nur auf ökonomischen Füßen steht, sondern eben auch auf einem Wertezusammenhang. Das ist für Europa schon entscheidend.

Wuttke: Vielen Dank, Gottfried Langenstein, der Vize-Präsident von ARTE.