Kulturelle Brücke über den Bosporus

Von Stefan Keim |
Die Türkei gehöre einem ganz anderen Kulturkreis an, lautet eins der häufigsten Argumente gegen den Beitritt dieses Landes zur EU. Die Gegenposition vertritt seit 18 Jahren Roberto Ciulli mit seinem Theater an der Ruhr. Seit 1987 arbeitet das Mühlheimer Ensemble mit Bühnen in Istanbul zusammen. Nun war das Theater erneut in der Türkei.
Ciulli: "Wenn Sizilien gehört zu Europa, dann gehört die Türkei bestimmt auch zu Europa."

Roberto Ciulli argumentiert leidenschaftlich. Die Hände fliegen durch die Luft, obwohl er seit 1987 im Kern dasselbe sagt: Die Basis der europäischen Kultur ist nicht nur christlich, sondern auch arabisch. Immer wieder stößt er bei seinen Recherchen und Inszenierungen auf diesen Punkt.

Die internationalen Kontakte des Theaters an der Ruhr sind immer intensiver geworden. Sei seiner Gründung vor 25 Jahren geht es Ciulli, dem Dramaturgen Helmut Schäfer und ihrem Ensemble nicht nur um schöne Theaterabende. Sondern um einen Austausch und um Auseinandersetzungen mit Menschen, die andere Sprachen sprechen, verschiedene kulturelle und religiöse Prägungen erlebt haben.

Schäfer: "Alle unsere Arbeiten, die wir machen seit so vielen Jahren, sind Teil eines größeren Themas oder eines größeren Reflexionszusammenhangs."

Helmut Schäfer organisiert neben der normalen Theaterarbeit politische Salons, Lesungen, Diskussionsforen. Nicht um das, was auf der Bühne zu sehen ist, zu erklären, sondern um die Gedanken weiterzuführen auf der Ebene des aktuellen gesellschaftlichen Diskurses.

Im Mülheimer Theater an der Ruhr waren Theatermacher aus Iran und Irak mit ihren Aufführungen zu Gast, als diese Staaten fast überall zu Feinden der westlichen Demokratie erklärt wurden. Und mit der Türkei verbindet Ciulli und Schäfer eine besonders intensive Geschichte. Fünf Mal waren die Mülheimer schon in Ankara und Istanbul, noch häufiger gastierten türkische Bühnen auf Einladung des Theaters an der Ruhr in Deutschland. Seit diesem Jahr gibt es einen offiziellen Kooperationsvertrag, ein Versuch, den Austausch auf ein festes Fundament zu stellen. Natürlich betrachten die Theatermacher die Debatte um den EU-Beitritt der Türkei besonders kritisch.

Schäfer: "Ich habe den Eindruck, dass (…) die, die den Beitritt zu verhindern suchen, auch kein Interesse haben, die Migranten in Europa zu integrieren, dass das Motiv zu sagen, wir sind kulturell so geschieden auch vermöge der Religionen, auch ein innereuropäisches Argument ist und es sich weder um die faktische Integration der Türkei handelt als vielmehr um die faktische Integration der Migranten in Europa."

Die Unruhen in Frankreich, sagt Helmut Schäfer, werden nun als Argument für eine Abgrenzung gebraucht. Dabei werde klar, dass die Verweise auf kulturelle Unterschiede nur vorgeschoben sind. In Wahrheit, so der Dramaturg, gehe es um ganz etwas anderes.

Schäfer: "Die marodierenden Horden in den Banlieus von Frankreich werden ja auch als kulturell Geschiedene betrachtet, sind immer von den Franzosen so betrachtet worden. Jetzt werden sofort die Ängste erweckt, hier könne das bald auch so sein. Handeln tut es sich letztlich um soziale Fragen."

