Kulturbetrieb und Inklusion

Tanzen mit Krücken, Spielen mit Down-Syndrom

Eine RambaZamba-Aufführung im Jahr 2014
Eine RambaZamba-Aufführung im Jahr 2014 © imago/Sämmer
Von Elisabeth Nehring |
Lange wurden Menschen mit Behinderung ausgeschlossen und stigmatisiert - auch im kulturellen Bereich. Und bis heute wird ihr Bühnenschaffen vor allem als soziale oder therapeutische Arbeit eingestuft. Das künstlerische Schaffen wird dabei oft verkannt.
Es sind nur sieben Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne, aber sie verursachen einen Wirbel, als wären sie eine große Gruppe. Gemeinsam streben sie vorwärts, bewegen sich aber zugleich hoch, runter und manchmal auch wieder zurück. Sie springen, drehen, greifen mit den Armen nach allen Seiten, bleiben eng beieinander und scheinen doch durch Fliehkräfte immer wieder auseinanderzudriften. Ab und zu sieht man in dem Gewoge eine Krücke durch die Luft wirbeln oder die Bahn eines anderen kreuzen.
Der Schweizer Choreograf Thomas Hauert ließ sich für seine Tanzproduktion "Notturino" von dem Film "Toscas Kiss" inspirieren, in dem ehemalige Opernsänger ihren Lebensabend gemeinsam in einem Seniorenheim verbringen. Getanzt wird das Stück von der britischen Candoco Dance Company, einem der bekanntesten inklusiven Tanzensembles Europas. Behinderte und nicht behinderte Tänzer geben mit der starken physischen Bewegung, die sie auf der Bühne erzeugen, den inneren, emotionalen Bewegungen der Filmprotagonisten Ausdruck.
Eine der Tänzerinnen ist Tanja Erhardt. Ihre Faszination für den Tanz hat die lebhafte Österreicherin erst vor einigen Jahren entdeckt.
"Im Tanz war es zum ersten Mal so ein Ausdruck. Und deshalb auch Tanz, deshalb auch Tänzerin. Weil es für mich eine Sprache ist und ich etwas ausdrücken kann, wo ich anderweitig mich schwer tue."
Tanja Erhardt lebt seit ihrer Kindheit mit einem Bein. Ganz bewusst hat die junge Frau mit dem durchtrainierten Körper und dem strahlenden Lachen nach Tanzensembles gesucht, in denen Tänzer mit und ohne Behinderung zusammenarbeiten. Die 1991 in London gegründete Candoco Dance Company gilt als "Mutter" aller inklusiven Tanzcompanien; künstlerische Kreationen entstehen dort durch die Kooperation behinderter und nicht behinderter Tänzer mit wechselnden Choreografen. Das Ziel: keine pädagogische, sondern künstlerische Arbeit auf höchstem Niveau. Rollstühle, Gehhilfen oder Prothesen gehören in jeder Inszenierung zur Ausstattung und werden darüber hinaus häufig als Mittel zur künstlerischen Bewegungsforschung eingesetzt.

