Kulturelle Gedächtnisorte

Von Tilman Krause |
Nietzsche und Novalis haben noch mal Glück gehabt. Oder besser: Wir haben mit Nietzsche und Novalis Glück gehabt. In Röcken bei Leipzig konnte das Geburtshaus des großen Philosophen, in Weißenfels an der Saale das des großen Dichters gerettet werden. In beiden Fällen waren es kleine, arme Städte in strukturschwachen Regionen, die die kulturell bedeutsamen Stätten beseitigen wollten. Im Namen der heute Heiligen Dreifaltigkeit von Modernisierung, Rationalisierung, Effizienz.
Was sollen die alten Gemäuer, mit denen keiner etwas anfangen kann? So fragten in beiden Fällen die Stadtverordneten und machten wirtschaftliche Interessen geltend. Und so werden sie in anderen Fällen wieder fragen.

Gedächtnisorte – wie der Ausdruck der Historiker dafür lautet – sind in Deutschland ganz besonders stark gefährdet. Denn deutsche Gedächtnisorte liegen nur zu oft in der Provinz. Die Sache wäre ja viel einfacher, wenn alle Zeugnisse unserer großen kulturellen Vergangenheit in Berlin versammelt wären, wo Kunst und Kultur ohnehin einen hohen Stellenwert besitzen, wo sie zum Prestige der Stadt gehören, mit dem man vor Touristen punkten kann. Doch unsere dezentrale, föderale Geschichte bringt es nun einmal mit sich, dass es gerade die Winkel im Verborgenen sind, aus denen die großen Töchter und Söhne dieses Landes stammen und in denen sie zu einem nicht geringen Teil auch ihr weiteres Leben gefristet haben.

Goethe im Duodezfürstentum Weimar, Schiller aus der Kleinstadt Marbach am Neckar, Kant, der zeitlebens sein abgelegenes Königsberg nicht verlässt – das beschreibt die deutsche Lage. Und es ließen sich noch weit marginalere Orte finden. Wer weiß, was alles in den letzten Jahren zerstört oder doch vernachlässigt worden ist, nur weil die Öffentlichkeit gar nicht informiert wird, wenn in irgendwelchen Krähenwinkeln Gedächtnisorte dem Rotstift zum Opfer fallen sollen.

Im Fall des Nietzsche-Ortes Röcken, im Fall des Novalis-Ortes Weißenfels konnte die Öffentlichkeit gerade noch mobilisiert und der Abriss verhindert werden. Aber wer sagt uns, dass, um nur ein Beispiel zu geben, die Kunde über die Grenzen Brandenburgs hinausgelangen würde, wenn plötzlich in Penzlin am Tollensee die Erinnerung an den großen Homer-Übersetzer und Verfasser der "Luise" - eine der berühmtesten Vers-Dichtungen des 18. Jahrhunderts - wenn also plötzlich das alte Schulhaus zur Disposition stünde, in dem Heinrich Voß einst die alten Sprachen lernte? Das Wohnhaus der Familie fiel ja bereits einem Supermarkt zum Opfer.

Was daher an der Zeit wäre, ist eine grundsätzliche Diskussion über den Stellenwert, den wir kulturellen Gedächtnisorten einräumen wollen. Soll wirtschaftlicher Nutzen oder soll geistiges Erbe Priorität besitzen? Dazu müsste vor allem Folgendes bedacht werden: Wirtschaftliche Notwendigkeiten verändern sich schnell. Was heute boomt, kann morgen schon ausgedient haben. Wer wirtschaftlich denkt, muß flexibel sein, kann heute hier ein Werk schließen, dafür dort morgen schon ein neues aufbauen. Im Hinblick auf Kultur gelten andere Muster. Im Hinblick auf Kultur ist lange Dauer angesagt. Was einmal zerstört ist, kommt nicht wieder.

Was gäben wir heute dafür, wenn beispielsweise jene Welt, die der wichtigste deutsche Erzähler des 19. Jahrhunderts, wenn mithin die Welt, die Theodor Fontane beschrieben hat, in Berlin noch sichtbar wäre. Aber nicht nur seine letzte, jahrzehntelange Wohnung in der Potsdamer Straße 134c ist der aberwitzigen Stadtplanung nach 1945 im Allgemeinen, und der des so genannten Kulturforums mit der Verschiebung der alten Potsdamer Straße im Besonderen, zum Opfer gefallen. Auch die Schauplätze seiner Romane sind mit einer einzigen Ausnahme – dem Haus der verarmten militäradeligen Familie Poggenpuhl im gleichnamigen Roman, Ecke Kulmer- und Großgörschenstraße gegenüber dem Matthäikirchhof in Schöneberg – vollständig aus dem Berliner Stadtbild verschwunden.

Fontane galt nach 1945 nicht viel. Man hielt ihn bis weit in die siebziger Jahre hinein für einen unbedeutenden, weil wenig tiefen, will sagen kaum philosophisch oder politisch angehauchten Autor. Als sich der Paradigmenwechsel dann vollzog und urbane Großstadtliteratur ohne utopischen Überschuß wieder geschätzt wurde, war es zu spät – und alles, was an Fontane erinnerte, zerstört.

Solch eine Renaissance, wie sie Fontane zuteilwurde, ist jedoch typisch für historische Erinnerungen. Jede Epoche bildet sich den kulturellen Kanon neu. Da können plötzlich Künstler und Intellektuelle wieder interessant werden, die Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte lang kaum beachtet wurden. Deshalb ist es wichtig, dass das gesamte kulturelle Erbe stets verfügbar bleibt. Schützen wir, was wir noch haben. Gemessen an all dem, was die großen Kriege zerstörten, ist es ohnedies nur noch ein Bruchteil dessen, was mal war. Schaffen wir ein Bewusstsein für die Bedeutung kultureller Gedächtnisorte. Wenn wir wissen wollen, wer wir sind und was wir waren, müssen wir uns das Pfarrhaus anschauen können, in dem ein Friedrich Nietzsche zur Welt kam. Auch wenn es nur das Pfarrhaus von Röcken ist – es steht stellvertretend für unsere gesamte Kultur, die ohne die Anbindung an Religion und Seelsorge nun einmal nicht verstanden werden kann.


Tilman Krause, 1959 in Kiel geboren, Studium der Germanistik, Geschichte und Romanistik in Tübingen. 1980/81 erster von vielen Frankreich-Aufenthalten, beginnend mit einer Stelle als Deutschlehrer am Pariser Lycée Henri IV. 1981 Fortsetzung des Studiums an der Berliner FU. Dortselbst 1991 Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit über den Publizisten Friedrich Sieburg, den ersten "Literaturpapst" der Bundesrepublik. Seitdem diverse Lehraufträge an der FU, der Humboldt-Universität, an der Universität Hildesheim und am Leipziger Literatur-Institut. Sein journalistischer Werdegang führte Tilman Krause über die FAZ (1990-1994) und den Tagesspiegel (1994-1998) zu seinem jetzigen Posten als leitendem Literatur-Redakteur bei der WELT.