Ciulli: "Der Gastarbeiter, der Italiener, der her gekommen ist, hat verdient sein Geld. Da haben wir überhaupt kein Problem, der Jugoslawe, der Portugiese, der Spanier. Da war der Plan, ja, natürlich, die helfen uns und wir bezahlen den. Das ging gut. Da war niemand am Rand, marginalisiert. Das Problem, das wir heute haben, ist ein soziales Problem. Aber das soziale Problem betrifft die Deutschen wie die Ausländer."

Schäfer: "Da nistet eine enorme Ignoranz in dem inneuropäischen Verhältnis. Wir haben es ja heute zu tun mit einem europäischen Islam. Der ist nicht identisch mit dem Islam in anderen Teilen der Welt. Und wir müssen einfach auch realisieren, dass wir uns mit diesem europäischen Islam sehr wohl auch intellektuell zu beschäftigen haben."

Da geht es nicht um Äußerlichkeiten wie Kopftücher, sondern um innere Einstellungen. Überhaupt, sagt Roberto Ciulli, vermitteln unsere Medien ein völlig falsches Bild von den Menschen in der Türkei. Die Leute, die er kennen gelernt hat, interessieren sich nicht für religiöse Fanatiker, gehen sogar selten in Moscheen und viel lieber in Cafés. Ihr Diskussionsforum ist das Internet. Die türkische Gesellschaft wird von jungen Leuten dominiert. Und das, sagt Helmut Schäfer, zeigt sich auch im Publikum, das sich die Gastspiele des Theaters an der Ruhr anschaut.

Schäfer: "Ich habe den Eindruck, dass immer mehr die Jugend in das Theater geht. Wenn ich mich erinnere an '87, da war das eigentlich ein konservatives Publikum, auf das wir dort trafen. Und eines, das gelernt hatte, selbstverständlich ins Theater zu gehen. Heute beziehungsweise in der Woche, da wir da gespielt haben, zehn Tage, war es so, dass ein extrem junges Publikum zugegen war, keinesfalls diese Honoratioren sichtbar waren. Viele, die ich kenne, habe ich gar nicht gesehen. Aber ich habe unendlich viele Jugendliche, junge Leute, gesehen. Und insofern glaube ich, dass sich da etwas verändert hat, dass die Bedeutung des Theaters als auch ein sozialer Faktor, ein Faktor der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, zugenommen hat."

Roberto Ciullis Inszenierungen sind nicht leicht konsumierbar. Er entwickelt Bilderwelten, die oft nicht eindeutig dechiffrierbar sind, die den Zuschauer heraus fordern, seine eigene Deutung zu entwickeln. Zum Beispiel "Dantons Tod": Ciulli hat Georg Büchners Stück erst mit seinem Ensemble in Mülheim und dann noch mal mit türkischen Schauspielern in Istanbul inszeniert.

Nach der Pause sitzen Danton und seine Getreuen in einem kleinen Boot. Robespierre, der nicht mehr zwischen Tugend und Terror unterscheiden kann, ist der Fährmann. Das Bild zitiert antike Mythen. Charon steuert die verlorenen Seelen über den Styx in die Unterwelt. Sonst erzählt der Regisseur das Revolutionsdrama auf einem Rummelplatz. Am Schluss wird der Wagen der Schausteller zur Tötungsmaschine. Immer wieder saust die Guillotine hinab. Man hört nur das Geräusch, die Bilder des Grauens entstehen im Kopf.

Das wäre ein starker, bedrückender Schluss. Aber Ciulli gibt der Aufführung noch eine Wende. Danton und Robespierre treten noch einmal auf, sitzen auf dem Kirmeswagen und bitten Gott um Makkaroni. Ein Zitat aus Büchners Komödie "Leonce und Lena", das hier als Hoffnungsschimmer fungiert. Die Menschheit überlebt auch die schlimmsten Blutbläder.