Deutschland hängt bei der Inklusion hinterher

"Das ist auch interessant im Hinblick auf den Tanz, weil ich habe dann angefangen, mit meinem Rollstuhl mehr zu tanzen und habe dann plötzlich drei verschiedene Körper zur Verfügung, mit denen ich mich bewegen und ausdrücken kann."
Während es in Großbritannien eine breite inklusive Tanz-, Theater- und Performanceszene mit verschiedenen Festivals und vor allem einer nennenswerten Förderung gibt, wird in Deutschland das Bühnenschaffen von Menschen mit Behinderungen häufig noch immer als soziale oder therapeutische Arbeit eingestuft. Eine Ausnahme ist das Berliner Ensemble Ramba Zamba, dessen professionelle Theaterarbeit seit mehr als 20 Jahren über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt ist. Hier stehen Schauspieler mit und ohne Trisomie 21 auf der Bühne. Einer davon ist Jonas Sippel.
"Warum ich Schauspieler geworden bin, gibt es viele Gründe. Es liegt wohl daran, dass ich das miterleben will, dass Kultur und Geschichte aufeinander trifft mit dem Theater und das macht es zu meinem Hauptberuf. Ich liebe Geschichten, seitdem ich klein bin und dadurch bin ich wohl auch Schauspieler geworden. Gisela Höhne kam zu mir und hat mich einfach beobachtet und offenbar hat sie gesagt, an dir ist ein Schauspieler verloren gegangen, du kannst kommen. Und dann habe ich die Initiative ergriffen und auch genutzt."
Besonders klassische und antike Stoffe haben es dem 23-jährigen Jonas Sippel angetan. Neben vielen Eigenproduktionen hat Gisela Höhne zusammen mit ihren Schauspielern Stücke von Shakespeare, Schiller und Sophokles erarbeitet. Die zarte und zugleich sehr energische Regisseurin hat das RambaZamba kurz nach der Wende zusammen mit ihrem damaligen Partner Klaus Erfort gegründet und bis 2017 geleitet. Auch die Söhne waren und sind involviert: Der 42-jährige Moritz steht als Schauspieler und Sänger auf der Bühne, sein Bruder Jacob wirkt als Regisseur, Komponist, Musiker und seit 2017 als künstlerischer Leiter. Gisela Höhne beschreibt die besonderen Qualitäten der Schauspieler des RambaZamba.
"Was sie immer mitbringen ist die enorme Fähigkeit, präsent zu sein. Also die Fähigkeit, alle Konzentration, alle Sinne nicht zu zerstreuen, sondern zu bündeln und diesen Moment zu leben und uns vorzuleben, ist fast einmalig."
Dieser Überfall passiert in einem Hotel! Die Hotelgäste werden von einer Gruppe von Menschen mit Down-Syndrom gefangen genommen. Ihre Forderungen: Die Zwei als herrschendes System hat ausgedient, es lebe die Drei!
Gisela Höhne, Leiterin und Regisseurin des Theater RambaZamba in Berlin; Aufnahme vom Juni 2006
Gisela Höhne, Leiterin und Regisseurin des Theater RambaZamba in Berlin; Aufnahme vom Juni 2006© imago / Rolf Zöllner

Mit einem zusätzlichen Chromosom klar im Vorteil

Nieder mit der Vorherrschaft des Dualismus, es lebe die heilige Dreifaltigkeit. Was das bedeutet, folgt einer eigenen Logik: menage à trois statt Pärchenclub, aber auch: Wer ein Chromosom mehr besitzt, ist klar im Vorteil. Das Chromosom 21 soll weiterleben! Und deswegen, so der Plan der Hotelbesetzer, sollen die männlichen Hotelgäste allen Frauen mit Trisomie 21 Kinder machen.
In der Revue "Am liebsten zu dritt" lassen Gisela Höhne und die Schauspieler des RambaZamba ihren hinreißend absurden und selbstironischen Phantasien freien Lauf. Karnevaleske Übertreibungen, groteske, aber auch poetische Momente und ausgelassene Tanzeinlagen sind das Markenzeichen des Theaters, das in einem renovierten Backsteingebäude in der Kulturbrauerei in Berlin-Prenzlauer Berg residiert.
1976 in der DDR. Gisela Höhne ist 26 Jahre alt, hat ihr Studium an der Staatlichen Schauspielschule Berlin-Schöneweide beendet und bereits am Deutschen Theater und in Dresden gespielt. Gerade hat die spätere RambaZamba-Gründerin ihr Engagement am Theater in Neustrelitz begonnen, da kommt ihr erstes Kind zur Welt: Moritz. Moritz hat Trisomie 21 und die junge Schauspielerin und Mutter ein Problem.
Gisela Höhne: "Das war schon sehr karg, was man damals als Unterstützung bekommen hat. Nicht aus Bösartigkeit, sondern es war einfach noch kein anderes Weltbild da. Es war auch eine große Hilflosigkeit da, meiner Meinung nach. Und immer auch noch dieser Schleier drüber: man spricht nicht drüber, es ist wie eine Schande. Und dann haben die auch immer gesagt: Seien Sie froh, dass sie einen Mongo haben. Ich meine: Reden die vom Tier oder reden die von meinem Kind? Das war schwierig!"
Für kleine Kinder mit Down-Syndrom gab es in der DDR der siebziger Jahre keinerlei Förderung: Betreuung in einem Heim oder im Familienkreis waren die einzigen Alternativen. Ein aufmerksamer Arzt wies bei einem der wenigen Beratungsgespräche auf beide Möglichkeiten hin, riet der jungen Mutter aber, zugunsten einer besseren Entwicklung ihr Kind zuhause aufwachsen zu lassen. Gisela Höhne wusste, dass sie dafür ihren geliebten Beruf aufgeben musste – und entschied sich für das Zusammenleben mit Moritz.
Gisela Höhne: "Also gerade als Moritz geboren wurde, war es noch eine schwierige Zeit und ich habe auch gesehen, wie eine Frau in einer anderen in den Kinderwagen reingezeigt hat, ja, guck mal, das ist so ein .... Und das hat mich unheimlich verletzt damals, auch so schamlos fand ich das. Und ich kriege ja immer die Wut und habe gedacht: jetzt erst recht. Und da haben wir beschlossen, dass wir ganz offensiv in die Gesellschaft gehen, wir gehen überall hin mit Moritz. Wir zeigen überall, der gehört zu uns, das ist unser Kind und das haben wir auch durchgehalten. Und das war auch toll, wir haben auch nur dann ganz offene Gesichter und Freundlichkeit. Alle liebten den Moritz ganz schnell. Das war eine schöne Erfahrung von der Seite her."

