Kultur im deutschen Niemandsland

Von Mirko Schwanitz |
Grüne Bäume, Nebelfetzen am Morgen, eine Straße, die an der Oder endet - das ist Zollbrücke. Der Ort mit seinen 19 Einwohnern liegt am Rand des Oderbuchs und leistet sich ein eigenes Theater. Geleitet wird es von dem Musiker Tobias Morgenstern.
"Ich bin Tobias Morgenstern, Jahrgang 1960, ich habe Musik studiert, genauer gesagt Komposition und Akkordeon in Weimar - also DDR-sozialisiert – und arbeite seit dem Abschluss des Studiums freischaffend, als Musiker, Komponist, Arrangeur, Musikproduzent. Und seit 1998 ist das Theater irgendwie zustande gekommen. Ja, seitdem bin ich sozusagen Intendant und spiele natürlich auch hier."

Tobias Morgenstern steht auf dem Deich, die Haare im Wind und lauscht den Fröschen. Wir sind an der Oder irgendwo im Nirgendwo zwischen Schwedt und Frankfurt. Manche würden sagen am "Arsch der Welt", meint Morgenstern. Ein Besessener ist er, im künstlerischen Sinn ein Verrückter, denn das Theater, von dem er spricht, steht hier, hinter uns, wie nannte er es selbst? - am Arsch der Welt. Und er? Wie ist er hierhergekommen?

"Ich habe in den 80er-Jahren nach Wohnraum, nach Freiraum gesucht, um ungestört arbeiten zu können. Der Ort selbst, Zollbrücke, sah eben zu DDR-Zeiten aus wie 1910. Die Straße gab es natürlich schon, aber sie war nur zu zwei Dritteln asphaltiert, und auf der einen Seite war noch ein breiter Reitstreifen. Als ich das erste Mal ankam, dachte ich, das ist ja unglaublich, hier ist ja wirklich total die Zeit stehen geblieben."

Wenn ihm damals jemand gesagt hätte, dass er neben seinem Haus eines Tages zusammen mit seinem Freund, dem Schauspieler Thomas Rühmann, ein Theater bauen und es "Theater am Rand" nennen würde, er hätte sich wahrscheinlich an die Stirn getippt. Obwohl, eigentlich hatte er schon immer ein Faible dafür, Leute an den ungewöhnlichsten Orten zusammenzubringen.

Im zum Theater gehörenden Künstlerhaus, einem Gebäude mit verspielter Architektur, rund und bunt, changierend irgendwo zwischen Gaudi und Hundertwasser, erinnert sich Morgenstern der Anfänge. An jene Zeit, in der sie zuerst vor Freunden spielten, im Wohnzimmer, wie die Luft zum Schneiden dick wurde und der Besucherstrom plötzlich nicht mehr abriss.

"...und dann der Entschluss für ein neues großes Theater auf der Wiese. Das ist 2005, 2006 passiert und seitdem spielen wir in unserem neuen Holztheater, das nach drei Seiten ganz schnell zu öffnen ist. Dadurch holt man die Landschaft richtig ins Theater rein. Und viele Stücke beginnen auch irgendwie draußen, auf der Wiese."

Es ist ein reduziertes Theater, das sie hier machen, ohne aufwändige Bühnenbilder oder Requisiten, einzig gestellt auf die Sprache und die Musik, wie etwa das Stück "Der von Neil Young Getöteten" nach einem Buch von Navid Kermani, das Freund Thomas Rühmann gerade probt.

Viele Besucher nehmen mehr als 100 Kilometer Anfahrtsweg auf sich - in Deutschlands einziges Theater, in dem man keinen Eintritt, sondern Austritt bezahlt, in dem jeder Gast selbst entscheidet, was ihm die Vorstellung wert war - egal ob nach dem "Grünen Akkordeon", einer Theaterbearbeitung des gleichnamigen Romans von Annie Proulx, oder der von Morgenstern und Rühmann gemeinsam erarbeiteten Aufführung vom "Vom Dunklen ins Helle", in der die Natur des Oderbruchs selbst die Hauptrolle spielt:

"Also nachts um halb drei kommen hier Autos angefahren und dann sitzt kurz nach drei das Theater voll Menschen. Es ist dunkel, es werden alle Lichter ausgemacht, der Vorhang geht auf und es passiert – nichts. Man sieht nichts und fängt an zu hören. Mehr und mehr hört man, da kommt die Dämmerung, wo die Vögel erwachen, dann kommen einzelne Elemente der Inszenierung hinzu."

Dass das Theater fest in der Region verankert ist, hat nicht nur damit zu tun, dass es Zimmeranbietern die Betten füllt. Dass es von Bauern und Handwerkern aus der Region regelmäßig besucht wird, liegt auch an der Art und Weise, wie Morgenstern und die anderen Theatermacher Anteil nehmen an den Problemen der Menschen im Oderbruch.

"Und wir haben Abende gemacht zu der Problematik, dass der Genmais hier im Oderbruch stark forciert wurde von den großen Firmen. Menschen, die hier Land besitzen, haben sich informiert, was sie tun können, um zu vermeiden, dass die Firmen auf dem gepachteten Land Genmais anbauen und haben dann den Pachtvertrag aufgelöst."

Ein "Theater am Rand" - aber nach Morgensterns Willen mitten drin in den politischen Debatten. Stellung soll es beziehen, aufrufen, sich nicht alles gefallen zu lassen und Solidarität einfordern.