Schäfer: "Das ist wahrscheinlich der größte Hebel unseres Theaters in Ländern, wo die Sprache nicht selbstverständlich verstanden und gesprochen wird. Diese Bilder, weil über diese Bilder eine sehr freie Lesbarkeit für den einzelnen Zuschauer entsteht, wo er seine eigene Inszenierung am Abend verfertigt."

Schäfer: "Sprache am Theater ist ein sinnliches Element und wahrlich kein Erklärungselement."

Die Deutschlandtournee dieser Inszenierung war ein großer Erfolg. Nicht nur weil einige der bedeutendsten Bühnen ausverkauft waren.

Ciulli: "Ein Dantons Tod in türkischer Sprache, und wir schaffen das ins Berliner Ensemble ins Thalia-Theater Hamburg, das ist für die Türken der absolute Gipfel. (…) Den Abend, wer ist da im Theater? Das sind Deutsche und Türken. Da ist der Effekt, diese Möglichkeit der Kommunikation."

Oft wird politisch aktiven Künstlern Einseitigkeit vorgeworfen. Roberto Ciulli jedoch lässt sich von positiven Erlebnissen nicht blenden. Folter und andere Menschenrechtsverletzungen hat er mit beklemmenden Bildern in Sartres "Tote ohne Begräbnis" auf die Bühne gebracht und in der Türkei gezeigt. Auch heute sieht der Regisseur, dass die hierarchische Gesellschaftsordnung in vielen Bereichen noch nicht reif ist für Europa. Das fängt schon im Theater an.

Ciulli: "Es ist unbedingt ein Skandal, dass immer noch (…) der Kultusminister der Türkei der Besitzer der Theater ist und der Intendant nichts zu sagen hat. (…) Das geht nicht. Und dass die Intendanten überhaupt keinen Vertrag haben. Die werden ernannt. Und seit den achtziger Jahren ich bin beteiligt (…) an Diskussionen, wie demokratisiert und liberalisiert das Theater, und es passiert nichts. Weil die Interessen zu groß sind und die Politik die Hand auf dem Theater hat.

Jeder neue Kultusminister benennt dann seine Leute. Das heißt, ich habe überlebt seit '87 12 Generalintendanten von Staatstheater und ungefähr 13 Kulturminister. Und trotzdem geht die Arbeit weiter. Nur wenn man die Frage Europa stellt (…), muss zuerst an der Spitze der Theater der Intendant einen Vertrag auf Zeit haben. So wie es sich gehört in europäischen Ländern, und der muss seine Arbeit frei machen können (…), damit möglich ist, dass in diesem System, das hierarchisch, pyramidonal ist, die Angst und der Druck nach unten ein bisschen ablässt."

Die Zahl der Europaskeptiker in der Türkei wächst. Genaue Absprachen, wie die Kooperation weiter gehen soll, gibt es noch nicht. Die Lage wird immer schwieriger, sagt Roberto Ciulli. Aber das hat ihn und den Dramaturgen Helmut Schäfer noch nie abgehalten, beharrlich einen Schritt nach dem anderen zu tun. Theater kann vielleicht nicht die Welt verändern, aber den einzelnen Menschen.

Schäfer: "Natürlich sehen wir die Chance, und wir sind davon überzeugt, dass die kulturellen Instrumente –in unserem Fall das Theater – wirklich in der Lage ist, Kohärenzen zu bilden. Man hat sehr viel eher den Zugang zu Migranten, wenn man auch deren Heimatkultur kennt, zumindest Teile davon, sowohl Alltagskultur als auch von der Tradition der Kultur her. Und das Theater ist ein wunderbarer Vermittler solcher Kenntnisse, weil es über einen ästhetischen Bildungsprozess verläuft, der nicht nur rational gesteuert ist und bietet somit diese Chance, eine andere Art von Verständnis herzustellen. Die Überzeugung sagt noch nicht aus, wie lange solche Prozesse dauern. Dass wir uns da innerhalb eines Prozesses befinden, ist selbstverständlich."