Kreativ ohne zu sprechen

Als Moritz größer wird, geht er, zusammen mit anderen Kindern mit Down-Syndrom, stundenweise in eine Tagesstätte. Dort wird – unfreiwilliger Weise – der erste Stein für die spätere Theaterarbeit gelegt. Die Erzieherinnen haben mit den Kindern ein Weihnachtsmärchen vorbereitet, aber die Aufführung geht vollends daneben: Die Kinder heulen, wollen statt auf die improvisierte Bühne nur auf den Arm der Eltern und müssen von den Erzieherinnen den Text vorgesprochen bekommen.
Gisela Höhne: "Sie wurden nur mit ihrem Defizit vorgestellt – das hat mich so gequält, dass ich beschlossen habe: dann mach ich doch was. Und hab damals einen Zirkus aufgebaut. Bei Moritz war der Punkt, dass der nicht gesprochen hat, mit vier Jahren noch kein einziges Wort gesagt, nicht mal Mama. Aber der hat gespielt. Also woher kommt Kreativität? Aus dem Mangel an einer bestimmten Ausdrucksfähigkeit – oft Sprache, manchmal auch Körper – suchen die sich was anderes. Und das ist das Spannende. Und da können sie eine ganz andere Sprache entwickeln. Das ist eben Kreativität: ich kann etwas überhaupt nicht, aber ich kann es anders."
Etwas anders können – das erkennt die Theaterfrau Gisela Höhne schnell als eigene Qualität. Doch in der öffentlichen Meinung Ost- wie Westdeutschlands wird dieses "es anders können" noch nicht wahrgenommen. Bis in die siebziger Jahre gilt Behinderung grundsätzlich als "funktionales Defizit" des Einzelnen. Das westdeutsche Bundesinnenministerium definiert im Jahr 1958:
"Als behindert gilt ein Mensch, der entweder aufgrund angeborener Missbildung bzw. Beschädigung oder durch Verletzung oder Krankheit (...) eine angemessene Tätigkeit nicht ausüben kann. Er ist mehr oder minder leistungsgestört (lebensuntüchtig)."

