Kultur

Gute Mauer, böse Mauer

Die Chinesische Mauer
Eines der Wahrzeichen des Landes - die Chinesische Mauer © dpa / picture alliance
Von Hans von Trotha · 07.11.2014
Berlin und China haben eine große Mauer gemein. Während die Berliner Mauer feindselig war, offenbaren die Chinesen eine gänzlich andere Herangehensweise an Mauern: Bei ihnen können sie sogar ästhetisch sein. Und sie erfüllen ihre ganz eigenen Funktionen.
Seit einigen Jahren kann man von Berlin aus direkt nach Peking fliegen. Als die Verbindung eingerichtet wurde, warb die chinesische Fluggesellschaft mit dem Slogan: "Berliner, wollt Ihr mal wieder eine Mauer sehen?" Die um Aufmerksamkeit buhlende Respektlosigkeit einmal beiseite gelassen, steckt darin ein Befund: Das Erste, was uns zu Berlin und das Erste, was uns zu China einfällt, ist jeweils eine Mauer. Und womöglich steckt mehr dahinter als das Bild von der Großen Mauer in den Bergen, wenn wir mit China neben dem obligatorischen Sack Reis, der dort umfallen könnte, die Mauer verbinden – im Singular: die Mauer als Idee, als Prinzip, als Struktur.
Im Zentrum von Peking liegt die Verbotene Stadt, Sitz der Kaiser. Als im 19. Jahrhundert Vertreter europäischer Mächte nach Peking kamen, mussten sie feststellen, dass es ihnen nie gelungen wäre, diese Mauern zu überwinden. Chinesische Mauern sind anders als europäische. Sie sind anders konstruiert, aber sie sind auch anders gedacht, eher ein horizontales Ereignis denn ein vertikales, ein Instrument der Formgebung und der Strukturierung. Mauern...
"... haben ja viele Zwecke. Nicht nur, etwas zu schützen, sondern auch den Blick zu verändern."
Sagt der Schriftsteller Rainer Kloubert, auf dessen Einladung ich China im Herbst 2014 besuchte. Kloubert lebt seit drei Jahrzehnten in Peking und steht kurz vor der Vollendung eines monumentalen Werks über die Stadt vor ihrer Zerstörung – eine Stadt der Mauern.
Langsam an die Dinge herangeführt werden
Zunächst haben Mauern natürlich Schutzfunktion. Die zweite Funktion aber, darauf legt Kloubert großen Wert, ist es, den Raum zu gestalten. Wenn man eine Mauer errichtet, bewegt sich der Blick entlang der Mauer und trifft zunächst nicht auf das, was die Mauer verbirgt. Es gibt ein chinesisches Sprichwort: "Die Tür aufmachen und schon den Berg vor Augen haben". Das galt den Chinesen immer als primitiv. Man muss vielmehr langsam an die Dinge herangeführt werden.
Der Gedanke einer strukturierten Annäherung wurzelt tief in der chinesischen Mythologie. Zum klassischen chinesischen Haus gehört ein ummauerter Hof. Den betritt man durch ein dem Hauseingang gegenüber liegendes Tor. Doch sieht man das Haus zunächst nicht, vielmehr läuft man auf eine Mauer zu.
"Du kennst doch die Konzeption von chinesischen Geistermauern? Das sind Mauern, die vor Hauseingängen errichtet werden. Geistermauern deswegen, weil nach chinesischer Vorstellung Geister nur geradeaus gehen können."
Mauern zum Schutz vor ungebetenen Geistern.
"Die Geistermauer hatte den Sinn, nicht nur die Geister fernzuhalten, sondern auch den Blick festzuhalten und zu bewirken, dass er nicht weiter auf andere Dinge fiel."
Die Verbotene Stadt besteht aus scheinbar unzähligen, wiederum von Mauern umgebenen Häusern mit ihren Höfen und Geistermauern, ein rot – rote Mauern waren kaiserliche Mauern – schimmerndes Mauerlabyrinth. Es ist Herz, Keim und Modell des alten Peking. Um die Verbotene Stadt entstanden die Residenzen der Prinzen, dann die der Beamten, der Bürger, der Bauern...
Die Mauern geleiten den Blick
In den Pekinger Altstadtstraßen bewegt man sich stets zwischen zwei fortlaufenden Mauern, in denen sich Tore zu kleinen Wohnhöfen öffnen - oder auch nicht. Die Mauer, nicht das einzelne Gebäude, erscheint hier als tragendes Gerüst eines Modells von Stadt mit dörflichen Strukturen.
Auch die berühmten chinesischen Gärten sind vielfach von Mauern durchzogen. Es sind schöne Mauern, sie geleiten den Blick, steigern die Spannung und bestimmen den Weg. Und sie sind beeindruckende Beispiele einer ästhetischen Osmose - kunstvoll durchbrochen von kreisrunden Mondtoren und Aussparungen, die die dahinter liegenden Szenen rahmen wie Landschaftsgemälde. Das Besondere an diesen Mauern: Sie haben außer der ästhetischen keinerlei Funktion. Sie sind da, weil sie da sind, weil sie schön sind, weil der Raum sie braucht.
Auch das chinesische Zeichen für Garten hat sie, die Mauer. Es ist ein Quadrat, das im Inneren der Grenzen weiter konkretisiert wird.
Die Mauer, scheint's, ist allgegenwärtig in der chinesischen Tradition. Auch in den Köpfen wird sie sein. Wie auch nicht? Sie wird das Denken strukturieren. Was noch lange nicht heißen muss, dass dieses Denken bornierter wäre als das Unsere. Im Gegenteil. Vielleicht fehlt uns ja etwas: nämlich das unbefangene Verhältnis zur Mauer, zur Mauer als Prinzip. Das hat seinen guten Grund – schließlich hatten wir die Mauer, die eine, die das Prinzip aufs Äußerste pervertiert hat, zur Chiffre für Enge, Feindseligkeit und Zwang, zum Instrument der Tötung von Menschen, die selbst bestimmen wollten, wo und wie sie leben.
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