Kultur in Krisenzeiten

Wie Künstler politische Umbrüche prägen

Türkische Bürger schreien Slogans am ersten Tag des Ramadan - die Gezi-Proteste gegen die türkische Regierung am 09 Juli 2013 in Istanbul.
Gezi-Park: Türkische Bürger protestieren gegen die Regierung - unterstützt von Künstlern © dpa / picture alliance / Georgi Licovski
Wolfgang Schneider im Gespräch mit Christopher Ricke · 13.09.2014
Künstler können in Zeiten des politischen Umbruchs Seismograf und Sprachrohr von Transformationsprozessen werden. Der Kulturpolitikforscher Wolfgang Schneider glaubt, dass ihnen damit eine Schlüsselposition zukomme.
Christopher Ricke: Kunst ist nicht nur etwas für gute Zeiten, für Friedenszeiten. Gerade im Konflikt ist Kultur auch immer Träger des Protestes und auch der Hoffnung. Das sieht man in der Geschichte und das sieht man auch in der jüngsten Vergangenheit, vielleicht sind die Künstler bei den Gezi-Park-Protesten ein Beispiel oder im Arabischen Frühling. Kunst also auch als Hoffnung. Aber natürlich kann man das Argument auch umdrehen: Verlassen Künstler erst einmal eine Konfliktregion, schrumpft diese Hoffnung aufs Pragmatische. In Hildesheim hat der Weltkongress der Kulturpolitikforschung getagt, Gastgeber war Wolfgang Schneider, Universitätsprofessor für Kulturpolitik. Der ist jetzt heute Morgen im Studio, hier bei uns bei "Studio 9", guten Morgen, Professor Schneider!
Wolfgang Schneider: Guten Morgen!
Ricke: Es gibt ja einen Gemeinplatz, der sagt, in jeder Krise steckt eine Chance. Was heißt denn das für Kultur und Künstler in der Krise, in der politischen?
Schneider: Na ja, also, Künstler beziehen sich immer auf die Gesellschaft. Sie sind mitten in der Gesellschaft und sie sind auch mit der Gesellschaft im ständigen Gespräch. Und das macht sie natürlich auch politisch, ohne dass das vielleicht immer einer direkten Agitation oder so was bedarf. Wir stellen fest bei unseren Forschungen, dass Künstler natürlich auch so etwas wie Seismografen von Krisen sein können und andererseits auch Sprachrohr. In der Hildesheimer Konferenz wurde auch von Change Agents gesprochen, also die den Transformationsprozess jeweils mitbegleiten, wir haben auch einen neuen Terminus debattiert, den Artivisten, also der sich aktiv als Aktivist in die Bewegung hineinbegibt, und das mit künstlerischen Mitteln.
Ricke: Sie haben ja den Künstler als Seismografen beschrieben. Ist er Seismograf des Wandels oder eben auch Initiator?
Schneider: Auch da ist, glaube ich, wichtig, dass wir das Ganze sehen. Sie als Journalist beobachten das natürlich jetzt, weil die Krisenherde der Welt Schlagzeilen sind, aber Künstler leben das ganze Jahr und arbeiten das ganze Jahr. Und die, die wir begleitet haben, ob das im südafrikanischen Nationaltheater ist, das nach der Zeit 1990 von den Menschen und nicht mehr nur von den Weißen in Besitz genommen wurde, oder, wie Sie eben angesprochen haben, im Gezi-Park gesungen, getanzt, sich in den Zelten Literatur vorgelesen haben, das passiert und das wird jetzt besonders wahrgenommen. Aber man muss natürlich auch in dem Zusammenhang vorsichtig sein, Kunst und Künstler zu instrumentalisieren. Und auch darüber denken wir nach. Was ist die gesellschaftliche Rolle und wie sorgt die Gesellschaft auch dafür, dass eine solche Rolle möglich ist?