Ausgeschlossen und stigmatisiert

Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen werden gesellschaftlich ausgeschlossen und stigmatisiert. Gisela Höhne erinnert sich an ihre Erfahrungen in der DDR der fünfziger Jahre.
"Ich habe das in meiner Kindheit noch erlebt, dass im Nebenhaus ein Mädchen, das war ganz klar – später habe ich das erkannt – ein Mädchen mit Down-Syndrom. Immer durfte die auf den Hof gehen, wenn wir oben gegessen haben. D.h., die wurde versteckt. Und dann wurden wir aber geholt und gezeigt, guck mal, das ist die. Und die kommt dann aber wieder ins Heim. Das war immer noch aus der Euthanasie her diese Schande und das Heimliche."
Zwischen 1940 und 1945 wurden in Deutschland rund 200.000 Euthanasiemorde verübt. Unter dem Vorwand der sogenannten "Rassenhygiene" wurden vor allem geistig behinderte Menschen umgebracht. Das NS-Regime fasste diese Morde unter dem zynischen Begriff "Aktion Gnadentod" zusammen. Der Historiker Götz Aly hat in seinem Buch "Die Belasteten" nachgewiesen, dass Ärzte zur Zeit des Nationalsozialismus einen breiten Ermessensspielraum hatten, ob und wie behinderte Kinder umzubringen seien und dass bei diesen Entscheidungen den Angehörigen eine wichtige Rolle zukam.
"Damals, in Zeiten der Erbhygiene, war der Druck auf die Eltern sehr groß. Es war ein Angebot des Staates: Wir nehmen euch die Behinderten, die Geisteskranken ab. Ihr müsst nicht genau wissen, was da passiert. Wir schicken Euch eine natürliche Todesursache nach Hause. Ihr könnte weggucken."
Der gesellschaftliche Konsens über die Trennung zwischen "lebenswertem", bzw. "lebensunwertem" Leben wurde stillschweigend, aber von breiten Teilen der deutschen Bevölkerung mitgetragen.
Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es, außer für die zahlreichen Kriegsgeschädigten, keinerlei Hilfe und Infrastruktur für Menschen mit Behinderungen. Erst in den fünfziger Jahren gründen Eltern die ersten Selbsthilfevereine. Staatliche Hilfsangebote entwickeln sich in der Bundesrepublik nur langsam – und unter besonderen Voraussetzungen, so Markus Dederich, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Köln.
"Dann ist es wichtig zu sehen, dass in dem Feld der Behindertenhilfe es nur ganz bedingt eine Stunde Null gegeben hat, weil es auch personelle Kontinuitäten gegeben hat. Wie es in den bundesdeutschen Ministerien lauter Nazis gegeben hat, die die bundesdeutsche Nachkriegspolitik gestaltet haben, so weiß man auch, dass auch in der Behindertenhilfe ganz viele Menschen tätig waren, die auch in der Zeit des Nationalsozialismus aktiv gewesen sind."

Der Contergan-Skandal führt zum Bewusstseinswandel

Der gesellschaftliche Umgang mit Behinderung ändert sich erst Anfang der sechziger Jahre durch den sogenannten Contergan-Skandal. Zwischen 1957 und 1961 werden nach der Einnahme des angeblich nicht fruchtschädigenden Schlafmittels Contergan etwa 4000 beeinträchtigte Kinder geboren. Die Medien berichten ausgiebig und ein grundlegender Mentalitätswandel beginnt: Nach und nach wird Behinderung nicht mehr nur als persönliches, von der Biologie abhängiges Schicksal wahrgenommen, sondern als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die Gesellschaft entdeckt ihre Hilfs- und Fürsorgebereitschaft gegenüber Menschen mit Behinderungen.
1964 gründete der Journalist Hans Mohl die Aktion Sorgenkind.
Beim wöchentlich ausgestrahlten Showklassiker "Der Große Preis" mit dem Moderator Wim Toelke und den legendären Loriot-Figuren Wum und Wendelin singen und unterhalten natürlich nicht behinderte Künstler und Show-Stars Millionen Zuschauer zum Wohle der Sorgenkinder der Nation. Mit Kurzfilmen soll über deren Lebensbedingungen aufgeklärt werden; die Erlöse der Lotterien gehen direkt an die Behindertenhilfe. Die Aktion Sorgenkind holt das Thema Behinderung aus der Sphäre der Verdrängung und des Schweigens in die breite, medial gesteuerte Wahrnehmung. Warum sie dennoch zum Feindbild der Behindertenbewegung wurde, die sich zeitgleich in den sechziger Jahre entwickelte, erklärt Markus Dederich.
"Ich glaube, nach dem damals landläufigen Verständnis waren tatsächlich Sorgenkinder die Kinder, die Sorgen bereitet haben. Und die Kinder, die Sorgen bereitet haben, irgendwie auch eine Belastung bedeutet haben und für die man besondere Anstrengung mobilisieren musste. Und deshalb – und das war die Kritik – steckt in diesem Begriff Aktion Sorgenkind – so wohlmeinend karitativ das gewesen ist – in gewissermaßen hochkonzentrierter Form, dieses am Ende doch durch und durch negative Bild von Behinderung, das eben sagt: eine Behinderung kann nichts anderes sein als etwas, das uns Sorgen macht."
An diesem negativen Bild entzündet sich auch die harsche Kritik der Behindertenbewegung der siebziger und achtziger Jahre. Sie fordert: Behinderung soll nicht länger als bloßes körperliches, geistiges oder psychisches Defizit gesehen werden, das es – im besten Fall – zu überwinden, normalisieren oder rehabilitieren gilt. Behinderung, so die sich langsam durchsetzende Auffassung, ist keine rein persönliche Tragik oder ein bloß individuelles Schicksal, sondern vor allem ein soziales Konstrukt. Behinderung als Produkt einer Gesellschaft, die sich auf ein eng gefasstes Bild von Normalität ausrichtet – das kennt auch die Tänzerin Tanja Erhardt aus eigener Erfahrung, wenn sie nicht nur Theater und Bühnen, sondern auch die Städte dieser Welt mit Krücken oder Rollstuhl durchquert.
"Deshalb habe ich mich bewusst für London entschieden, weil da einfach ein Verständnis von Diversität gelebt wird im Alltag, dass das die Norm ist und ich dann nicht mehr mit diesem Blick angeschaut werde, der so wahnsinnig Energie zieht und ich immer so das Gefühl habe, ich muss mich bestätigen. Also dieses: Behinderung: du bist limitiert, du bist armselig, du bist ein Sozialfall, du bist Nichts, du kannst nichts, du bist ausgegrenzt, starkes Mitleid oft. Das sind Stereotype, die gesellschaftlich konstruiert werden, weil bestimmte Systeme dahinterstehen, die das produzieren."