Ricke: In vielen Krisen haben sich ja Künstler früh zu Wort gemeldet, wenn ich zum Beispiel an den Arabischen Frühling denke. Aber es ist auch leiser geworden. Es sieht fast so aus, als ob die Mühen der Ebenen auch die Kunst verschleißen. Können Sie das bestätigen?
Schneider: Ja, sehen Sie, das ist zum Beispiel so eine Erkenntnis, die ich nicht teilen würde. Der Arabische Frühling, wie Sie sagen, und die Kollegen aus den Universitäten in Tunis und in Casablanca und in Kairo, die sprechen klar, deutlich von der Arabischen Revolution und sie gestalten sie mit. Das heißt, es gibt eine Arab Cultural Policy Group, die auch mit in Hildesheim dabei war, und die diskutiert, wie sieht die zukünftige Kulturlandschaft aus, wie soll sie aussehen, welche Instrumente braucht sie, was können wir gestaltend, konzeptbasiert dazu beitragen, dass möglichst viele Menschen teilhaben an Kunst und Kultur?
Ricke: Eine solche Konferenz hat natürlich ein gewisses akademisches Niveau, sie hat aber auch Kaffeepausen. Und oft treffen sich Menschen in Kaffeepausen und stoßen vielleicht etwas an, was sich entwickeln kann. Geht von Hildesheim ein Signal aus?
Schneider: Ja, auf jeden Fall. Das war natürlich interessant zu sehen, bei aller Unterschiedlichkeit auch, was die Bedingungen betrifft, nicht nur der Wissenschaft, sondern eben auch der Kultur, und fangen Sie mal an, Kulturpolitik weltweit zu definieren, dann kommt man in einer Woche gar nicht hin. Aber was uns verbindet, sind tatsächlich die Zugänge. Wie schaffen wir es, das Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe in der Welt zu verwirklichen? Und das ist sicherlich jetzt nicht die erste Priorität, da geht es natürlich um Essen und Trinken und um ein Dach über dem Kopf und soziale Bedingungen, gesundheitliche Bedingungen, aber Kultur ist das, was unser Leben gestalten kann, was es zu einem guten Leben machen kann. Und diese Gestaltungsmöglichkeiten gibt es, aber sie gibt es eben nicht für die Menschen überall und auch in Deutschland nicht. Und das ist natürlich interessant zu sehen, welche Konzepte gibt es an anderen Stellen, wo der Hunger nach Kunst größer ist als bei uns, wo wir so eine große vielfältige Infrastruktur der Kultur haben!
Ricke: In allen Konflikten sagen wir, langfristig liegt die Lösung in der Bildung, in der Entwicklung. Ist die Kultur auch ein Schlüssel, der in dieses Schlüsselloch passt?
Schneider: Ja, auf jeden Fall. Also, diese Bereiche zusammen zu denken, das ist, glaube ich, nicht nur in der Kulturpolitikforschung im Moment ganz wichtig. Wir tun das in Hildesheim, wir sind so was wie ein Kompetenzzentrum für kulturelle Bildung, weil wir eben diesen Bereich beforschen. Und viele Modelle, die wir jetzt von anderen Kollegen erfahren konnten, beschäftigen sich tatsächlich mit dem Zusammengehen der Kulturlandschaft und der Bildungslandschaft. Und es ist längst überfällig, dass wir bei uns die Kurrikula aufräumen, dass wir in der Schule mehr Kunst und Kultur, mehr Musik haben, mehr Besuche dieser Kulturlandschaft. Denn das ist doch das, was wir öffentlich fördern. Und warum das in der Schule nur meistens am Wandertag genutzt wird, das ist immer noch ein großes Fragezeichen, gerade nach Pisa, nachdem wir wissen, dass in den skandinavischen Ländern in der Mitte jeder Schule im Zentrum die Bibliothek und das Theater stehen.
Ricke: Wolfgang Schneider, Professor für Kulturpolitik an der Uni Hildesheim. Er kommt gerade vom großen Kulturkongress. Ganz herzlichen Dank, dass Sie ins Studio gekommen sind!
Schneider: Bitte schön!
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