Behinderungen werden auch auf der Bühne thematisiert

Das RambaZamba Theater hat in vielen Inszenierungen negative, aber auch positive Stereotypen von Behinderung thematisiert – immer auf furiose, witzige und sehr ironische Weise. In dem Stück "Der gute Mensch von Downtown" z.B. machen sich zwei Erzengel bei ihrer Mission zur Rettung der Welt auf die Suche nach guten Menschen, sie treffen dabei auf drei freundliche Mädchen mit Down-Syndrom. Die würden auf jeden Fall als "gute Menschen" durchgehen, aber, so fragen sich die beiden Erzengel, zählt dieses "Gut-sein" überhaupt, wo es doch bei "solchen" Menschen quasi ein Geburtsfehler ist?
Regisseurin Gisela Höhne hat die künstlerische Arbeit des RambaZamba Theaters immer auch als politisches Statement begriffen. Sehr genau hat sie die soziale und gesellschaftliche Situation von Menschen mit Behinderungen und deren öffentliche Wahrnehmung über die Jahre beobachtet. So erinnert sie sich an die Wendezeit.
"Dann haben wir festgestellt, dass im künstlerischen Bereich der Unterschied nicht bedeutend war zwischen Ost und West. Auch im Westen gab es keine Kunstateliers für Menschen mit geistiger Behinderung, geschweige denn Theater. Die Einrichtungen waren toller und die durften auch alle zur Schule gehen – das ist der Unterschied. Also dieses in schrecklichen Verhältnissen leben in Heimen, gab es da nicht. Aber die Heime wurden auch an den Rand gebaut, schön in den Wald. Hatten die Kinder es gut – mussten sie niemanden sehen, musste sie auch niemand sehen."
Trotz des öffentlichen Mentalitätswandels und der medialen Präsenz durch die "Aktion Sorgenkind", später etwas weniger verfänglich in "Aktion Mensch" umbenannt, wurde die bundesrepublikanische Behindertenpolitik bis in die neunziger Jahre von Verdrängung und schlechtem Gewissen geprägt. Einen Ausgleich schaffen sollte die Konzentration auf Fürsorge und Pflege für und von Menschen mit Behinderungen. Markus Dederich, Professor für Erziehungswissenschaften, beschreibt die problematische Seite dieser politischen Agenda:
"Weil Fürsorge eben nicht nur bedeutet hat, dass sich Organisationen mehr oder weniger systematisch um bestimmte Belange von Menschen mit Behinderungen gekümmert haben, sondern dass diese Organisationen auch die Tendenz entwickelt haben, sie mit so einer Aura der Negativität zu umgeben, sie zu entmündigen, sie zu infantilisieren, sie klein zu halten, ihnen nichts zuzutrauen. Fürsorge steht für Paternalismus, also ein hohes Maß an gewaltförmiger, unterdrückerischer Fremdbestimmung."

Andere Geschichten über Behinderung erzählen

Nach der Jahrtausendwende entwickeln sich – ausgehend von den USA – die Disability Studies, ein kulturwissenschaftlicher Forschungszweig, der sich mit den sich wandelnden Bildern von Behinderung beschäftigt. Eine der einflussreichsten Denkerinnen in diesem Feld ist Rosemarie Garland Tompson. Sie schreibt Behinderung wird stets als Ausnahme wahrgenommen.
"Die wirkliche Geschichte lehrt aber, dass behinderte Menschen überall in der Kultur zu finden sind. Behinderung im weitesten Sinne ist vielleicht die grundlegendste menschliche Erfahrung; jede Familie ist davon berührt und wenn wir lange genug leben, wird jeder von uns einmal behindert sein."
Den Disability Studies setzt Rosemarie Garland Tompson ein erzieherisches Ziel. Es lautet ganz einfach:
"Andere Geschichten über Behinderung erzählen und damit aus behindert eine annehmbare Identitätskategorie zu machen, in die zu gehören man sich gut vorstellen kann."
Wie die Candoco Dance Company ist auch das Theater RambaZamba ein Ort, an dem solche anderen Geschichten erzählt werden – auf der Bühne, wo die Schauspieler die Stereotypen vom "armen" oder manchmal auch "heldenhaften" Behinderten, der seinem Schicksal trotzt, gerne ironisieren. Und auch jeden Tag bei den Proben, in denen es niemals um therapeutische Arbeit, sondern immer um gutes Theater durch die Entfaltung der Schauspieler und ihrer spezifischen Qualitäten geht.
Gisela Höhne: "Als Theaterfrau hat mich besonders interessiert: Wie spielen sie die Figuren? Und nicht, um sie auszustellen oder aus Voyeurismus, sondern weil ich unglaublich viel erfahren habe, wie man die Dinge auch sehen kann, in welche Tiefe man kommen kann und wie sehr ich auch manchmal draußen stehe vor einer Tür, die sich mir erst öffnet, wenn ich alle Vorurteile loslasse, alle vorgefassten Bilder und Meinungen. Und das finde ich ganz spannend und dazu kommt, dass Menschen mit Beeinträchtigungen bisher so gut wie gar nicht in unseren Theatern vorkommen, dass sie aber begabt sind (...) und darum: sie gehören auf die Bühne. Es ist ihr Platz wie der von jedem anderen Schauspieler."

Gleichbehandlung - nicht nur im Theater

Bis zu der von Gisela Höhne geforderten Gleichbehandlung – nicht nur im Theater, sondern auch in der Gesellschaft – war und ist es noch ein weiter Weg.
Tanja Erhardt: "Deshalb ist es auch so wichtig, dass man daran arbeitet, dass sie in den Medien präsent sind, dass sie die Chance haben, sich selber zu präsentieren, auf Bühnen ihre Arbeit zu zeigen, als Lehrer und Lehrerinnen in Ausbildungsstätten zu unterrichten, dass sie auch in höheren Positionen die Chance haben, sichtbar zu sein."
Tanja Erhardt beim Tanzen zuzuschauen, ist nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein lehrreiches Vergnügen: Ihre Krücken werden der Tänzerin mit dem einen Bein zu Tanz- und Improvisationspartnern: Sie schwingt elegant um sie herum, kann sich mühelos im Flow mit ihnen bewegen, auf virtuose Weise den Raum durchmessen, hoch schaukeln, sanft landen. In ihren Armen steckt eine ungeheure Kraft, die jede Schwungbewegung federleicht aussehen lässt. Und auch deutlich macht: diese Fähigkeiten entspringen ihren ganz besonderen körperlichen Voraussetzungen. Auch darum bezeichnet sich Tanja Erhardt ganz bewusst als "behinderte Tänzerin".
"Behinderung ist eine Identität von mir. Ich trage viele mit mir, ich denke, wir tragen alle viele mit uns und Behinderung ist einfach etwas, was mich prägt, was mich ausmacht. (...) Also wenn ich sage: ich bin behinderte Tänzerin – oft werde ich da so verwirrt angeschaut und gerade um das geht es mir! Es muss erst mal so etwas passieren, damit ein Umdenken stattfinden kann. Und damit die Definition von Behinderung auch umdefiniert werden kann und auch neu entdeckt werden und belegt werden kann. Und das ist mir deswegen auch ganz wichtig, dieses Wort zu verwenden: Behinderung! Und kein anderes Substitut dafür zu verwenden."
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